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Titelgeschichte

In der Unterwelt der grossen Kriege

Der Zweite Weltkrieg begann vor 80 Jahren. Damals wurden in der Schweiz fieberhaft Bunker gebaut. Auf Spurensuche im Untergrund des Jolimonts, dessen viele Verteidigungsanlagen von den beiden Weltkriegen erzählen.

18-jährige Graffiti auf dem Bunker: Heute ist er im Gebüsch versteckt, neuere Sprayereien gibt es keine. Bild: Tanja Lander

Text: Lotti Teuscher
Bilder: Tanja Lander

Die Treppe führt drei Meter tief hinunter zu einer dicken Eisentür. René Steiner zückt den reichbestückten Schlüsselbund und dreht einen Schlüssel im 80-jährigen Schloss. Dann stemmt er sich mit viel Kraft gegen die schwere Tür. Geräuschlos schwingt sie auf. Dahinter führt eine steile Treppe Meter um Meter ins Dunkel hinunter – in die Vergangenheit. Nach einem Absatz führt eine zweite, dahinter eine dritte Treppe hinab in ein Tunnelsystem – das noch weiter in der Vergangenheit liegt.

Es riecht mineralisch. Und es ist still, sehr still, 15 Meter unter dem Wald auf dem Jolimont. Kein Rauschen der Blätter mehr, wenn der Wind hindurchstreift, kein Vogelgezwitscher. Wir sind soeben von der Gegenwart in einen Bunker aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hinabgestiegen. Dahinter haben wir ein Tunnelsystem aus dem Ersten Weltkrieg betreten, das auch während des Zweiten Weltkriegs genutzt wurde.

«Nie mehr Krieg»

Der Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg wurde ab September 1939 gebaut. Zu einer Zeit, als der Krieg bereits ausgebrochen war; überraschend spät somit. René Steiner, Verantwortlicher für die Führungen des Vereins Historische Militäranlagen Freiburg/Bern (VH+MA), erklärt dies damit, dass die Schweizer bis zuletzt daran geglaubt hatten, was nach dem Ersten Weltkrieg mit 14 Millionen Toten versprochen wurde: «Es wird nie mehr Krieg geben.» Dann folgte der Zweite Weltkrieg – mit 50 Millionen Toten.

Die Decke des Bunkers ist aus 1,80 Meter dickem Eisenbeton. Sie ist so stark, dass sie einem Fliegerangriff standgehalten hätte – der niemals kam. Aber das wussten die Menschen damals nicht.

Unterhalb des Bunkers aus dem Zweiten Weltkrieg befinden sich Gänge mit Kammern, mehrere 100 Meter lang, alle aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Schritt für Schritt erforschen wir diese Vergangenheit – ein ausgeklügeltes Verteidigungssystem im Jolimont versteckt: Es ist ein Mythos, dass sich Schweizer Soldaten dem Feind während eines Überfalls an der Landesgrenze entgegengestellt hätten. Vielmehr hätten die Kämpfe im Landesinneren stattgefunden. Die Fortifikation Murten sollte die Bundeshauptstadt Bern vor Angriffen der Franzosen schützen.

Selbst der Beton ging aus

Während des Kriegsausbruchs erstellten die Truppen überall in den Schweizer Grenzgebieten Feldbefestigungen. Die eigentlichen Sperren befanden sich indes auf der Haupteinfallsachse West: Die Fortifikation Murten wurde als Sperre auf der Achse Bielersee-Murtensee-Saane gebaut, zu der auch die Festung auf dem Jolimont gehört. Es war eine Zeit, als Schweizer und Schweizerinnen unter Furcht, Not und Hunger litten. Als die Männer von ihren Familien getrennt wurden und einrücken mussten. Als die Nahrungsmittel knapp wurden und Armut nicht einfach Mangel an gewissen Gütern war, sondern die Existenz bedrohte. Als es an Beton fehlte, weil fieberhaft an allen strategisch wichtigen Orten Festungen gebaut wurden. Als Frauen die Bauernhöfe ohne Männer bewirtschaften mussten.

Grossbrand in Erlach

Es war die Zeit, als 1915 in Erlach die Altstadt am Jolimont brannte, und nur wenige Männer im Stedtli lebten, die den Brand löschen konnten: Viele waren vom Militär eingezogen worden. Mehrere Häuser der Altstadt brannten vollständig ab.

Es war ein Drama, das nun vergessen geht und immer weniger Interesse weckt. Denn der Unterschied zur Gegenwart ist so gross geworden, dass die beiden Weltkriege – für alle, die nie einen Krieg erlebt haben – die Grenzen der Vorstellungskraft sprengen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist 105 Jahre her, der Zweite Weltkrieg hat vor 80 Jahren begonnen.

René Steiner gehört mit seinen 60 Jahren denn auch zu den jüngsten Mitgliedern des VH+MA. Gegen das Vergessen anzukämpfen, ist eines der Ziele des Vereins. «Denn die Verteidigungsanlagen sind Teil unserer Kultur», sagt René Steiner.

Verdrängte Emotionen

Der Sand unter unseren Füssen dämpft das Geräusch der Schritte. Die Stollen wirken wie die Bogengänge einer Kathe-
drale in Miniformat: Die Decke ein halbrund, die Wände aus ockerfarbenem Sandstein, exakt behauen mit Hammer und Meissel, deren Spuren ein tausendfaches, gleichmässiges Ornament hinterlassen haben.

Wie viele Millionen Mal haben Hammer und Meissel zugeschlagen, um diese Stollen zu bauen? Wie war den Soldaten zumute, als sie sich durch den Sandstein des Jolimont gegraben haben; mit Blasen an den Händen tonnenweise Sandstein ans Tageslicht karrten.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war ein krasser Bruch mit allem, was damals am Entstehen war. Die Zeit vor dem Krieg war in der Schweiz eine Epoche des Fortschritts. Die ersten Autos ratterten über staubige Strassen, in den ersten Telefonleitungen knisterte und knackte es, Trams fuhren durch die Strassen der wachsenden Städte. Dann brachte der Krieg Rückschritt und Ungewissheit in die prosperierende Schweiz mit knapp vier Millionen Einwohnern – ein winziges Land, das gerade mal ein Prozent der europäischen Bevölkerung stellte.

Bruch durch die Schweiz

Nach dem Kriegsausbruch veränderte sich das Leben der Bewohner der Schweiz. Die Eidgenossenschaft mobilisierte ihre Soldaten am 2. August 1914, am Tag danach wurde die Schweizer Neutralität ausgerufen. Alle Männer zwischen 20 und 48 Jahren wurden eingezogen. Durch das Land ging eine Welle des Patriotismus – und ein tiefer Bruch: Während die Westschweiz mit Frankreich sympathisierte, unterstützte die Deutschschweiz den deutschen Kaiser.

Die Namen der Soldaten, die damals auf dem Jolimont die Stellung hielten, sind längst vergessen. Und mit ihren Namen auch was sie fühlten und dachten, wenn sie 15 bis 20 Meter tief im Sandstein eingeschlossen waren. Da stellt sich die Frage: Weshalb wurde akribisch festgehalten, wie die Verteidigung funktionierte? Aber kaum etwas über die Männer, die in den Bunkern wachten? Die einzige Erklärung ist, dass vieles verdrängt wurde – weil es der Alltag so verlangte.

Die grosse Hungersnot

Denn die Bevölkerung hatte damals grosse Sorgen. Der Erste Weltkrieg und der verschärfte Wirtschaftskrieg stellten die Landesversorgung der Schweiz vor massive Probleme: Die Schweiz war bereits damals zu einem hohen Grad vom internationalen Handel abhängig – der nun dramatisch einbrach.

1916 zerstörten zusätzlich Schnee, Regen und Kälte einen grossen Teil der Ernte: Nach einem Temperatursturz am
4. Juni fiel bis auf 500 Meter viel Schnee. Die feste Schneedecke walzte Heuwiesen und Getreidefelder platt; im Juli setzte Dauerregen ein. Im Jahr 1917 folgte ein eiskalter Frühling; die Vegetationsphase setzte ungewöhnlich spät ein.

Nun fehlte es an allem: Butter, Käse, Milch, Fett, Mais, Zucker, Hafer, Gerste, Kartoffeln, Fleisch. Ab dem 1. Oktober 1917 mussten auch Brot und Mehl rationiert werden. Die Löhne brachen ein, gleichzeitig stiegen die Preise für Lebensmittel immer steiler in die Höhe. Kurz: Die Schweiz kämpfte mit einer schweren Hungersnot.

Persönliche Spuren

Wir dringen immer weiter vor in die Anlage mit Gängen und Kammern; verlieren unter der Erde das Gefühl für Zeit und Raum. Im Licht der Taschenlampen tauchen Kammern auf, wo die Soldaten Waffen, Munition und Essen aufbewahrten. Kammern, in denen sie wachten, schliefen, kochten oder sich die Zeit vertrieben.

Mehrere Schächte mit 15 bis 20 Meter hohen Militärleitern aus Eisen führen an die Oberfläche; dort standen die Wachen zur Verteidigung bereit. Durch die schmalen Schiessscharten schweift der Blick heute in einen grünen Wald; durch die Blätter der Bäume zeichnet die Sonne helle Flecken auf den Boden. Ein Bild, das nicht friedlicher wirken könnte. Damals, während der beiden Weltkriege, wies der Wald Schneisen auf, damit die Soldaten Sicht auf einen anrückenden Feind gehabt hätten.

Zeugen der Gedanken

An den Sandsteinmauern haben Soldaten persönliche Spuren hinterlassen – Spuren, die ein klein wenig von ihren Gedanken verraten. Im weichen Sandstein ist das Porträt einer Frau eingeritzt, daneben die Initialen A. M. Eine Erinnerung, die die Jahrzehnte überdauert hat. In den Sandstein gekratzt ist auch ein Kreuz, dessen vertikaler Balken länger ist als der horizontale – für die Soldaten ein Symbol des Glaubens an einen übergeordneten Beschützer?

Eine Kritzelei auf einer Wand, während des Zweiten Weltkriegs gekratzt, zeigt, was deren Urheber dachte: SS = daneben ein Totenkopf. Die Frage ist indes, ob all seine Kameraden mit dieser Aussage einverstanden waren: In der Deutschschweiz gab es eine Minderheit, welche die Ideen der Nationalsozialisten unterstützte.

Zeugen des Vertrauens

Der Bunker ganz oben auf dem Jolimont ist gut erhalten. In einem Raum hat sich zwar eine ganze Platte Sandstein von der Decke gelöst; in einem anderen Gang dringen filigrane Baumwurzeln durch den Sand. Ein zweites Stollensystem auf dem Jolimont wird René Steiner diesen Winter erforschen; es ist teilweise zusammengebrochen.

Steiner führt uns einen Kilometer weiter zu einem zweiten Bunker, dessen Schiessscharten in Richtung Neuenburgersee zeigen. Diesen Sommer flossen während eines Gewitters Unmengen Wasser über einen Trampelpfad in den Bunker und hinterliess eine Schicht Lehm. Stundenlang hat René Steiner danach geputzt. Auch heute findet er Abfall aus der Gegenwart: Geocacher haben auf der Suche eines Caches beim Bunker leere Aludosen durch eine Schiessscharte geworfen. Steiner nimmt es gelassen; dass Zeugen der Weltkriege als Abfallkübel genutzt werden, daran hat er sich gewöhnt.

105 Jahre überdauert

Dieser Bunker ist etwa 30 Meter lang. Dort, wo sich der weisse Verputz gelöst hat, tritt Beton hervor, durchsetzt von Kies, mit dem er gestreckt wurde: Beton von ausgesprochen schlechter Qualität, der dennoch gut 100 Jahre überdauert hat.

Neben den Schiessscharten steht geschrieben, wie weit das anvisierte Ziel liegt: Das Fanelgut zum Beispiel steht exakt 1125 Meter entfernt auf der Ebene zwischen Bieler- und Neuenburgersee. Betlehem, ein Quartier von Gals, ist 725 Meter entfernt. Das Besondere in diesem Bunker sind indes die vielen Porträts, die die Soldaten an die Wände gemalt hatten – Bilder von Vorgesetzten, denen sie vertraut hatten. Was keine Selbstverständlichkeit war, wie René Steiner sagt. In der Rangordnung weit oben standen Männer, die aus «besseren» Familien kamen. Egal, ob sie für eine Führungsposition geeignet waren. Während die einen die einfachen Soldaten schikanierten, waren andere schlicht unfähig, Verantwortung zu übernehmen.

Anders die Vorgesetzten, deren ernste Gesichter auf die Mauern des 100-jährigen Bunkers gemalt sind. Die Porträts an der Wand zeugen einerseits davon, dass die Soldaten Langeweile hatten. Andererseits, so René Steiner, hatten die Soldaten ihre Vorgesetzten gezeichnet, weil sie diesen vertrauten und sie mochten.

Oberst mit Schalk

Der prominenteste Porträtierte ist Oberst Heinrich Beat Bolli, Kommandant der Fortifikation Murten. Ein Mann mit ernstem Gesichtsausdruck, einem eindrücklichen Schnauz – und Humor: Eine Anekdote sagt, dass Bolli sich bei einer Inspektion durch General Ulrich Wille als «Adrian von Bubenberg der Zweite» gemeldet haben soll. Im zivilen Leben war er Rechtsanwalt und FDP-Ständerat im Kanton Schaffhausen.

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Festungen auf Hügeln wie dem Jolimont oder dem Mont Vully gebaut, also auf den Anhöhen. Anders während des Zweiten Weltkriegs: Damals wurden die Verteidigungslinien an Engstellen erstellt. Eine dieser engen Stellen befindet sich zwischen Jolimont und dem Bielerseeufer.

Schafe anstelle von Soldaten

Um zum Vorbunker beim Schloss Erlach zu gelangen, schlüpfen wir unter einem Unterstand aus Wellblech für Schafe hindurch – mit eingezogenen Köpfen. Auch diese Bunkeranlagen gehören dem VH+MA, der die Anlagen auf dem Jolimont für ein paar 100 Franken gekauft hat, als sie nach dem Kalten Krieg obsolet wurden. Erst wurden die Anlagen vom Bund den Kantonen, danach den Gemeinden und schliesslich diversen Vereinen angeboten – ein Prozess der viele Jahre gedauert hat: Der VH+MA hat die Anlagen erst im Jahr 2014 übernommen.

«Wir wollen Zeitzeugen bewahren, deren Geschichte aufarbeiten und Wissen weitergeben», sagt René Steiner, der viele unentgeltliche Arbeitsstunden in die Bunker investiert.

Auch Internierte halfen

Die Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg waren neben ihrem eigentlichen Zweck, der Verteidigung, auch Kommandoanlagen, ausgerüstet mit Funk; unterirdische Depots für Waffen, Kleider, Nahrung und Ersatzteile. Viele dieser Geräte können dank dem Engagement des VH+MA auch heute noch besichtigt werden.

Während der allgemeinen Mobilmachung waren jeweils 450’000 Soldaten im Einsatz; Gatten, Väter, Söhne im Alter zwischen 20 und 50 Jahren – sie bildeten die Milizarmee. Die Männer rückten alternierend ein, damit die Arbeit in Fabriken und auf Bauernhöfen unter Mithilfe der Frauen weiterhin geleistet werden konnte. Während der Weihnachtszeit durften Familienväter nach Hause und leisteten lediglich Pikettdienst.

Mitgeholfen, landwirtschaftliche Betriebe am Laufen zu halten, haben auch die 140 000 Internierten, die sich während sechs Jahren in der Schweiz aufhielten: Franzosen und Polen, die um Aufnahme gebeten hatten. Männer, die viel Aufmerksamkeit erhielten – allen voran von den jungen Schweizerinnen. Denn die Polen hatten schöne Uniformen. Grosse Aufmerksamkeit erregten auch Spahi aus den französischen Kolonien; glutäugige Krieger, die auf schönen Pferden ritten.

Die Sperre von Erlach

Den Eingang des Bunkers versperrt eine 80-jährige Stahltür. Dahinter empfängt uns feuchte Luft, die Schritte hallen dumpf hinter den dicken Mauern aus Stahlbeton. Die Atmosphäre ist beklemmend – vorausgesetzt, man lässt seine Fantasie schweifen und denkt sich zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs: Ein Kampfstand mit Maschinengewehr, Klappen aus Stahl, Panoramakarten, die den Schützen zeigten, wohin sie zielten. Kontakt mit der Aussenwelt konnte dank eines Telefonanschlusses hergestellt werden.

Wie laut wurde es, wenn ein Schuss zu Übungszwecken abgegeben wurde und der Lärm im engen Bunker hallte? Die Soldaten schützen ihre Gehörgänge oft mit feuchtem Lehm, etwas Besseres gab es damals nicht. Eine ausgeklügelte Entlüftungsanlage zog die giftigen Pulverdämpfe ab, damit die Soldaten nicht am Kohlenmonoxid erstickten.

Die Verbindung zwischen dem Vor- und dem Hauptbunker führt durch eine grüne Höhle aus dichtem Gebüsch und Bäume; das René Steiner und seine Gehilfen immer wieder zurückstutzen.

Die Betonwände des Bunkers sind mit 18 Jahren alten, verblassenden Graffiti versprüht; die Jugendlichen scheinen den quadratischen Würfel inzwischen vergessen zu haben. Der Bau ähnelt dem ersten Bunker, ist allerdings einiges grösser. Im Bunker riecht es nach Fett und Maschinenöl; die Luft ist muffig.

Das Wichtigste: Wasser

Neben den Waffen der Scharfschützen, die auf schmale Luken in Richtung See zeigen, fällt eine Wasserleitung ins Auge: Wasser gehörten zum Wichtigsten in den Verteidigungsanlagen. Denn ohne Essen konnten die Soldaten länger ausharren, als wenn das Trinkwasser fehlte. René Steiner erzählt, dass etliche Scharfschützen in Verdun nichts anderes getan hatten, als auf die Wasserträger zu schiessen, um die Soldaten der Gegenseite zu schwächen.

Dieser Bunker hat einen Keller, darin Pritschen für die vier Kanoniere, vier Mitrailleure und die vier Werksoldaten, die dort nach Sechs-Stunden-Schichten alternierend geschlafen hatten. An den Wänden stehen Sitzbänke, auf einem Vorsprung ein Aschenbecher. René Steiner geht davon aus, dass die Soldaten auch Hochprozentiges in den Bunker geschmuggelt hatten. Selbst eine tragbare Toilette gab es: Ein ausklappbares Gestell, in das ein Papiersack gehängt wurde.

Existenzbedrohende Armut

Persönliche Spuren haben die Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg keine hinterlassen. Dennoch liegt es auf der Hand, dass sich manche von ihnen mit Sorgen quälten, wenn sie an ihre Angehörigen dachten. Dies belegen Erzählungen, die dem BT zugetragen wurden: Einer Frau glitt die Milchschüssel aus der Hand; Milch die für ihre kleinen Zwillinge bestimmt war. Dieser Verlust war angesichts der Armut so dramatisch, dass selbst die dritte Generation der Familie daran erinnert.

Ein Vater, der angesichts seines Gesundheitszustands ausgemustert worden war, marschierte jeden Tag nach Büren und zurück nach Biel, um auf einem Bauernhof zu arbeiten; für ein Velo reichte das Geld nicht. Als Lohn durfte er zum Beispiel Fallobst aufsammeln, da seine Familie trotz Essensmarken hungerte.

Überliefert ist auch die Geschichte eines Mädchens, das im Winter die Füsse von einer Brücke über der Schüss baumeln liess. Ein Schuh löste sich, die Schüss trug ihn davon. Während Wochen konnte das Mädchen die Schule nicht mehr besuchen, weil die Eltern kein anderes Paar Schuhe auftreiben konnten.

Vergessene KZ-Opfer

Eines der dunkelsten Kapitel während des Zweiten Weltkriegs ist fast völlig vergessen: In den Konzentrationslagern der Nazis litten zwischen 1933 und 1945 etwa 1000 Schweizer Bürger und Bürgerinnen, mindestens 200 verschleppte Menschen starben dort. Keine gewalttätige Auseinandersetzung hat in den letzten 200 Jahren mehr Schweizer Todesopfer gefordert.

Dennoch ist das blutigste Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte bis heute kaum erforscht. Keine Namensliste erinnert an die misshandelten Resistance-Sympathisanten, Juden, Homosexuellen, Antifaschisten und Pechvögel. Selbst Auslandschweizer, die bloss Radio Beromünster hörten, wurden grausam verfolgt. Zu den Opfern der Nazis gehörte auch die jüdische Schweizer Familie Rothschild, die 1942 in Frankreich lebte. Als die Familie verhaftet wurde, unternahm das Schweizer Konsulat in Paris tagelang nichts. Mit einer furchtbaren Konsequenz: Die Mutter und zwei Kinder starben in Auschwitz.

Bis heute fehlen ein Gedenkort und eine umfassende Forschungsarbeit über die Schweizer Nazi-Opfer. 2018 hat die Auslandschweizer-Organisation gefordert, dass die offizielle Schweiz die Opfer mit einer Gedenkstätte oder zumindest einer Gedenktafel würdigt und die Schicksale historisch aufarbeitet.

Die grosse Erleichterung

Am 2. September 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Japans. Das Mädchen, das seinen Schuh in der Schüss verloren hatte, war an diesem Tag auf einer Schulreise auf dem Chasseral. Die Klasse war am Picknicken, als das Mädchen plötzlich von überall her Glocken läuten hörte. Die Lehrerin erklärte den Kindern: «Der Krieg ist vorbei.» Das Mädchen fühlte eine ungeheure Erleichterung.

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Fortifikation Murten

Der Raum zwischen dem Jura und dem Sensegraben mit dem dazwischen liegenden Seeland war während 2000 Jahren ein militärisches Schlüsselgebiet. Dies zeigt bereits die Geschichte aus der Römerzeit über die Burgunderkriege, den Franzoseneinfall 1798, bis in die neuste Zeit. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie während des Kalten Krieges errichtete die Schweizer Armee hier ihre Abwehrstellungen gegen einen Angriff aus Westen und Südwesten.

Während des Ersten Weltkriegs wurden in der Schweiz zwei grosse Fortifikationen erstellt: Murten und Hauenstein, zu denen auch die Befestigungen am Jolimont gehören. Während der Hauenstein gegen einen möglichen Durchmarsch Deutschlands durch die Schweiz gerichtet war, hatte die Fortifikation Murten den Auftrag, französischen Truppen den Weg zu verlegen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Schlüsselraum Murten als vorgeschobene Stellung des Reduits mit zusätzlichen Verstärkungen aufgerüstet. Die Murten-Stellung bildete einen Eckpfeiler. Am Mont Vully wurden neue, gegen Panzerkampfwagen wirksame Befestigungen gebaut. Am Jolimont wurden die heute teilweise noch bestehenden Bauten erstellt. Objekte aus dem Ersten Weltkrieg wurden hier modernisiert und wieder genutzt.

Während des Kalten Kriegs behielt der Raum Murten seine strategische Bedeutung. Im Rahmen der zweiten Juragewässerkorrektion wurde die Aufstauung der Seen im Kriegsfall geplant und teilweise realisiert. Dies hätte bei rechtzeitiger Auslösung eine massive Geländeverstärkung der Zihl- und Broyelinie durch Überflutung und Versumpfung bewirkt. Mit der Armee 95 wurden die Werke ausgemustert.

Dass die Fortifikation Murten während zwei Weltkriegen und des Kalten Kriegs eine so grosse Bedeutung hatte, ist kein Zufall: Hier bündeln sich seit jeher die Verkehrswege auf engstem Raum. Auch heute führen drei Autobahnen, mehrere Bahnlinien, Strom- und Gasleitungen innerhalb von 30 Kilometer ins Mittelland. LT

Quellen: Verein Schweizer Armeemuseum/ Jürg Keller/Festung Oberland

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