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«Das ist schon sehr hart gespielt»

Schweizer Hersteller von Medizinprodukten, die von der Schweizer Zulassungsstelle zertifiziert sind, dürfen nicht mehr in die EU exportieren. Das kommt überraschend, wie Bieler Experten sagen.

Die Ypsomed mit Produktion in Grenchen hat ihre Injektionssysteme bereits neu zugelassen. Bild: Keystone

Manuela Schnyder

Schweizer Hersteller von Medizinprodukten dürfen seit dem 26. Mai nicht mehr in den EU-Raum exportieren, wenn ihre Erzeugnisse nur von der Schweizer Zulassungsstelle SQS zertifiziert wurden. Davon betroffen sind in der Schweiz laut dem Branchenverband Swiss Medtech rund 60 Firmen, darunter beispielsweise auch die Bieler MPS Precimed: «Unser Partner und Bevollmächtigter, der im EU-Raum in rechtlichen Belangen unsere Produkte verantwortet, teilte mir mit, dass er einen grossen Teil des Sortiments nicht mehr importieren dürfe», sagte Firmenchef Rudolf Eggen gegenüber der «NZZ am Sonntag». Konkret bricht dem Unternehmen mit 45 Angestellten damit ein Drittel des Geschäfts weg, also mehrere Millionen Franken.

Allerdings hat die EU schon länger angedroht, die Schweiz bei Abbruch der Verhandlungen um ein Rahmenabkommen auf Drittlandstatus zu degradieren, wenn neue Richtlinien in Kraft treten. Und das ist nun in der Medtechbranche passiert. Rein rechtlich bedeutet das, dass eben auch die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen nicht mehr gilt. So hätte man diese Reaktion der EU eigentlich antizipieren können: «Davon haben die EU-Vertreter nie gesprochen, es ging lediglich um die Ernennung eines Bevollmächtigten in der EU und das neue Labeling für die Verpackungen. Dass den Schweizer Firmen, die ihre Produkte bei SQS zertifiziert haben, zudem keine Übergangsfrist gewährt wird, das ist schon sehr hart gespielt», sagt dazu Hansjörg Riedwyl vom Bieler Dienstleister ISSAG.

Alte Zertifikate laufen aus
Wegen verschiedener Vorfälle wie dem Skandal um fehlerhafte Brustimplantate wurde von der Europäischen Union eine neue Medizinprodukterichtlinie verabschiedet (MDR: Medical Device Regulation). Die neuen Auflagen sollen Medizinprodukte sicherer machen und gelten seit dem 26. Mai – und zwar nicht nur für neue, auch bereits eingeführte Produkte müssen bis Ende 2024 neu zertifiziert werden. Die Schweiz setzt die neue Richtlinie ebenfalls um. Normalerweise werden die neuen Bestimmungen in das Abkommen mit der EU über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen aufgenommen.

Wegen der gescheiterten Verhandlungen um das Rahmenabkommen wird dieses Abkommen von der EU aber nicht mehr aufdatiert. «Die EU verweigert derzeit aber nicht nur die Aktualisierung des Abkommens, sondern erklärt auch altes Recht für ungültig», sagt nun Anita Holler vom Branchenverband Swiss Medtech. So müssten die bereits eingeführten Produkte mit der alten Zertifizierung (MDD: Medical-Device-Directive) während der Übergangsfrist weiterhin vom Abkommen profitieren können – unter anderem davon, dass die Prüfzertifikate von beiden Parteien anerkannt werden.

Und davon sind auch viele Unternehmen ausgegangen, auch wenn einige ihre Zertifizierungen bereits in der EU erneuert haben. Bereits umgestellt hat beispielsweise die Ypsomed. Die Herstellerin von Infusions- und Injektionssystemen, die ihren Sitz in Burgdorf hat, aber auch in Grenchen produziert, nimmt die betroffenen Unternehmen in Schutz:«Dass die EU so schnell und konsequent handelt, ist nur schon angesichts der Tatsache, dass die Branche einen wichtigen Versorgungsbeitrag für Menschen mit gesundheitlichen Problemen leistet, sehr speziell», sagt Mediensprecher Thomas Kutt. Und schon deshalb komme dieser Schritt für einige überraschend. «Die Vorgehensweise der Europäischen Kommission ist nicht zuletzt auch ethisch bedenklich.»

Lange Wartezeiten in der EU
Die Ypsomed selber hatte bereits vor drei Jahren begonnen, ihre Produkte in der EU neu zertifizieren zu lassen:«Wir haben eine Risikoeinschätzung vorgenommen und wollten uns auf alle Eventualitäten vorbereiten», sagt Kutt. So sind die relevanten Erzeugnisse der Ypsomed mittlerweile in der EU zertifiziert: «Man muss aber auch sagen, dass wir mit rund 100 Produkten den finanziellen und administrativen Aufwand vergleichsweise gut stemmen konnten.» Für kleinere Unternehmen ist laut Kutt die Hemmschwelle höher. Gemäss dem Branchenverband sind gut 10 Prozent der Herstellerfirmen vom plötzlichen Einfuhrstopp in die EU betroffen. Das entspricht etwa 10 Prozent aller Schweizer Medizinprodukte, die in den EU-Raum exportiert werden. Aber auch die Schweizer Zulassungsstelle SQS ist vom Entscheid überrascht, wie sie gegenüber der «NZZ am Sonntag» erklärt. Sie hat ausserdem das aufwendige Audit der EU durchlaufen, um nach den neuen MDR-Richtlinien zu prüfen, und sich dafür auch qualifiziert. Und das scheint nicht selbstverständlich: In der EU sind bislang nur etwa 20 von rund 60 Zulassungsstellen befugt, die Zertifizierung nach den neuen Richtlinien auszustellen.

«Die Ressourcen der Zulassungsstellen in der EU sind deshalb sehr beschränkt», sagt Daniel Delfosse, Verantwortlicher Regulatory Affairs bei Swiss Medtech. Demnach müssen die sogenannten «Notified Bodies» in der EU schon nur aufgrund der neuen Richtlinie in knapp vier Jahren rund 22000 neue Zertifikate ausstellen, wobei jedes Zertifikat etwa 15 zu prüfende Produkte enthält. Auch Schweizer Firmen müssen sich daher hinten anstellen: «Wer nicht bereits im Prozess ist, muss nun sicher mehrere Jahre warten», bestätigt Thomas Kutt.

Gespräche laufen weiter
Die EU-Kommission begründet  ihr Vorgehen mit gescheiterten Gesprächen um eine Übergangslösung:Sie habe am 30. März 2021 eine begrenzte Änderung des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung (MRA: Mutual Recognition Agreements) vorgeschlagen, damit für bestehende schweizerische Konformitätsbescheinigungen ein Übergangszeitraum bis zum 26. Mai 2024 eingeräumt werde, schreibt sie in einer Mitteilung Ende Mai. Bis zu einer potenziellen Einigung darüber würden die Handelserleichterungen für Medizinprodukte nicht mehr gelten.

Zu einer Einigung ist es offensichtlich nicht gekommen. Gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sind die Gespräche aber weiterhin am Laufen. Dabei vertritt die Schweiz die Position, dass die altzertifizierten Produkte vom bestehenden Abkommen weiterhin abgedeckt sind, wie Mediensprecher Fabian Maienfisch sagt. Diese Produkte sollten demnach weiterhin von den Erleichterungen des Abkommens profitieren.

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