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Einsamkeit

«Einsamkeit ist keine Schande»

Sie macht krank und erhöht das Sterberisiko: Zeit, dass auch der Staat etwas gegen Einsamkeit unternimmt. Zudem soll sie aus der Tabu-Ecke verschwinden, fordert die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello.

Pasqualina Perrig-Chiello: Ihr schwebt eine nationale und vom Bund finanzierte Koalition gegen Einsamkeit vor. pomona.media/Alain Amherd
Interview: Brigitte Jeckelmann
Seit letztem April gibt es in der Schweiz ein Gratistelefon für ältere Menschen, die sich einsam fühlen. Zwei Bernerinnen gründeten nach dem britischen und deutschen Vorbild «Silver Line Helpline» den Verein Silbernetz Schweiz und lancierten das Projekt malreden.ch (siehe BT von gestern). In England startete die Helpline an Weihnachten 2013 – und musste wegen der explodierenden Nachfrage schnell expandieren. Seither rufen gemäss Website der Organisation wöchentlich 10 500 Seniorinnen und Senioren an, und über 4000 freiwillige Helfer wurden ausgebildet. Die Kommentare sind berührend und erschreckend zugleich: Manche Anrufer geben an, sie wollten nur jemandem eine gute Nacht wünschen. Für viele wiederum sind die Freiwilligen am Telefon die einzigen Menschen, mit denen sie überhaupt sprechen können. In Deutschland zog die Berliner Mathematikerin 2017 mit einem Gratistelefon nach. Dies, nachdem sie der einsame Tod eines Nachbarn aufgerüttelt hatte. Wie in England und Deutschland ist Einsamkeit auch hierzulande weit verbreitet. Die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello ist Präsidentin des Vereins Silbernetz Schweiz. Sie ist überzeugt: Man muss in der Öffentlichkeit über Einsamkeit reden. Damit Betroffene erkennen, dass sie bei Weitem nicht die einzigen sind und sich trauen, aus ihrer Einsamkeit herauszutreten. 
 
Pasqualina Perrig-Chiello, warum braucht es ein Gratistelefon für einsame Seniorinnen und Senioren? 
Pasqualina Perrig-Chiello: Einsamkeit macht auf Dauer krank – körperlich und psychisch. Studien belegen, dass sie gleich krankmachend ist wie 15 Zigaretten pro Tag. Einsamkeit schwächt das Immunsystem, man ist anfälliger, und auch das Sterberisiko ist höher. Es ist ein ernsthaftes Problem, das nicht nur Einzelpersonen betrifft, sondern die ganze Gesellschaft. Denn Krankheiten kosten letztlich Geld. Aus diesem Grund gibt es in England seit drei Jahren ein Ministerium gegen Einsamkeit. 
 
Wer sind die Einsamen in der Schweiz?
Gemäss Bundesamt für Statistik fühlt sich ein gutes Drittel der Bevölkerung zeitweise einsam. Vor allem Menschen im höheren Alter, aber auch jüngere Personen sind betroffen. Eine weitere Risikogruppe sind pflegende Angehörige. Sie sind besonders gefährdet, in eine soziale Isolation zu rutschen. In der Regel reden die Betroffenen nicht über ihre Einsamkeit, denn diese ist in unserer Gesellschaft ein Tabu: Es wird als Makel empfunden, keine Freunde oder Vertrauenspersonen zu haben. Dabei ist Einsamkeit eine von vielen gelebte Realität, die in den letzten Jahren zugenommen hat und weiter zunehmen wird. Grund dafür ist die gesellschaftliche Entwicklung: mehr Alleinlebende, grössere berufliche Mobilität und immer mehr hochaltrige Menschen. Weil Betroffene Einsamkeit nicht selber thematisieren, darunter leiden und krank werden, sind Angebote sehr wichtig, die auf die Menschen zugehen und einen niederschwelligen Zugang erleichtern. 
 
Ein kostenloses Telefongespräch gibt es ja schon bei der dargebotenen Hand, der Telefonnummer 143. Worin besteht der Unterschied zum Telefonangebot malreden.ch?
Die dargebotene Hand ist vor allem für Krisensituationen gedacht. Bei malreden.ch dagegen geht es darum, sich einfach mitteilen zu können. Wir sind uns bewusst, dass trotz der Niederschwelligkeit viele dieses Angebot nicht nutzen werden. Aber wenn Einsamkeit in der Öffentlichkeit zum Thema wird, zum Beispiel in den Medien, kann ich als einsame Person erkennen, dass zahlreiche andere Menschen auch betroffen sind und es Möglichkeiten gibt, etwas dagegen zu unternehmen.
 
Nicht jeder mag aber vielleicht zum Telefon greifen, um mit unbekannten Personen zu reden.
Ja, es ist für viele schwierig. Deshalb sind die bestehenden Angebote derart breit gefächert. Da gibt es zum Beispiel vom Migros Kulturprozent die Tavolata, also zusammen kochen und essen. Jedes Angebot, das zur Linderung beitragen kann, ist wichtig. Das zeigt sich auch bei malreden.ch – die Leute rufen an. Sobald es sich herumspricht, dass jemand da ist, der zuhört, ist das ermutigend. Kommt dazu, dass Betroffene sich oft stigmatisiert fühlen. Sie glauben oft, dass alle anderen Menschen Freunde haben und happy sind, ausser man selbst. Viele fragen sich daher, was sie falsch machen. Wenn ich als Betroffene aber von solchen Angeboten erfahre, dann weiss ich, dass ich bei Weitem nicht alleine bin mit diesem Problem. So wage ich eher, mich als einsame Person zu outen. Dabei ist Einsamkeit doch keine Schande.
 
Warum ist Einsamkeit eigentlich ein Tabuthema?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der man dynamisch, fit und leistungsfähig zu sein hat. Wenn man erfolgreich ist und viele Freunde hat, ist man wer. Man schaue sich nur in den Sozialen Medien mit all den Influencern, Followerinnen und Friends um. Wer das alles nicht hat, kann sich leicht als Aussenseiterin fühlen, weil man nicht zu diesem Mainstream gehört, den unsere Gesellschaft hochhält. Entsprechend leidet das Selbstwertgefühl.
 
Was einen noch tiefer runterzieht.
Ja. Hinzu kommt, dass die Lebensweise unserer Gesellschaft solche Tendenzen beschleunigt. Biografische Übergänge wie Mutterschaft, Tod des Ehepartners oder eine Scheidung werden gesellschaftlich nicht mitgetragen. Das sind Privatangelegenheiten. Und wenn ich mit meinen Problemen alleingelassen werde und kein soziales und gesellschaftliches Netz mich trägt – und vergessen wir nicht, die Familien werden immer kleiner und sind an verschiedenen Orten aufgeteilt – verstärkt das die Einsamkeit. 
 
Was könnte denn die Gesellschaft dazu beitragen, dass Menschen in solchen Situationen weniger alleingelassen werden?
Da gibt es verschiedene Ansätze. Auf gesellschaftlicher Ebene sollte man die Thematik vermehrt ansprechen. Darüber reden, ist das eine. Die Zivilgesellschaft hat das Problem erkannt, das zeigen Angebote wie malreden.ch sowie verschiedene Stiftungen und auch die Kirchen. Es sollte aber in Gemeinden und Quartieren noch viel mehr Möglichkeiten geben, sich zu begegnen. In Finnland zum Beispiel gibt es sogenannte Freundeskreise. Man trifft sich zum Plaudern. Oder es finden Lesezirkel statt. Man liest ein Buch und bespricht es gemeinsam. Man kann auch zusammen kochen und essen oder tanzen. Das Ganze funktioniert auch generationenübergreifend, also Alt und Jung gemischt. Und so gäbe es noch zahlreiche weitere Beispiele. Aber das gibt es nicht alles gratis.
 
Sollte der Staat einspringen?
Definitiv. In England hat man begriffen, dass Einsamkeit hohe Kosten verursacht und es auch vom Staat Gelder braucht, um Massnahmen zu finanzieren. In der Schweiz wurde das zunächst belächelt, führte jedoch dazu, dass die Thematik vermehrt öffentlich diskutiert und wissenschaftlich untersucht wurde. Dabei wurde schnell klar, dass auch die Schweiz ein Problem hat. Einsamkeit ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit und darf als solches nicht allein der Verantwortung der Zivilgesellschaft überlassen werden. Der Diskurs ist in Gang gekommen, nun sollten Taten folgen. 
 
Sie haben vorhin von verschiedenen Risikogruppen gesprochen. Wer gehört genau dazu?
Junge sowie hochaltrige Menschen, die zumeist allein leben, vor allem Frauen; zudem Menschen nach einem kritischen Lebensereignis. Betroffen sind aber auch Migrantinnen und Migranten. Wir wissen, dass sich viele von ihnen extrem alleine fühlen. 
 
Wie könnte man der Einsamkeit von Migrantinnen und Migranten entgegenwirken? 
Menschen mit Migrationshintergrund werden häufig bei der Gesundheitskommunikation wegen sprachlicher und kultureller Barrieren nicht erreicht. Das betrifft vor allem Migrantinnen der ersten Generation. Häufig fehlt den Verantwortlichen Zeit und Geld und nicht selten auch das Wissen um kulturelle Eigenheiten der Leute. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise der Aufbau eines Telefon- oder Besuchsdienstes mit einem Pool von fremdsprachigen Freiwilligen. Zu erwähnen ist aber auch, dass es neben guten sozialen Rahmenbedingungen auch eine hohe Selbstverantwortung braucht, um gegen Einsamkeit vorzugehen.
 
Was meinen Sie damit?
Einsamkeit hängt stark von der Persönlichkeit ab. Offene Personen suchen das Gespräch und gehen auf andere zu. Für Menschen, die eher verschlossen sind, ist das eine hohe Hürde. Sie sollten ermutigt werden, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen: Nicht warten, bis andere den ersten Schritt machen, sondern selber aktiv werden. Man darf keine Angst vor allfälligen Misserfolgen haben, sondern sollte sich trauen. Wer will, findet immer Wege. Kurz: Wer ungewollt einsam ist, muss auch selber etwas dagegen tun.
 
Sie sagen, der Diskurs ist erst vor ein paar Jahren in Gang gekommen, als England das Einsamkeitsministerium geschaffen hat. Inwiefern hat die Pandemie das Problem noch verschärft?
Corona hat den Diskurs stark beschleunigt. Aufgrund des Lockdowns hat man gesehen, dass jene, die schon vorher einsam waren, extrem darunter gelitten haben. Menschen sind – nicht nur in den Altersheimen – an Einsamkeit gestorben. Viele, die ihre Nächsten nicht mehr sehen und spüren konnten, verloren den Lebenswillen. Auch jene, die vorher noch draussen unterwegs waren, beim Einkaufen oder Spazieren, und das dann nicht mehr konnten, zur Inaktivität verknurrt wurden, sind dann krank geworden. Der Lockdown hat dramatisch gezeigt, was Einsamkeit bewirken kann. 
Waren die drastischen Massnahmen wie Besuchsverbote in den Heimen im Nachhinein aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
Nachher ist man immer klüger. Man hat ja schon beim zweiten Lockdown einiges mehr zugelassen. Was sich gezeigt hat: Die Digitalisierung ist ein wichtiger Faktor gegen Einsamkeit. Hochaltrige, die digital unterwegs waren, konnten sich zum Beispiel mit Facetime vernetzen, die Einkäufe online bestellen und waren somit weniger einsam und hilflos als jene, die keinen Zugang zu elektronischen Hilfsmitteln hatten. Da komme ich gleich noch zu einem anderen Punkt: Wir wissen, dass Einsamkeit vom Bildungsniveau abhängig ist. Bildung ist stark gekoppelt mit Einkommen. Wer Geld hat, kann sich mehr leisten und hat auch Zugang zu Informationen. Ohne Informationen ist man gerade in solchen Situationen hilflos. Hilflosigkeit und Einsamkeit sind eine fatale Kombination. Man hat aus dem Lockdown vieles gelernt. Der Digitalisierungsschub durch die Coronakrise muss genutzt werden. Ich «predige» deshalb ständig, dass Bildung im Alter eminent wichtig ist. Nicht nur in jungen Jahren, sondern ein Leben lang. Jenen Senioren, die gelernt haben, mit digitalen Hilfsmitteln umzugehen, ging es während des Lockdowns bedeutend besser. 
 
Sie leiten die Seniorenuniversität Bern – was für Menschen besuchen diese?
Alle ab 60 haben Zutritt, dazu braucht man keine Matura. Wir sind offen für alle, die motiviert sind, sich weiterzubilden. Die Idee der Seniorenuniversitäten ist, der breiten Bevölkerung Wissen zukommen zu lassen. Wir wissen, dass Bildung im Alter zur gesellschaftlichen Teilhabe beiträgt. Und hier kommt die Einsamkeit wieder ins Spiel: Wenn ich mich einbringen kann und informiert bin, verhalte ich mich ganz anders in Extremsituationen wie dem Lockdown. Daher ist Bildung im Alter die beste Investition in Autonomie und Lebensqualität.
 
Haben Sie eine Vision von einer Schweiz, in der sich niemand einsam fühlen muss, der das nicht will?
Ja, aber dafür müssten sich alle in diesem Lande verantwortlich fühlen. Voraussetzung ist, dass auf politischer Ebene Einsamkeit bei Entscheidungen systematisch miteinbezogen wird. Auf nationaler Ebene wäre eine vom Bund finanzierte und geleitete nationale Koalition gegen Einsamkeit denkbar, wie es sie in verschiedenen Ländern Europas gibt. Vertreten wären etwa Verantwortliche aus Gemeinde- und Städteverbänden aber auch dem Dienstleistungssektor. Ich denke da an Wohnungsbau, Verkehr, Banken, Supermärkte, Sport. Diese würden gemeinsam Strategien entwickeln und Massnahmenpakete beschliessen. Flankierend dazu müssten Gemeinden und Quartiere gestärkt und finanziell unterstützt werden, damit mehr Gelegenheiten zum Miteinander geschaffen werden.
Link:Mehr zu malreden.ch und zum Grenchner Verein Anemonen finden Sie unterwww.bielertagblatt.ch/einsamkeit
 
Zur Person
Pasqualina Perrig-Chiello, war von 2003 - 2017 Honorarprofessorin an der Universität Bern mit Schwerpunkt Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Zuvor lehrte sie an der Universität Basel. Ihre Forschungsfelder: Wohlbefinden und Gesundheit, familiale Generationenbeziehungen (Solidarität, pflegende Angehörige, Grosselternschaft), biografische Transitionen und kritische Lebensereignisse. Seit ihrer Emeritierung leitet sie die Seniorenuniversität Bern. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei Söhnen und Grossmutter eines Enkelkindes. Zudem ist sie Autorin mehrerer Sachbücher. bjg

 

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