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Pflege

Zwischen Job und privatem Einsatz

Berufstätig sein und sich nebenbei um hilfsbedürftige Angehörige kümmern - für rund 160 000 Beschäftigte ist das Alltag. Unterstützung aus den Unternehmen ist dabei selten.

Angehörige pflegen und doch arbeiten gehen: Nicht jeder Chef hat dafür Verständnis. Bild: vc/a

Vera Sohmer

Helmut Iseli* , 45, ist Kadermit-arbeiter eines mittelständischen Unternehmens. Er hat eine 100-Prozent-Stelle und ist, wie er sagt, oft im Schuss. Mehr Verschnaufpausen, ja, das könnte er brauchen. Freizeit aber ist für ihn ein relativer Begriff. Wenn er frei hat, schaut er meistens bei seinen Eltern vorbei. Beide sind Mitte 70, leben zu Hause «und sind fürs Alter noch ganz fit». Aber es lasse halt nach hier und da, körperlich vor allem. Anstrengende Arbeiten wie Schnee schippen, Hecken schneiden, Vorhänge waschen oder etwas am Häuschen flicken, das liege nicht mehr drin.

Also hilft einer der beiden Söhne. Und weil Helmut Iseli näher beim Elternhaus wohnt, kommt er auch bei «Feuerwehrübungen» zum Einsatz. Dafür opfert er auch mal seine ohnedies knapp bemessene Mittagspause. Wie er sich manchmal abhetzt und warum er dies tut, weiss im Betrieb keiner. Sein Chef schon gar nicht.

 

Belastung für den Betrieb?

So wie Helmut Iseli geht es vielen Arbeitnehmern. Sie beissen sich lieber durch als beim Vorgesetzten nach Unterstützung zu fragen. Zu gross ist die Befürchtung, als weniger leistungsfähig zu gelten und als Belastung für den Betrieb. Vor allem bei älteren Mitarbeitenden sei die Scheu gross, das Thema anzuschneiden, sagt Elisabeth Häni von der Fachstelle «UND» Familien- und Erwerbsarbeit. Und hier tut sich ein Widerspruch auf. Firmen betonen heute gerne, sich für die Work-Life-Balance ihrer Mitarbeitenden einzusetzen, Rücksicht zu nehmen auf deren Lebenssituation. Unternehmen nennen sich familienfreundlich, lassen sich mit entsprechenden Labels zertifizieren. Und werben mit zeitgemässen Anstellungsbedingungen um qualifiziertes Personal, mit Teilzeitpensen etwa oder der Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten.

Aber: Was angeboten werde, konzentriere sich meistens auf Mitarbeitende mit - gesunden - Kindern, sagt Elisabeth Häni. Erst wenige Firmen bieten spezifische Unterstützung für pflegende Angestellte. Dafür fehle das Bewusstsein, sei Sensibilisierung notwendig. Laut einer Studie der Kalaidos-Fachhochschule kümmern sich heute rund 160 000 Erwerbstätige um hilfsbedürftige Personen. Diese Beschäftigten sind in der Regel zwischen 50 und 60 Jahre alt. Deren Zahl wird zunehmen. Zum einen, weil durch die demographische Entwicklung das Durchschnittsalter in den Betrieben steigt. Zum anderen, weil es mehr ältere Pflegebedürftige geben wird, die nicht alle in Heimen untergebracht werden können. Und das heisst: Arbeit und Pflege auf die Reihe zu bekommen, wird für noch mehr Beschäftigte zu einer Herausforderung werden. Und damit werden auch Betriebe konfrontiert sein.

 

«Familienpflichten» erlaubt

Das Arbeitspensum reduzieren, weil man Angehörige pflegt - darauf gibt es in der Schweiz keinen rechtlichen Anspruch. Dies im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich. Im Schweizer Arbeitsgesetz heisst es nur, dass bei Arbeits- und Ruhezeiten auf Beschäftigte mit Familienpflichten Rücksicht genommen werden muss. Überzeiten sind demnach nur mit Einverständnis der Mitarbeitenden erlaubt. Und wenn diese wollen, können sie eine mindestens eineinhalbstündige Mittagspause machen. Familienpflichten, darunter fällt die Betreuung von Kindern unter 15 Jahren - und von pflegebedürftigen Angehörigen oder nahestehenden Personen.

 

Maximale Flexibilität

Regelungen, die Elene Sieber* nichts gebracht hätten (siehe Text unten). Um ihre Mutter regelmässig im Alltag zu unterstützen, musste sie beruflich kürzer treten. Sie suchte sich deshalb eine neue Stelle und konnte Sonderkonditionen für sich durchsetzen. Sie braucht maximale Flexibilität bei der Arbeitszeit, weil sie sich bei ihrer Mutter auch auf Unvorhergesehenes einstellen muss.

Ein solches Entgegenkommen darf man vom Arbeitgeber aber nicht erwarten. In der Regel sind Angestellte auf dessen Wohlwollen angewiesen. Es sei Verhandlungssache, heisst es bei «UND». Im Einzelfall gelinge es dann oft, sich zu arrangieren. Schliesslich liege es im Interesse der Unternehmen, gute Mitarbeitende zu halten. Und dazu gehören Anstellungsbedingungen, mit denen sich Berufsleute nicht aufreiben müssen zwischen Job und privatem Einsatz.

 

Nicht von heute auf morgen

Die Karten auf den Tisch legen, rechtzeitig den direkten Vorgesetzten oder die Personalabteilung einweihen, das rät Ruth Derrer Balladore vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Dann stünden die Chancen gut, gemeinsam eine Lösung zu finden. Schwierig werde es, wenn der oder die Angestellte bereits alles organisiert habe und den Arbeitgeber dann nur noch mit Forderungen konfrontiere. Zudem: Andere Arbeitspensen festzulegen oder flexible Arbeitszeiten einzuführen, erforderten Absprachen im ganzen Team. Dies alles sei nicht von heute auf morgen umzusetzen. Erst recht nicht, wenn gleich mehrere Angestellte ihre speziellen Bedürfnisse anmelden.

 

Ein Herz fassen

Danach zu fragen, ob er freier über seine Arbeitszeit verfügen kann oder vielleicht sogar ein reduziertes Pensum möglich wäre - Helmut Isler hat schon darüber nachgedacht. Noch zögert er. Es sei schwer einzuschätzen, wie sein Chef darauf reagiert. Dieser sei vom alten Schlag und habe sich nie sonderlich dafür interessiert, wie seine Beschäftigten das Privatleben organisieren - oder das stemmen, was sie sich zusätzlich und freiwillig aufladen. Zumindest nicht, solange die Leute im Betrieb funktionieren. «Und das tue ich ja mehr als hundertprozentig.» Gut möglich aber, dass er sich ein Herz fasst und seine Situation mal grundsätzlich anspricht. Dabei geht es ihm nicht ums Jammern und Klagen. Sich um seine Eltern zu kümmern, empfinde er keineswegs als Last, und sein Job schaffe einen Ausgleich zu seinem freiwilligen Engagement. Aber die Zeit renne ihm davon. Und dies sei ein unbefriedigender Zustand. «Meine Eltern erleben mich meistens hektisch. Dabei möchte ich ab und zu einfach mal mit ihnen zusammensein, auch und gerade dann, wenn es nichts zu erledigen gibt.»

 

Wie Sie Ihre Angestellten unterstützen

• Machen Sie in ihrem Betrieb die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenpflege zum Thema. Sensibilisieren Sie insbesondere Führungskräfte. Erfassen Sie regelmässig die Bedürfnisse Ihrer Mitarbeitenden. Fragen Sie beispielsweise, ob diese die Arbeitszeit reduzieren wollen.

• Erstellen Sie einen Notfallplan für Mitarbeitende, die plötzlich von einem Pflegefall in der Familie betroffen sind. Bestimmen Sie eine Ansprechperson oder Anlaufstelle für Mitarbeitende mit Pflegeaufgaben.

• Unterstützen Sie Mitarbeitende bei der Suche nach professioneller Hilfe wie Tagespflegeeinrichtungen, betreutes Wohnen, private Altersbetreuung, Pflegekurse oder Mahlzeitendienst. Machen Sie diese Angebote beispielsweise als Flyer zugänglich, allenfalls in überbetrieblicher Zusammenarbeit oder über den regionalen Gewerbeverband.

• Arbeiten Sie auch mit Anlaufstellen für Stressbewältigung und Gesundheitsförderung zusammen. Ermutigen Sie Mitarbeitende, diese Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.

• Führen Sie flexible Arbeitzeiten und Arbeitseinsätze ein, etwa durch kurzfristige und unbürokratische Freistellung oder Langzeiturlaub nach Bedarf. Erleichtern Sie es, Freitage, Ferien, Auswärtstermine und Geschäftsreisen zu planen. Sorgen Sie für eine Stellvertretung, reduzieren Sie Überstunden auf ein Minimum. So können Sie nicht nur auf Bedürfnisse von Mitarbeitenden, sondern auch auf Auftragsschwankungen reagieren.

• Organisieren Sie Infoveranstaltungen. Ermöglichen Sie den Austausch zwischen Mitarbeitenden, die Angehörige pflegen. Das hilft Betroffenen und sorgt dafür, das Thema zu enttabuisieren. vs Quelle: Fachstelle «UND» Familien- und Erwerbsarbeit, www.und-online.ch

 

 

Die Entscheidung, für andere da zu sein

Betroffene Beruflich kürzer treten und sich in einer Kindertagesstätte oder für die eigene Mutter engagieren – zwei Frauen erzählen, warum sie sich so entschieden haben.

Eveline Erne, 41, HR-Fachfrau in einer Bank: «Der Gesellschaft etwas zurückgeben»
«Ursprünglich hatte ich meine Arbeitszeit auf 80 Prozent reduziert, um mehr Zeit mit meiner Familie verbringen zu können. So sehr ich es genoss, konnte ich mir neben der Erwerbstätigkeit schon bald wieder weitere Aufgaben vorstellen. Die Anfrage, ob ich ein Ehrenamt übernehmen will, kam zum richtigen Zeitpunkt. Seither bin ich Präsidentin eines Vereins, der zwei Kindertagesstätten betreibt. Ich bin in erster Linie für die Führung des Vereins und die Finanzen zuständig. Dieses Amt liegt mir am Herzen: Zum einen finde ich familienergänzende Kinderbetreuung wichtig, in der Schweiz wird dafür leider noch zu wenig getan. Zum anderen bringe ich für dieses Ehrenamt die richtigen Kompetenzen mit. Ich kann mein Know-how für einen guten Zweck einsetzen, und das ist sehr befriedigend. Das Gefühl, dafür müsste ich eine Entschädigung erhalten, hatte ich nie. Ich habe Glück, konnte eine fundierte Ausbildung geniessen, meiner Familie geht es wirtschaftlich gut und wir sind gesund und zufrieden. Also kann ich der Gesellschaft auch etwas zurückgeben. Ein Grundsatz, den ich auch meinem Sohn weitergeben möchte: Schau her, es kann sinnvoll sein, sich für eine Sache einzusetzen – und dafür kein Geld zu bekommen.

Mein Ehrenamt entsprach zu Beginn etwa einem 20-Prozent Pensum. Mittlerweile sind es etwa noch 10 Prozent. Manchmal frage ich mich schon: Warum nimmst du dies auf dich? Diese Zweifel habe ich meistens dann, wenn mehrere Dinge zusammenkommen: Grosse Herausforderungen im Beruf, Hektik im Alltag, und dann noch Auflagen oder Vorschriften, die uns in den Tagesstätten den Betrieb erschweren.

In solchen Situationen habe ich schon ans Aufhören gedacht. Dann aber sage ich mir wieder: Genau das mache ich jetzt nicht! Ich will mich dafür einsetzen, dass die Tagesstätten professioneller geführt und betrieben werden. Zurzeit sehe ich keinen Grund, mein Ehrenamt aufzugeben. Es gibt nämlich noch etwas, was ich nicht missen möchte: Dieses Amt lässt mich den Boden der Realität nicht verlieren. Ich sehe in andere Branchen hinein, und es zeigt mir auch, dass längst nicht alle Familien auf Rosen gebettet sind.»

Elene Sieber*, 60, Sachbearbeiterin bei einer Krankenversicherung: «Sie zählt auf mich»
«Meine Mutter ist im Februar 83 geworden. Sie lebt zu Hause und ist in vielem noch recht selbstständig. Alles aber schafft sie nicht mehr. Deshalb gehe ich ihr mehrmals pro Woche zur Hand, erledige Einkäufe, Amtsgänge und Telefonate, helfe im Haushalt. Und manchmal höre ich ihr einfach zu. Seit mein Vater gestorben ist, hat sie nur noch mich, ich bin ihr einziges Kind. Ich kann auch sagen: Sie zählt auf mich. Sie nicht zu unterstützen, wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Als absehbar war, dass sie Hilfe brauchen würde, gab ich meine 100-Prozent-Stelle auf. Denn mir war klar, dass ich das alles nebenbei nicht auch noch schaffen würde. Ich suchte mir ein 80-Prozent-Pensum. Meiner neuen Arbeitgeberin schenkte ich gleich reinen Wein ein. Ich sagte, dass es mir nichts bringt, einen Tag pro Woche frei zu haben, sondern dass ich die Zeit flexibel einteilen können muss. Anfangs wurde dies akzeptiert. Als eine neue Chefin kam, gab es Schwierigkeiten. Sie meinte, so lasse sich doch kein vernünftiger Dienstplan erstellen. Schliesslich aber fanden wir einen Weg, und seither läuft die Sache reibungslos.

Natürlich frage ich mich auch, wie das alles weitergehen soll, was wir tun sollen, wenn meine Mutter pflegebedürftig wird. Erst kürzlich musste sie ins Spital wegen einer Lungenentzündung und eines leichten Herzinfarkts. Mir ist klar, dass sie je länger je mehr weiter abbauen wird und intensivere Unterstützung braucht. Ein Heimplatz ist deshalb unumgänglich, was ich meiner Mutter gegenüber auch schon mehrmals offen ausgesprochen habe.

Bis es so weit ist, werde ich ihr selbstverständlich helfen, so gut es eben geht. Klar, manchmal wird es mir auch zuviel. Ich muss aufpassen, dass mich das alles nicht zu sehr vereinnahmt. Zum Glück habe ich einen Lebenspartner, der Verständnis hat für meine Situation – und mir auch hilft, es einfach mal gut sein zu lassen. In unseren letzten Ferien zum Beispiel. Irgendwann wurde ich unruhig und sagte: Ich muss sie unbedingt anrufen, vielleicht ist etwas mit ihr. Mein Partner meinte: ‹Jetzt lass doch, bestimmt ist alles in Ordnung.› Womit er freilich recht hatte.»


* Namen geändert

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