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Fehltage

«Die Belastungsgrenze ist erreicht»

Neun Tage fehlen Schweizer Arbeitnehmer im Durchschnitt pro Jahr am Arbeitsplatz. Beat Rüfli, Direktor des Bieler Bizfit, das sich auf Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz spezialisiert hat, erklärt, was Unternehmer dagegen tun können.

Beat Rüfli: «Ein grosses Thema ist das ‹Bossing› geworden.» zvg

Interview: Lotti Teuscher

Laut einer Seco-Umfrage sind 87 Prozent aller Erwerbstätigen in der Schweiz zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz. Im EU-Durchschnitt sind es nur 78 Prozent. Wie erklären Sie das?

Beat Rüfli: Uns Schweizern geht es immer noch gut im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn. Wir haben gut geführte Unternehmen, sind sozial gut abgesichert, die Mitarbeiter sind somit innerhalb guter Strukturen tätig. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade die Deutschen gerne in der Schweiz arbeiten (lacht).

Dennoch fehlen die Arbeitnehmer, hochgerechnet auf 100 Prozent, pro Jahr im Schnitt 76 Stunden, respektive ganze neun Arbeitstage. Wie erklärt sich dieses Paradox?

Dies ist ein sehr hoher Wert; und in vielen kleinen Betrieben werden Kurzzeitabsenzen unter drei Tage ohne Arztzeugnis oft nicht erfasst. Hinzu kommt, dass die Absenzen in der Romandie doppelt so hoch sind wie in der Deutschschweiz.

Weil die Westschweizer wehleidiger sind?

Sie haben eine andere Kultur. Tatsache ist, dass die Fehlzeiten die Unternehmen sehr viel Geld kosten. Doppelt so hoch sind zudem die indirekten Kosten für die Unternehmen wie Produktions- und Qualitätsverluste oder Arbeitsüberlastung der Stellvertreter.

Durch die vielen Krankheitstage entstehen Kosten in Milliardenhöhe. Was kann der einzelne Unternehmer tun, um diese Kosten zu senken?

Wichtig ist, das Problem überhaupt zu erkennen. Dass zum Beispiel nicht nur die Personalverantwortlichen Bescheid wissen, sondern auch die Unternehmensführung und das Kader. Als Nächstes sollte analysiert werden, wer, welche Abteilung und wann die Krankheitstage generiert wurden, und auch aus welchen Gründen. Danach kann überlegt werden, wie die Krankheitstage reduziert werden können. Betroffene Mitarbeiter sollten auf die Absenzen angesprochen werden. Dabei stellt sich die Frage: Hat ein Mitarbeiter eine Krankheit, leidet er unter dem Druck oder ist er psychisch belastet? Möglicherweise hat er zuhause Probleme. Deshalb muss die Situation der Mitarbeitenden immer ganzheitlich und individuell angeschaut werden. Danach stellen sich die Fragen: Wie kann man den Mitarbeiter unterstützen und begleiten, um ihn zu stärken?

Und wenn es der Chef selber ist, der für die Absenzen mitverantwortlich ist?

Auch die Mitarbeiterführung ist ein grosses Thema. Denn Nichtführung oder nicht angepasste Führung kann krank machen.

Ist es richtig, dass Berufstätige, die körperlich arbeiten, eher physisch krank werden und Personen in Dienstleistungsbetrieben unter psychischen Krankheiten leiden?

Diese Sicht ist zu simpel. Wenn zum Beispiel ein Arbeiter vom Gabelstapler fällt und sich ein Bein bricht, ist dies einfacher zu diagnostizieren als der psychische und mentale Stressprozess mit Krankheitsfolgen, der nicht auf den ersten Blick sichtbar wird. Tatsächlich leiden Personen, die im Dienstleistungssektor tätig sind, eher unter psychischen Problemen.

Und der Maurer hat eher einen Rückenschaden?

Das stimmt. Aber oft kumuliert sich das Leiden. Wer einen Rückenschaden hat, nicht mehr arbeiten kann, sich als wertlos empfindet und sich verändern muss, gerät auch unter Druck und psychische Probleme können folgen.

Dass Berufsleute unter Stress, Burnout oder Mobbing leiden, wird im Moment diskutiert. Ist das zum Modethema geworden oder sind diese psychischen Belastungen ein Trend?

Es ist keine Modeerscheinung. Innerhalb von zehn Jahren ist laut einer Seco-Studie die Zahl der Personen, die sich am Arbeitsplatz gestresst fühlen, um 30 Prozent gestiegen. Man ist 24 Stunden erreichbar, möglicherweise auch noch in den Ferien. Die Welt und die Unternehmen sind immer öfters zu hoch «getaktet», das heisst zu viel und zu schnell. Die Führung steht unter einem Dauerdruck, und wir selber setzen uns unter Druck, sogar in der «freien Zeit». Gleichzeitig ist jeder sich selber der nächste und gibt den Druck unter Umständen als Stressor für andere weiter. Ein grosses Thema ist das «Bossing» geworden…

… der Boss, der seine Mitarbeiter schikaniert?

Richtig. Der Chef mobbt gegen unten. Mobbing wird oft durch Druck ausgelöst. Die Mitarbeiter fühlen sich gestresst, was letztendlich und auf Dauer zu Depressionen führen kann.

Um gesund zu bleiben, müssen Arbeitnehmer auch einen Sinn in ihrer Arbeit sehen. Wann empfindet eine Person ihre Arbeit nicht mehr als sinnvoll?

Dies ist eine schwierige Frage, weil dies sehr individuell ist. Wichtig ist, dass ein Mitarbeiter, egal ob Putzfrau, Lehrling oder Kader, einen Verantwortungsspielraum für seine Aufgaben erhält, Richtlinien, und sich gleichzeitig entfalten kann. Dass die Person Handlungsspielraum hat und Kompetenzen. Dies ist auf allen Stufen möglich. Hinzu kommt die Kommunikation in Form von Feedbacks, wichtig ist, dass die Vorgesetzten hinschauen und hinhören. Wenn diese Punkte stimmen, der Mitarbeiter spürt, dass seine Arbeit erkannt und wertgeschätzt wird, empfindet er diese als sinnvoll. Lässt man eine Person hingegen ins Leere laufen, wird es gefährlich.

Mittlere oder grosse Unternehmen können sich externe Gesundheitsberater leisten, was wichtig ist wegen der Betriebsblindheit. Für Drei- oder Fünfmannbetriebe wäre dies hingegen zu teuer.

Ein externer Berater ist nicht zu teuer und gerade für kleine Unternehmen wichtig. Denn wenn in einem Fünfmannbetrieb eine Person krank wird, fehlt ein Fünftel der Belegschaft. Wichtig ist, dass der Geschäftsführer als Vorbild vorangeht. Wenn wir von Gesundheit sprechen, geht es nicht einfach darum, sich gesund zu ernähren oder genügend zu bewegen: Es muss auch die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass sich eine gesundheitsförderliche Kultur entwickeln kann. Viele kleine Unternehmen machen diesbezüglich vieles richtig, denn sie kennen ihre Leute.

Was sind die häufigsten Fehler, die in Bezug auf die Gesundheit der Belegschaft gemacht werden?

Einer der grössten Fehler ist leider, dass Gesundheit erst dann ein Thema wird, wenn jemand erkrankt. Der zweite Fehler ist, dass der Chef sagt, die Mitarbeiter seien allein verantwortlich für ihre Gesundheit. Denn der Betrieb muss Verhältnisse schaffen, die es den Mitarbeitern ermöglichen, auf ihre Gesundheit zu achten. Denn beide, sowohl der Chef als auch die Mitarbeiter, sind in gegenseitiger Absprache dafür verantwortlich.

Seit rund 15 Jahren ist zunehmender Stress am Arbeitsplatz ein Dauerthema. Wird die Belastung auch in Zukunft noch steigen?

Das ist die grosse Frage: Wie weit können wir noch gehen? Ich glaube, dass rein menschlich die Belastungsgrenze bezüglich reorganisieren und mit weniger Mitarbeitern noch mehr zu machen an die Grenze gestossen ist. Dies zeigen auch die zunehmenden Krankheitskosten und Fehlzeiten in den Unternehmen. Denn wir sind keine Motoren, wir sind Menschen mit Gefühlen. Aber auch die Krankenkassen und die Sozialversicherungen kommen finanziell an ihre Grenzen. Eine Grenze ist ebenfalls bezüglich Nachhaltigkeit erreicht. In zehn Jahren werden uns die Fachkräfte fehlen, deshalb dürfen wir unsere Ressourcen nicht weiter verschwenden. Deshalb: Besser in die Gesundheit investieren, als für die Krankheit zu bezahlen.

 

Horrende Kosten

Allein die psychischen Erkrankungen kosten die Schweizer Wirtschaft laut einem OEC-Bericht rund 19 Milliarden Franken pro Jahr . Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der psychischen Erkrankungen verdoppelt. Fast jeder Fünfte leidet laut Seco-Statistik an Stress am Arbeitsplatz. Nicht eingerechnet in der Summe von 19 Milliarden sind die Kosten für die Krankenkassen sowie die Kosten für körperliche Erkrankungen und Erkrankungen, die nicht länger als drei Tage dauern. Neben Stress, Erschöpfungsdepressionen und Mobbing leiden Schweizer auch an HerzKreislauf-Problemen , Übergewicht und Schmerzen am Bewegungsapparat.

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