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Körper & Geist

Was Freundschaften bedeuten

Karriere machen und nebenbei noch die Familie managen – da bleibt oft wenig Zeit für Freunde. Doch es lohnt sich, den Kontakt mit ihnen zu pflegen.

Gemeinsame Erlebnisse wie etwa ein Ausflug an den See verstärken die Freundschaftsbande. Bild: ky

Marcel Friedli
Immer früh aus den Federn, lange Arbeitstage. Den Kindern am Abend bei den Hausaufgaben helfen und sie zu Bett bringen. Nach dem Abendessen nochmals ran: Mails beantworten, Pendenzenberg abtragen. Und an den Wochenenden volles Programm mit den Kindern. Für viele – vor allem für jene, die Arbeit und Familie unter einen Hut bringen oder Karriere machen wollen – ist der Alltag dicht bepackt. Mit zusammengebissenen Zähnen strampeln sie im Hamsterrad, nehmen sich wenig Zeit für ihre Freunde, für die neuen und die langjährigen. «Oft fehlt das Bewusstsein, wie wichtig Freundschaften sind», sagt die Bieler Psychologin Susy Ottinger. «Viele gewichten Erfolg, Prestige, Anerkennung höher als tiefe zwischenmenschliche Beziehungen.»

Freundschaften sind freiwillig
Den meisten ist zwar bewusst, dass am Totenbett nicht entscheidend sein wird, ob man im Job gewissenhaft und erfolgreich war, sondern ob man sich auf zwischenmenschliche Beziehungen eingelassen hat. Doch trotz guter Vorsätze lassen sich viele vom Tempo des Alltags steuern. «Freundschaften sind im Gegensatz zu den klaren Zielvorgaben im Arbeitsleben etwas Freiwilliges, das sich aufschieben lässt», erklärt Susy Ottinger diesen Widerspruch. Welchen Stellenwert man der Kontaktpflege zu Freunden einräume, sei eine Frage der Prioritäten, erklärt die 66-Jährige aus Täuffelen, die in Biel psychologische Beratungen mit Schwerpunkt Paartherapie durchführt.

Auch bei der Auswahl der Freunde rät sie, Prioritäten zu setzen, nach dem Motto: lieber wenige Freundschaften, diese aber pflegen. Sie stimmt dem deutschen Lyriker Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) zu, der schreibt: «Es ist besser einen Freund zu haben, der viel wert ist, als viele zu haben, die nichts wert sind.»

Schattenseiten zeigen können
Als wertvoll erachtet es die Psychologin zudem, hie und da spontan abzumachen. Sie empfiehlt: «Treffen nicht dauernd auf- und verschieben, sondern auf die eigenen Impulse hören, den Moment leben und die Gelegenheit zu einem spontanen Wiedersehen wahrnehmen.» Denn eine Freundschaft zu pflegen, das ist für die Psychologin mehr als eine Geburtstags-SMS und gelegentliche Postings via Facebook: «Zur Kontaktpflege gehört es, sich hie und da aufzuraffen, wenn auch nur zu einem kurzen Telefongespäch.» Anhand der Stimme sei es möglich, die Verfassung der anderen Person herauszuhören. Ausserdem könne der Austausch Balsam für die Seele sein.

Gemeinsame Erlebnisse wie ein Kaffeekränzchen, ein Essen, Sport treiben, spazieren oder ein Kinobesuch verstärkten die Freundschaftsbande zusätzlich, ist Susy Ottinger überzeugt. Soziale Plattformen seien höchstens ein Zusatz, niemals aber ein Ersatz: «Facebook dient vor allem der Information und oft der Selbstdarstellung. Es geht eher um den Monolog als um den Dialog.» Verbindlichkeit zähle weniger als bei einer echten, tiefen, von Vertrauen geprägten Freundschaft. «Sie ist eine wechselseitige Beziehung: Man stellt sich auch mal hintenan, wenn es dem Freund oder der Freundin nicht gut geht, lässt alles liegen und stehen, lässt sich auf das Gegenüber ein. Und mutet sich dem anderen auch zu, wenn es einem nicht so gut geht – zeigt also auch seine Schattenseiten.»

Dass dann jemand da ist, der einem sein Ohr leiht, sei alles andere als selbstverständlich, sagt Susy Ottinger. Zu ihr kommen oft Menschen, die einsam sind oder sich einsam fühlen, vor allem nach Trennungen und Todesfällen. «Hat man die Kontakte vorher gepflegt, bewährt sich das in Krisensituationen. Dann zeigen sich die wahren Freunde.»
 

Freundschaften
  • Freundschaft und Liebe sind nahe beieinander: Das altgriechische Wort «philia» kann für Liebe und Freundschaft verwendet werden.
  • Laut dem griechischen Philosophen Aristoteles ist Freundschaft unerlässlich für eine Gesellschaft; wir sind auf gegenseitiges Wohlwollen angewiesen.
  • Eine Art von Freundschaft sind Nutz-Freundschaften: am Arbeitsplatz, während einer Ausbildung, bei Netzwerk-Vereinigungen.
  • Freundschaft wird je nach Kultur anders definiert: Italiener, Amerikaner und Spanier bezeichnen bereits Bekannte als amico bzw. als friend. Im deutschen Sprachraum spricht man bei Bekannten eher von Kollegen.


Wie eine Tasse Tee
Freundschaften – ein Lebensthema. Wohl darum haben sich dazu viele Dichter, Schriftstellerinnen und Philosophen Gedanken dazu gemacht. Wie Ambrosius von Mailand, einer der Kirchenlehrer der Westkirche (339–397), der einen Freund in seinem Werk «De officiis» so definiert: «Ein Freund ist gleichsam ein zweites Ich.» Ein chinesisches Sprichwort drückt die enge Verbindung von zwei Menschen in diesem Bild aus: «Eine Freundschaft ist wie eine Tasse Tee. Sie muss klar und durchscheinend sein, und man muss auf den Grund schauen können.»

Zwischen Freundschaft und Liebe eine Grenze zu ziehen, kann mitunter schwierig sein, schwingt in Freundschaften und Liebesbeziehungen doch beides mit: Freundschaft und Liebe. Und doch scheint es einen Unterschied zu geben, der sich in dieser Parabel ausdrückt: Fragt die Liebe die Freundschaft: «Warum gibt es dich, wenn es mich schon gibt?» Darauf antwortet die Freundschaft: «Um dort ein Lächeln zu zaubern, wo du eine Träne hinterlassen hast.»
 

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