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Ausstellung

Beim letzten Punkt atmete er auf

80 Tage und 80 Stunden wendete der Grafiker Roland Fischer auf, um Robert Walsers «Seeland» abzuschreiben. Ab heute ist das Werk in der Nidauer Dispo ausgestellt – zum wohl einzigen Mal.

Der Abschreiber: Roland Fischer vor seinem Werk, das noch bis Sonntag in der Dispo Nidau ausgestellt ist. Die 182 aneinendergereihten Blätter nehmen eine Länge von 150 Metern ein. Bild: Aimé Ehi

Tobias Graden

Diesen Moment des Zweifels, den gab es. Es war am Morgen des 1. August, als sich Roland Fischer fragte: Warum mache ich das bloss? Soeben war er in seinen Atelierraum auf der Robert-Walser-Sculpture eingetreten und fand einige seiner Blätter verschmiert vor. Betrunkene Nachtbuben, zu früher Stunde vom Feuerwerk am See zurückgekehrt, hatten sich auf der Sculpture destruktiv ausgetobt und dabei einen Teil von Fischers Werk besudelt.

Roland Fischer hielt kurz inne und schrieb dann weiter.
182 grossformatige Blätter hat er insgesamt beschriftet, hat in unzähligen Stunden das gesamte Werk «Seeland» von Robert Walser abgeschrieben, es war eine Fleissarbeit in Grossbuchstaben.

Walser statt Akte

Einem Zufall ist sie zu verdanken, Fischers Begegnung mit Walser. 1963 wars, an der damaligen Kunstgewerbeschule, als eine Kommilitonin Fischers nicht Aktzeichnen mochte und stattdessen der Klasse Bücher vorlas, die sie aus dem Brockenhaus mitbrachte. Einmal kam sie eben mit Robert Walser. «Seither tauchte er immer wieder auf», sagt Fischer. Zuletzt fertigte der Grafiker beispielsweise Schriftbilder auf Tüchern an, 1.6 mal 1.7 Meter gross, grün grundiert, mit Filzstiften hatte er Walser-Textstellen draufgeschrieben. Fischer weiss selber nicht genau, warum er sich immer wieder zu Walser hingezogen fühlt. «In den Büchern passiert ja nichts», sagt er, statt Handlungen sprächen ihn eher Wortschöpfungen oder Stimmungen an.

Aber diese Aufgabe war dann doch etwas anderes. Fischer hatte sie unterschätzt, er hatte mit weniger Aufwand gerechnet. Nicht für die Arbeit an sich, die Länge des abzuschreibenden Buchs war ihm ja bekannt. Doch er hatte die Reaktionen nicht einberechnet, die Zeit, die es zur Beantwortung von Fragen und für Gespräche aufzuwenden galt. «Ich war im Schaufenster», sagt er, «ausgestellt wie ein Affe im Zoo.» Manche Besucherinnen und Besucher fragten ihn über Walser aus, weil sie sich nicht zu den Akademikern des Walser-Zentrums hineingetrauten. Andere fragten ihn, warum er sich dieser Aufgabe verschrieben habe. Und manche sagten ihm auch direkt ins Gesicht, was er da mache, das sei doch komplett sinnlos. Ihnen pflichtete Fischer bei: «Ja, das ist völlig daneben, es steht komplett quer in der Landschaft.» Dann fügte er an: «Robert Walser stand auch daneben. Und Thomas Hirschhorn eigentlich auch. Also passe ich hier ganz gut dazu.»

Daraus hätten sich jeweils wertvolle Diskussionen ergeben, erzählt Fischer. Wenn er gefragt wurde, was er denn mit all diesen Blättern zu tun gedenke, antwortete er schlicht: «Ich lege sie auf ein Bigeli.»

Den Füdlibürgern zum Trotz

Ihren Ursprung nahm Fischers Arbeit mehr als ein Jahr vor der Robert-Walser-Sculpture. Als Fischer erfuhr, dass Thomas Hirschhorn die Plastikausstellung gestalten würde, beschloss er mit René Triponez, in dessen Atomic Café einen kleinen Satelliten einzurichten.

Die Sculpture wurde bekanntlich um ein Jahr verschoben, die Mini-Ausstellung fand gleichwohl statt, «trotz Täxelern, Frau Helbling und anderen Füdlibürgern», wie Fischer dazuschrieb. Über den Fotografen Enrique Muñoz García kam der Kontakt zu Hirschhorn zustande. Dieser sah sich Fischers Werke an, fand sie interessant und lud ihn zur Mitarbeit auf der Sculpture ein – machte aber deutlich, dass es dort nicht einfach um eine Ausstellung gehe, sondern dass dort etwas geschehen solle.

So kam Fischer auf die Idee, «Seeland» abzuschreiben, 100 Jahre nachdem der Schriftsteller das Original in seinem Dachkämmerchen über dem Hotel Blaukreuz am Zentralplatz geschrieben hatte.

Nun hatte Fischer sein Kämmerchen. Während 80 Tagen sass er darin und schrieb und schrieb und schrieb. «Mir ging es um die Aktion», sagt er, «getreu Hirschhorns Motto von ‹Presence and Production›.» Er wurde zum ruhenden Pol auf der Sculpture, egal, was anderswo passierte, Fischer sass vor seinen Blättern und setzte gelassen Buchstaben um Buchstaben aufs Blatt. «Ich bin selber innerlich ruhiger geworden», sagt er, «wenn mal eine Zeitlang niemand bei mir war, kam es mir vor wie Meditation.» Im Gegensatz zu anderen Mitwirkenden auf der Sculpture hat der pensionierte Grafiker keine Bezahlung von Hirschhorn angenommen – auch, um sich Unabhängigkeit bewahren zu können: «Wäre es zum Konflikt gekommen, hätte ich die Freiheit gehabt aufzuhören.»

Es war nicht nötig, davon Gebrauch zu machen. Im Gegenteil: «Die Zeit auf der Sculpture war ein wahnsinniges Erlebnis.» Die vielen Kontakte hätten ihn bereichert – nicht nur jene mit dem bekannten Kunstsammler Uli Sigg oder dem Schriftsteller Pedro Lenz, sondern auch jene mit dem «normalen» Publikum und insbesondere jene mit den anderen Anwesenden auf der Sculpture: «Ich habe meinen Sommer auf einer Insel verbracht», sagt er, «auf der Insel auf dem Bahnhofplatz.»

Jetzt braucht er eine Pause

Fertig geworden ist Fischer mit seiner Abschrift auf der Insel nicht. Es brauchte dann doch etwas Überwindung, diese ganz alleine weiterzuführen, 80 zusätzliche Stunden waren nötig, 40 Blätter waren noch zu füllen. «Wenn ich etwas anfange, mache ich es auch fertig», sagt Fischer von sich. Als er schliesslich letzte Woche den allerletzten Punkt setzte, atmete er auf. Er brauchte den Termindruck zur Ausstellung, um das Werk zu vollbringen.

Und nun hängen sie da, die beschriebenen Blätter, auf einer Länge von 150 Metern erstrecken sie sich durch die ganze Halle und wieder zurück. Fischer hatte sich gewünscht, sein Werk mal in ganzer Länge sehen zu können. Es dürfte das einzige Mal sein, dass die Abschrift von «Seeland» vollständig ausgestellt ist, denn die Blätter stehen einzeln zum Verkauf.

Was kommt als nächstes? Roland Fischer sagt: «Jetzt brauche ich erst mal eine Pause.» Und was passiert denn mit jenen Blättern, die nicht verkauft werden? «Die kommen zurück aufs Bigeli.»

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Ein nichtprogrammiertes Klassentreffen

In einer Ecke richtet sich der Esperanto-Sonderling Parzival ein, von der Ausschaffung bedrohte Migranten rücken Stühle herum, die Historikerin Margrit WickWerder hat neue Vorträge vorbereitet, die nun dank Grossleinwand besser zur Geltung kommen: Ab heute lebt in der Nidauer Dispo-Halle die Atmospähre der Robert-Walser-Sculpture noch einmal auf. Zahlreiche Beteiligte, die im Sommer auf dem Bahnhofplatz wirkten, tragen dazu bei. Kern des Anlasses ist die Ausstellung von Roland Fischers «Seeland»-Abschrift (vgl. Haupttext oben), daneben stellt unter anderen die Bibliothekarin Isabella Holstein ihre Fotos auf, zeigt der sogenannt «Randständige» Malick seine Bilder (er hat auf der Sculpture zu Malen begonnen und pflegt dies weiterhin), auch Theo Hofer, ein Nidauer Lehrer, ist durch die Sculpture zu künstlerischer Tätigkeit gekommen und stellt nun Werke aus. Ein Revival oder ein Nachspielen sei das nicht, sagt Beat Cattaruzza, Mitglied des Stiftungsrates der Plastikausstellung und Mitinitiator der Dispo. Vielmehr sei unter den Beteiligten das Bedürfnis aufgekommen, die Sculpture weiterleben zu lassen und in dieser Form zusammenzukommen. Die Dispo bietet dafür nur die Plattform, eine Programmstruktur gibt es wie auf der Sculpture keine, einzig WickWerders Referate sind terminiert. Thomas Hirschhorn ist nicht zugegen – er begrüsst die Initiative, hat mit dem «Klassentreffen» aber nichts zu tun. Vielmehr zeigt sich, dass die Sculpture weiterwirkt – die fünfte Phase des Werks, die Transformation, hat begonnen. «La promenade continue», würde Hirschhorn sagen. tg

Info: Heute bis Sonntag, jeweils 10 bis 22 Uhr, in der Dispo, Dr. Schneider-Str. 3, Nidau. Der Eintritt ist frei.

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Stiftung schafft die Punktlandung

Die 13. Schweizerische Plastikausstellung war ein Parforceritt. Das Engagement von Thomas Hirschhorn setzte den Stiftungsrat der SPA einer Zerreissprobe aus, und noch zu Beginn der Sculpture war nicht klar, ob das Geld für die volle Dauer reichen würde (das BT berichtete). Nun ist klar: Die Einnahmen sind beisammen, die SPA erreicht eine Punktlandung, laut Stiftungsratsmitglied Beat Cattaruzza zeichnet sich ein leichtes Plus ab. Damit kann die Stiftung, die laut Cattaruzza ihre Eigenreserven grossteils für die vorletzte Plastikausstellung im Jahr 2014 aufgebracht hatte, neu starten. Am Freitag trifft sich der Stiftungsrat, es sind Workshops geplant, an denen die Weichen für die Zukunft gestellt werden und an denen es auch um die Frage gehen wird, wie heute Kunst im öffentlichen Raum zu verstehen und ob der Begriff «Plastikausstellung» noch zeitgemäss sei. Gleichzeitig arbeitet Seraina Peer, Studentin der Kunstgeschichte an der Universität Bern, für ihre Masterarbeit die Geschichte der SPA auf. Etwas Verspätung hat das Buch über die Robert-Walser-Sculpture, es wird für März erwartet, ist dafür noch einmal 60 Seiten dicker geworden und nun nicht weniger als 860 Seiten schwer. tg

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