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Auch das Altersheim bietet Hand für Gefühle

Mit dem Eintritt in ein Alters- oder Pflegeheim bleibt die Sexualität nicht einfach draussen. Dass Zärtlichkeiten unter den Bewohnern in einem intimen Rahmen gelebt werden können, ist freilich keine Selbstverständlichkeit. Das Umfeld ist gefordert.

Verdrängtes Thema: Wenn es in Altersheimen zu Zärtlichkeiten kommt, sind Pflegepersonal und Angehörige noch allzu oft überfordert. Keystone

von Stefan Müller

Reto Schwander war zwar überrascht, tat sich aber nicht schwer, als er zum ersten Mal mit der Sexualität seiner dementen Mutter im Alters- und Pflegeheim konfrontiert wurde. «Als mich das Heim anfragte, ob ein Berührer für meine Mutter engagiert werden solle, dachte ich spontan: Eine gute Idee», berichtet er. «Ist doch meine Mutter seit Jahr und Tag allein und sehnt sich nach jemandem, der sie wieder einmal schätzt, ihr in den Mantel hilft oder auch einmal die Türe aufhält.»

So wurde ein Berührer engagiert. Dieser ging mit der Mutter in ein Restaurant zum Essen, so wie sich dies die Mutter vorgestellt hatte. Doch aus irgendeinem Grund kam die Mutter schliesslich dahinter, dass das Treffen vom Heim arrangiert worden war. Sie wollte sofort zurück. Dank des Einfühlungsvermögens des Berührers liess sich die Mutter doch noch zu einer entspannenden Massage bewegen, was sie dann sehr schätzte.

Keine Avancen mehr

Nach dem Besuch des Berührers gab es keine sexuellen Avancen mehr, die Schwanders Mutter vorher immer einmal wieder gegenüber anderen Heimbewohnern gemacht hatte. «Mit der Sexualität leben wir – wir können sie auch in Langzeitinstitutionen nicht einfach verdrängen», sagt Martin Bachmann, Pflegedienstleiter des regionalen Wohn- und Pflegezentrums Schüpfheim mit 100 Bewohnern. Doch diese Erkenntnis kam laut Pflegedienstleister erst an die Oberfläche, als sich vier Bewohner aufgrund verschiedener Vorkommnisse für den Besuch einer Berührerin interessiert hatten.

Bei zwei Bewohnern standen anzügliche und sexuelle Äusserungen gegenüber Bewohnerinnen und Pflegenden im Vordergrund. Ein Bewohner hatte sein ganzes Leben noch nie eine nackte Frau gesehen, und bei einem Bewohner waren die Verletzungen am Glied, die er sich selber zugefügt hatte, zentral. Die Treffen fanden «still organisiert» in den eigenen Bewohnerzimmern statt. In einem Fall wurde separat ein Zimmer hergerichtet. «Die Besuche wirkten sich auf verschiedene Seiten positiv aus», erklärt Martin Bachmann. Die anzüglichen Äusserungen des einen Bewohners hätten sich eingestellt. Ein anderer Bewohner verletzte sich nicht mehr beim Versuch, sich mit ungeeigneten Gegenständen zu befriedigen.

Auch andere Heime sind mit dem Thema Sexualität konfrontiert. So trug sich folgende Szene in einem Heim zu, das nicht näher bezeichnet werden soll: Eine 80-jährige Frau besucht regelmässig ihren Freund im Altersheim. Eines Tages steht sie im Zimmer ihres Freundes, nur mit einer Unterhose bekleidet, als eine Pflegende mit einer Lernenden das Zimmer, ohne anzuklopfen, betritt. Die Frau flüchtet erschreckt ins Badezimmer. Vor lauter Scham sucht sie von da an ihren Freund nicht mehr auf. Der Mann wird kurz darauf vom Heimleiter zu sich zitiert, wo er zu hören bekommt, dass dies gemäss Hausordnung nicht gehe.

Manche tun sich schwer

Doch nicht nur Heime tun sich gelegentlich schwer. Wie Reto Schwander geht es auch manchen Angehörigen, die sich plötzlich mit der wiederaufflackernden Sexualität der Eltern konfrontiert sehen. Manche reagieren gelassen und andere mit Scham und Unverständnis auf die sexuellen Bedürfnisse der älteren Menschen, insbesondere der eigenen Eltern.

So fühlte sich eine Nichte einer Heimbewohnerin geradezu brüskiert, als sie vom Wohn- und Pflegezentrum Schüpfheim erfuhr, dass ihre Tante den Lernenden immer wieder in den Schritt greife. Wenig Verständnis brachte die Nichte insbesondere der Frage entgegen, ob diesen Übergriffen allenfalls biografische Wurzeln zugrunde lägen wie zum Beispiel eine lesbische Neigung.

Die heftige Abwehr erklärt sich der Pflegedienstleiter Martin Bachmann auch damit, dass die Nichte von der Biografie ihrer Tante nicht allzu viel wusste und mit dem Thema wohl auch selber überfordert war. Zudem spielte sicher auch eine Rolle, dass das Entlebuch – Standort des Heimes – eher eine konservative Gegend ist.

Umgekehrt machte Martin Bachmann mit einem Beistand eines Sozialamtes der Region sehr gute Erfahrungen. Dieser war so offen dem Thema gegenüber, dass er die Kosten für eine Berührerin für seinen mittellosen Mandanten unterstützend übernahm. Bachmann betont jedoch, dass in der Regel kein Kontakt mit den Angehörigen aufgenommen werde, solange die Heimbewohner voll urteilsfähig seien.

Angst vor Schlagzeilen

«Grundsätzlich ist das Bewusstsein für die sexuellen Bedürfnisse von Heimbewohnern gestiegen», stellt Pflegefachfrau und Sexualtherapeutin Evelyne Frey fest. Doch nach wie vor sei das Thema immer wieder mit Tabus behaftet. Die Heimverantwortlichen schreckten oftmals von der Vorstellung zurück, dass negative Nachrichten an Medien und Öffentlichkeit gelangen könnten. Man stelle sich Schlagzeilen in der Lokalpresse vor wie: «Pflegende verteilen Dildos, Erektionshilfen und Gummipuppen.» Aus diesem Grund empfiehlt Evelyne Frey, das Thema in den Institutionen vermehrt aufzunehmen: etwa in der Einführung neuer Mitarbeitenden, in der Praxisbegleitung von Lernenden, in der Weiterbildung oder im Gesprächsleitfaden zur Erhebung der sexuellen Biografie.

Evelyne Frey ermuntert die Angehörigen auch zu mehr Offenheit, selbst wenn sie einmal über den eigenen Schatten springen müssten. Vielleicht aber fällt jemand anders in der Familie das Thema leichter.  So könnte diese Person in die Bresche springen und dem Vater oder der Mutter die nötige Unterstützung bieten.

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Sexualbegleitung

Unter Sexualbegleitung versteht man eine professionelle sexuelle Dienstleistung, die von einer fachlich ausgebildeten Person erbracht wird. Häufig werden dafür auch Bezeichnungen wie Sexualassistenz oder Berührerin und Berührer  verwendet. Diese Dienstleistungen, die nichts mit Prostitution zu tun haben, richten sich an Menschen, die alt oder geistig oder körperlich behindert sind. Im Unterschied zur Prostitution bestimmt die Kundin oder der Kunde gemeinsam mit der Sexualbegleiterin oder dem Sexualbegleiter über die Art der Begegnung.

Wichtig ist, dass beide jederzeit frei entscheiden können, was sie wollen und was nicht. Für die Begleitung wird eine bestimmte Zeit vereinbart, die bezahlt werden muss. 

Links: www.insebe.ch; www.sexualbegleitung.ch.
 

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