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Uhren & Hightech

Ausländer - aber hochwillkommen

Ohne Grenzgänger stünden die Räder in der Uhrenindustrie bald still, besonders in der Region im Jurabogen. Trotz ihrer grossen Zahl machen sie keine Probleme - fast keine.

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Rolf Löffler

Wer am Nachmittag nach vier am westlichen Dorfausgang von Le Brassus im Vallée de Joux steht, erlebt von Montag bis Freitag das gleiche Schauspiel: Auto um Auto bewegt sich Richtung Grenze, jedes mit französischem Kennzeichen, die Uhrenarbeiter aus noblen Manufakturen und Zulieferbetrieben haben Feierabend und fahren nach Hause.

Gleiches spielt sich in La Chaux-de-Fonds ab, wo der Stau an Wochenenden oft so lang ist, dass die zwölf Kilometer lange Fahrt von der Stadt an die Grenze eine volle Stunde dauert.

Ohne Grenzgänger, «les frontarliers», wäre die Produktion in der Uhrenindustrie nicht aufrechtzuerhalten. Sowohl im ganzen Jurabogen und in Genf, aber auch im Tessin, wo in den letzten Jahren ebenfalls mehrere Uhrenfirmen ihre Produktionsstätten angesiedelt haben. Die Zahlen sprechen denn auch eine deutliche Sprache (vgl. Infobox).

Die Grenzgänger arbeiten nicht bloss in den grenznahen Gebieten der Kantone Jura, Waadt und Neuenburg. Autos mit französischen Kennzeichen sind auch in Sonceboz zu sehen. Vereinzelte arbeiten sogar in Biel und Grenchen in Betrieben der Swatch Group, wie Pressesprecherin Béatrice Howald auf Anfrage sagt. Und beim Zifferblatthersteller Artecad in Tramelan stammt über die Hälfte der Belegschaft aus Frankreich; viele kommen aus der Region Montbéliard, sie nehmen über eine Stunde Arbeitsweg in Kauf.

Biel nur wenig betroffen

Weder bei den Arbeitgebern, den Gewerkschaften noch in den einzelnen Unternehmen hat man dem Umstand der grossen Zahl bisher grössere Beachtung geschenkt, weil offenbar mit ihnen alles wie geschmiert läuft.

Daniel Hügli von der Unia in Biel weiss von den wenigen Grenzgängern, die in Biel arbeiten, «aber wir sind hier wenig betroffen und da läuft alles geordnet ab, uns ist kein einziger Verstoss gegen den Gesamtarbeitsvertrag bekannt».

In Neuenburg mit den Zentren Le Locle und La Chaux-de-Fonds arbeiten ungleich mehr Personen aus Frankreich in der Uhrenindustrie. Unia-Sekretärin Catherine Laubscher: «Die Zahl der Grenzgänger hat in den letzten Jahren stark zugenommen, auch die Verträge mit Temporärarbeitern. Wir überwachen, dass die Arbeitnehmer von beidseits der Grenze gleich bezahlt werden, und das ist bisher gut gelungen.»

Tatsächlich hat die Zahl der Grenzgänger in den letzten Jahren stark zugenommen, auch wegen der Liberalisierungen im Zusammenhang mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Jüngstes Beispiel: Luxus-Uhrenhersteller Cartier plant eine neue Manufaktur in Les Brenets bei Le Locle, dort sollen 400 Stellen entstehen, zwei Drittel des Personals werden in Frankreich rekrutiert.

Auch der Arbeitgeberverband Convention Patronale in La Chaux-de-Fonds beschäftigt sich wenig mit der grossen Anzahl Grenzgänger in der Uhrenindustrie. Man erhebt selber keine Zahlen, kennt sie aber ungefähr. Generalsekretär François Matile: «Eine Herausforderung für die Personalchefs ist, ein zahlenmässiges Gleichgewicht zwischen Grenzgängern und hier Ansässigen zu finden.»

Er sieht in der hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich und den in der Schweiz bezahlten Löhnen den Hauptgrund, dass die Uhrenindustrie so attraktiv ist für französische Arbeitnehmer. «Und beidseits der Grenze haben wir eine Tradition und eine Kultur der technischen Berufe.»

Fordern, reklamieren

Und die Hausse in der Uhrenbranche lässt denn vielen Arbeitgebern gar keine Wahl, als ihr Personal im grenznahen Ausland zu suchen. Der Personalverantwortliche von Artecad: «Wir sind in den letzten Jahren so stark gewachsen, ich kann nicht wählerisch sein, sondern muss die Arbeitnehmer einstellen, die ich überhaupt kriege.»

Ein Arbeitgeber, der ungenannt bleiben will, expandierte in den letzten Jahren ebenfalls stark. Auch der Chef eines Zuliefererbetriebs im Kanton Neuenburg hat viel Personal aus dem grenznahen Frankreich angestellt.

Für ihn ist weniger die grosse Anzahl Franzosen eine Schwierigkeit in seinem Betrieb, eher ihre Mentalität: «Es ist nicht immer leicht mit Arbeitnehmern aus Frankreich. Sie vertreten oft eine Haltung, die sehr stark gewerkschaftlich geprägt ist, fordernd, reklamierend, und der Patron ist immer auch Ausbeuter.» Mit Italienern, Portugiesen und Spaniern, die früher für ihn gearbeitet hätten, sei das nie der Fall gewesen.

Der gelegentlich auftauchenden Anspruchshaltung zum Trotz: Die Schweizer Uhrenindustrie ist als Arbeitsort attraktiv für Grenzgänger aus dem EU-Land Frankreich, wegen ihrer guten Löhne und Sozialleistungen. Und weil sie überhaupt Arbeitsplätze anbietet.

So attraktiv, dass weiterhin Franzosen aus Clermont-Ferrand oder Lothringen bei Pontarlier ein kleines Zimmer beziehen, um dort als Wochenaufenthalter zu leben und täglich in die Schweiz zur Arbeit pendeln.

Grenzübergang bei Les Verrières, wo viele Franzosen täglich die Schweizer Grenze passieren, um in den Uhrenfabriken im Kanton Neuenburg zu arbeiten. Bild: ky/a

Die Zahlen

- Ganze Schweiz 259 000 Grenzgänger, 4. Quartal 2011. 11,5 Prozent mehr als ein Jahr vorher

- Vor allem drei Regionen: Jura/Nordwestschweiz (10 Prozent aller Arbeitnehmer), Genferseeregion (10), Tessin (24)

- Ganze Uhrenindustrie Ende 2010 rund 48 500 Arbeitskräfte

- Anteil Grenzgänger Uhrenindustrie (2008). Anteil insgesamt: 31,4 Prozent, Berner Jura 4,3; Waadt 61, Neuenburg 31,8, Jura 36,1 (rol)

Tessin und Genf mit Sorgen

rol. Nicht in jeder Region und in jeder Branche verläuft die Integration der Grenzgänger so reibungslos ab wie in der Uhrenindustrie in der Jura-Region. Im Tessin findet ein Ansturm auf den tertiären Sektor von italienischen Grenzgängern statt, so dass Lohndruck und Verdrängung der Einheimischen befürchtet werden.

Die Regierung will die Kontrolle verschärfen, die Lega fordert eine Kontingentierung, was aber rechtlich nicht möglich ist. Im Tessin ist fast jeder vierte Arbeitnehmer ein Grenzgänger, die starke Zunahme in den letzten Jahren hat einerseits mit den Erleichterungen der Personenfreizügigkeit zu tun, ist aber auch Folge der dynamisch wachsenden Tessiner Wirtschaft, die Arbeitskräfte braucht.

Sorgen bereitet die Anzahl Grenzgänger auch vielen Genfern, auch dort sind es Lohndruck und Autolawinen vor Grenzübergängen und die Kriminalität, die Stoff für Diskussionen abgeben.

Wenig diskutiert wird das Thema in Basel, «Waggis» und «Schwobe» sind dort seit jeher Teil des Stadtbildes und willkommen.

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