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Velobranche

Velohandwerk hat wieder goldenen Boden

Swiss made statt Fernost: Wer ein wirklich individuelles Fahrrad will, kauft ein handgemachtes bei einem Rahmenbauer. Die Szene profitiert vom Trend zum Handwerk, überzeugt durch Qualität und beweist Fantasie.

Der Bieler:Patrik Widmer mit dem neusten Modell mit Pinion-Getriebeschaltung und Riemenantrieb. Bild: Tanja Lander

Tobias Graden

«Das Handwerk trägt den Stolz am Werk in seinem Wesen. (...) Die persönliche Auseinandersetzung mit einem anderen Individuum, welches die Fertigkeit besitzt, das Traumvelo zu produzieren und das Einblick in sein Handwerk gewährt, findet man nur beim Rahmenbauer. «
(Auszug aus der Homepage von 47° Nord)

Am Sonntag ging Patrik Widmer auf eine Velotour. Von Biel aus fuhr er dem See entlang nach Ins, dann hoch zum Mont Vully und über Neuenstadt zurück nach Biel. Widmer war nicht alleine: weitere Velofahrerinnen und -fahrer begleiteten ihn. Die meisten waren auf Fahrrädern der Marke 47° Nord unterwegs.
47° Nord, auf diesem Breitengrad liegt Biel. Darum nennt Patrick Widmer seine Velos so. Es sind spezielle Velos:Man kann sie nur bei ihm kaufen, er lötet die Rahmen von Hand in seinem Atelier in einem Gewölbekeller in der Bieler Altstadt. Die Velotour am Sonntag war eine Jubiläumstour: Seit fünf Jahren fertigt Widmer Velorahmen. Mit zunehmendem Erfolg – während er sein Metier bislang in Teilzeit betrieb, so wagt er nun den Schritt in die ganze Selbständigkeit. Er ist zuversichtlich, dass dieser gelingt:Zurzeit beträgt die Wartezeit auf einen Massrahmen bei ihm drei Monate, und sie drohte deutlich länger zu werden.

Das Velo als Kultobjekt

Nicht nur in Biel finden handgemachte Velos wieder mehr Anklang. Überall, wo Velofahrer Geld haben für hochwertige Produkte, ist die Rahmenbauerszene in den letzten Jahren wieder gewachsen. Die Szene ist gut vernetzt, tauscht sich in Foren aus, trifft sich an internationalen Messen. Deren grösste, die North American Handmade Bicycle Show, beherbergt mittlerweile um die 200 Aussteller. Zahlreiche Publikationen und hochwertig gestaltete Bücher feiern das handgemachte Velo als Kult-, bisweilen gar als Kunstobjekt.
Im Tiefparterre eines älteren Fabrikgebäudes in Wallisellen bei Zürich ist Drilon Shabani gerade daran, seinen eigenen Dirtrahmen fertigzubauen. Er besucht das Bieler Seelandgymnasium, der Rahmen ist seine Maturarbeit. Für seine Lehrwoche hat er sich den wohl erfahrensten aktiven Rahmenbauer der Schweiz ausgesucht: Robert Stolz. Stolz ist 52, sein Unternehmen Fahrradbau Stolz feiert im nächsten Februar das 30-jährige Bestehen, er ist der Grandseigneur in der Schweizer Rahmenbauerszene. Zuvor hatte er in der damaligen BBC gearbeitet, trug die Mitarbeiternummer 90C, «ich war ein Zahnrädchen, das Endprodukt sah ich nur von weitem, das wollte ich nicht». Nach einem missglückten Auswanderungsversuch («Ich bin ein Zürcher!») begann er mit dem Bau von Velos, mittlerweile hat er Kunden, die in drei Generationen Stolz-Velos fahren.


Unabdingbar:Innovation...


Stolz kann gut von seinem Handwerk leben, er beschäftigt Mitarbeiter, der Auftragsvorrat beträgt drei bis fünf Monate, er sagt gar: «Ich möchte eigentlich ein bisschen bremsen.» 50 handgemachte Rahmen verlassen die Werkstatt pro Jahr, aber das war nicht immer so:Um die Jahrtausendwende interessierte sich jährlich gerade noch eine Handvoll Kunden für ein Stolz-Velo.
Die meisten Rahmenbauer verlegen sich auf Stahl als Rahmenmaterial. Dies im Gegensatz zur grossen Veloindustrie: Für High-end-Produkte kommt heute fast nur noch Carbon als Rahmenmaterial zum Einsatz, die grosse Masse fährt auf Aluvelos. Stahlrahmen dagegen verströmen einerseits Retro-Charme, wirken aber auch zeitlos, den Moden enthoben. Keineswegs ist diese Haltung mit altmodisch zu verwechseln. Im Gegenteil, die Rahmenbauer sind innovativ. So vereint Patrik Widmers neustes Modell zwei modernste Schalt- und Antriebskonzepte: Die Pinion-Getriebeschaltung sitzt geschützt in einem Kasten im Tretlagerbereich, der Antrieb des Hinterrades erfolgt über den Gates-Carbon-Zahnriemen. Robert Stolz integrierte in sein persönliches Stadtvelo dermassen viele Details (etwa eine Uhr im Vorbau als Referenz ans Landi-Velo oder die Bedienung des Lichts per Knopfdruck im Vorbau), dass im Frühjahr die Jury des Bike Lovers Contests in Zürich das Velo auf den zweiten Rang hievte.  


...und Kundenorientierung


Tüftelei und Handarbeit haben ihren Preis. Bei Beat Baumgartner (an selbigem Contest Träger des Publikumspreises) kostet das günstigste Rahmenset 1600 Franken – im Durchschnitt geben die Schweizer Velofahrer um 1300 Franken für ein ganzes Velo aus. Bedenkt man allerdings, dass die Fernost-Alurahmen solcher Velos kaum mehr als etwa 40 US-Dollar kosten, für ein Stahl-Massvelo dagegen alleine die Materialkosten mehrere hundert Euro betragen, wächst das Verständnis für die Preise von mehreren tausend Franken für ein Schweizer Massvelo rasch.
Beat Baumgartner ist die Nachwuchskraft in der Schweizer Rahmenbauszene: Er ist gerade mal 23 Jahre alt und hat das Glück gehabt, dass er die vom Rennvelospezialisten Antonio Luongo in Lenzburg übernommene Werkstatteinrichtung über drei Jahre abzahlen durfte. Trotz seiner Jugend hat sich Baumgartner bereits grosses Rennommée erarbeitet. Kürzlich verkaufte er einen Rahmen nach St. Petersburg – und lieferte ihn ferienhalber gleich persönlich aus. Hauptstandbein seiner Marke Bedovelo sind zurzeit schicke Stadtvelos für ein urbanes Zielpublikum. Er erzählt von Berner Architekten, die an den idyllischen Wohlensee kommen, an dem er im elterlichen Bauernhaus die Werkstatt betreibt, und wo er mit seinen Kunden dann stundenlang über Geometrien, Farben oder auch nur einzelne Muffen diskutiert.
Damit spricht Baumgartner den zentralen Punkt an, der für ein handgemachtes Mass-Velo spricht. Zwar hat jeder Rahmenbauer seinen eigenen, oft unverkennbaren Stil, er orientiert sich aber gänzlich an den Bedürfnissen des Kunden. Nach Möglichkeit wird jeder Wunsch berücksichtigt – das geht bis hin zu Spezialkonstruktionen:Robert Stolz baut zurzeit eine Renn-Rikscha für einen Laufsportler, der mit seiner gehbehinderte Frau trainieren will. Patrik Widmer fertigt jeden Rahmen auf Mass an. Beat Baumgartner sagt zwar, die stundenlangen Gespräche mit den Kunden seien zwar sehr schön, aber auch anstrengend, so dass er im Winter zum Abschalten einige Wochen als Skilehrer arbeitet.  
Moden und Trends kommen und gehen, doch die Nachfrage nach qualitativ guten Velos werde anhalten, davon sind alle drei Rahmenbauer überzeugt. Robert Stolz ist darüber hinaus quasi politisch abgesichert:Die Mehrheit der Mitglieder des Zürcher Stadtrates fährt ein Velo von ihm.

Kommentare

mstuedel

Biel hat ja eine gloriose Fahrradbau- Geschichte: Cosmos, Wolf, Zésar und Estelli sind leider alle verschwunden, Immerhin produzieren die Drahtwerke (neu DT Swiss) immer noch Fahrradteile und schön zu sehen, dass das Rahmenbau- Handwerk in wenigstens mit 47°Nord weiterlebt. Viel Erfolg!


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