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Coronakrise

Die Überlebenshilfe
 wird zum Bürokratiemonster

Wer Härtefallgelder von Bund und Kanton erhalten will, kann die Gesuche zwar grösstenteils online einreichen. Einfach wird es deshalb aber nicht.

Susanne K. ist Inhaberin eines kleinen Reisebüros. Die Bürokratie rund um die Wirtschaftshilfen macht ihr zu schaffen. 


Eva Novak

Wochenende um Wochenende habe sie damit verbracht, Belege zusammenzustellen, in das richtige Format zu bringen und hochzuladen, sagt Susanne K. (Name der Redaktion bekannt). Die Inhaberin eines Kleinstreisebüros im Kanton Thurgau, in dem sie neben sich nur eine Angestellte beschäftigt, sah reelle Chancen, als Härtefall von Bund und Kanton A-fonds-perdu-Beiträge an Miete und sonstige Fixkosten zu erhalten.

Schliesslich anerkennt die AHV-Zweigstelle problemlos, dass ihr Geschäft wegen Corona einen Umsatzrückgang um rund 70 Prozent erlitt, und richtet ihr Erwerbsersatz aus. Sie sei berechtigt, Härtefallhilfe zu beantragen, wurde ihr vom Amt in Frauenfeld bestätigt, nachdem sie sich auf der Onlineplattform des Kantons angemeldet hatte und einen personalisierten Link zugewiesen bekam.

Kaum eingeloggt, zeigte sich beim Durchklicken Hürde um Hürde. Dokumente wie der definitive Abschluss des letzten Jahres lagen noch nicht vor. Andere waren zu gross, um hochgeladen zu werden. Susanne K. machte sich kundig, wie sie Datenmengen reduzieren kann, und lud fleissig hoch: «Allein diese Versuche haben mich mindestens zwanzig Stunden gekostet.»

Als das geschafft war, die Formulare ausgefüllt und die Dokumente beim Amt, kam der Bescheid: Ihr Umsatz sei gemäss den eingereichten Unterlagen nicht um die 40 Prozent zurückgegangen, welche Unternehmen mindestens nachweisen müssen, um einen Beitrag zu erhalten. Also gebe es nichts.

«Sie haben wohl meine Buchhaltung nicht richtig lesen können und Einnahmen verbucht, die keine waren», vermutet die Reisefachfrau. Sie will einen neuen Anlauf nehmen, die Zahlen aus dem laufenden Jahr addieren, einen neuen Geschäftsabschluss per Ende März erstellen. Und weiter auf Hilfe hoffen.

Wie ihr geht es vielen. Ihren Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen, weil sie hoffen, den bürokratischen Hürdenlauf doch noch zu schaffen – und nicht daran scheitern wollen, dass sie sich beklagen.

 

Treuhänder als Hoffnung

Andere haben die Hoffnung aufgegeben. Wie der Inhaber einer kleinen Druckerei aus dem Berner Jura, der sich nicht zutraute, das Gesuch selber auszufüllen, und stattdessen sein letztes Bargeld investierte, um einen Treuhänder mit der Erledigung des Formularkriegs zu beauftragen. Der Treuhänder reichte aber nicht alle Unterlagen ein, das Gesuch wurde abgelehnt. Der Drucker ist am Boden zerstört – und pleite. Er hatte nicht einmal mehr genug Geld, um seinem Sohn ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.

Die Berner Grünen-Nationalrätin Regula Rytz kennt viele solche Fälle. Sie hat sich bei der Beratung der Härtefallregelung im Parlament für die Kleinunternehmer eingesetzt – und muss jetzt feststellen, dass mehrere Kantone aus der Überlebenshilfe ein «Bürokratiemonster» gemacht haben, wie sie es nennt.

Denn es sind die Kantone, die für die Zuteilung der Beiträge, Darlehen und Bürgschaften zuständig sind, welche der Bund den Unternehmen als schnelle und unbürokratische Hilfe versprochen hat. Doch unter «schnell» und «unbürokratisch» versteht jeder Kanton etwas anderes. «Einige schaffen es tatsächlich ohne absurde Formularflut», sagt Rytz.

Für die Betroffenen sei das gar nicht hoch genug einzuschätzen. Etwa für den Wirt, der kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand und plötzlich wieder eine Perspektive bekommt. Gute Noten bekommen das Wallis und der Kanton Freiburg, der Treuhandbüros mit der Prüfung der Gesuche beauftragt hat.

 

«Kantonaler Wildwuchs»

Ebenso das Tessin, wo allerdings eine Anzahlung von bis zu 2500 Franken geleistet werden muss, damit das Dossier überhaupt bearbeitet wird. Das Geld gibt es nur zurück, wenn man tatsächlich eine Unterstützung bekommt. Wer einen Umsatzrückgang von nur 39 statt der verlangten 40 Prozent nachweisen kann, hat Pech gehabt. Zum «kantonalen Wildwuchs», wie es SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer nennt, kommen branchenspezifische Unterschiede: Firmen, deren Geschäftstätigkeit behördlich verboten wurde, kommen in der Regel einfacher an Hilfsgelder als solche, die weiterarbeiten konnten, deren Dienstleistungen aber kaum mehr gefragt waren.

Die Praxis ändert ständig, die Übersicht zu behalten, ist auch für die Beamten in den Kantonen schwer. «Deshalb engagieren wir uns seit Beginn dafür, dass Massnahmen schweizweit einheitlich und vor allem auch langfristig gelten. Dieses Hin und Her ist ein unnötiger Kräfteverschleiss für alle Beteiligten», sagt Meyer.

«Gerade bei kleinen und Kleinstbetrieben ist die bürokratische Belastung ein grundlegendes Problem», sagt Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler, und führt aus: «Jede Stunde, die nicht ins Kerngeschäft investiert werden kann, wiegt schwer.» Wobei es nicht nur die ganz Kleinen trifft, wie Jared Koch weiss. Er ist Finanz- und Administrativchef der Divina Food AG im zürcherischen Dietikon, mit 60 Angestellten führende Lieferantin von Lebensmitteln für die italienische Gastronomie in der Schweiz. Tagelang hat Koch Dokument um Dokument beschafft und hochgeladen: Personalausweise samt Unterschriften, Kassenbücher, Betreibungsregisterauszüge, Bankauszüge, Steuererklärungen, Revisionsberichte, AHV-Schlussabrechnungen, Kontoauszüge der Pensionskasse, Mehrwertsteuerabrechnungen, monatliche Finanzplanungen und Abschlussvergleiche der letzten zwei Jahre. Gegen 100 Seiten, alles in allem.

 

«Für uns ein Hohn»

’Dem Kanton Zürich reichte das nicht, zweimal forderte er zusätzliche Angaben nach. Auch solche, die sich der Finanzchef mangels Planungsgrundlage aus den Fingern saugen musste: Wie sollte er eine Finanzplanung liefern, wo er doch nicht den kleinsten Hinweis bekam, wann und wie die Pizzerias und Ristoranti wieder öffnen dürfen? «Bis ich das hatte, brauchte es ein paar Stunden», so Koch.

Dank seiner Grösse rechnet sich Divina Food bessere Chancen aus als Susanne K.s Minireisebüro, an Härtefallgelder zu gelangen. Weil die Firma einen Fachmann für administrative Fragen beschäftigt, konnte sie ein professionelleres Gesuch stellen. Ein schales Gefühl bleibt: Der Kanton nehme sich jeweils Wochen Zeit, um Fragen zu beantworten, stellt der Finanzchef befremdet fest, um beizufügen: «Derjenige aber, der in Not ist, bekommt nur fünf Tage Zeit, um Formulare nachzuliefern – sonst verfällt sein Gesuch. Für uns ist das ein Hohn.»

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