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Eine Zugfahrt mit dem Bähnler

Der neue Chef Vincent Ducrot hat in einem Jahr die Kultur des Unternehmens verändert, indem er sich als Gegenteil
von Vorgänger Andreas Meyer gab: sehr nahbar. Menschlich greifbar macht den Mann auch ein trauriges Ereignis.

Vincent Ducrot vor dem Roten Pfeil in Zürich: Seit er Chef der SBB ist, sind seine Angestellten motivierter. Bild: Raphael Moser

Christian Zürcher

Als Vincent Ducrot vor einem Jahr SBB-Chef wurde, hiess es oft: Er ist ein Bähnler. Ist der 58-Jährige eine gute Wahl? Er ist ein Bähnler. Kann er das? Er ist ein Bähnler. Kommt er bei den Angestellten an? Eben, ein Bähnler.

Bern, kurz vor Mittag, ein älterer Mann geht leicht gebückt das Perron entlang, auf dem Rücken einen grossen orangen Rucksack. Es ist Vincent Ducrot, der SBB-Chef. Tatsächlich, der Mann sieht aus wie ein gewöhnlicher Bähnler.

Damals, vor einem Jahr, war Ducrot noch Chef der Freiburger Verkehrsbetriebe – und die SBB steckten seit geraumer Zeit in einer schwierigen Situation. Lokführer fehlten, Züge fielen aus, es kam zu tragischen Unfällen. An der Spitze war mit Andreas Meyer ein CEO (und kein Bähnler), der mehr als eine Million verdiente und den Zugang zum Volk nicht mehr fand. Die SBB, Stolz einer ganzen Nation, hatten ein Rufproblem. Nicht nur gegen aussen, sondern auch gegen innen. Das Vertrauen in die Spitze war erschüttert, Mitarbeiterumfragen verkamen regelmässig zur schmerzhaften Übung für die Geschäftsleitung.

Dann kam Ducrot, der Bähnler. Und alles wurde besser. In der jüngsten Mitarbeiterbefragung gingen praktisch alle Werte nach oben. Die Angestellten waren plötzlich zufriedener und motivierter. Und vor allem: Das Vertrauen in die Führung wuchs stark an. Ducrot hat in einem Jahr offenbar die Unternehmenskultur verändert. Wie macht man das? Reicht es, den Ruf eines Bähnlers zu haben? Oder einfach nicht Meyer zu heissen?

Ducrot reist von Bern nach Zürich für eine interne Sicherheitskampagne, darum der grosse orange Rucksack. Er steigt in den IC1, einen Dosto, 400 Meter lang, eine weitere Peinlichkeit aus der jüngeren SBB-Geschichte. Bei der Einführung des Zuges rüttelte er so stark, dass die Kondukteure die Passagiere regelmässig in die untere Etage schickten – weil es ihnen sonst schlecht wurde. An diesem Tag bezwingt der Dosto seinen Ruf, pünktliche Ankunft und Abfahrt, keine Störung, Ducrot ist zufrieden, aber auch überrascht, wie viele Leute mit ihm reisen, der Zug ist voll. «Wegen Corona sind alle Muster weg, es ist schwierig vorherzusagen, wann ein Zug voll oder leer ist.»

 

«Ich weiss, wie man kuppelt»

Der Freiburger hat im vergangenen Jahr auf ganz Grundsätzliches gesetzt. Menschen von A nach B bringen, möglichst pünktlich, sicher und günstig. Sein Vorgänger Meyer arbeitete auf anderen Ebenen, er sprach von ferngesteuerten Zügen, von fliegenden Taxis – und verlor unter sich die Bähnler, die noch immer jeden Tag mit ganz normalen Zügen von einem Bahnhof zum nächsten fuhren.

Ducrot hat dieses Auseinanderdriften erkannt. Er beobachtete mit dem Wachsen der vier Divisionen des Unternehmens (Personenverkehr, Güterverkehr, Infrastruktur, Immobilien) ein Entfremden in der eigenen Firma. Es gab nicht mehr die einen SBB, sondern Varianten davon.

Darum verabredet er sich jede Woche zu Internet-Calls mit ganzen Abteilungen. Zugbegleiter, Lokführer, Fahrleitungsmonteure. Mit Tausenden SBB-Angestellten hat er sich bereits ausgetauscht. Kürzlich sprach er mit 50 Rangierern über ihre alltäglichen Probleme. Handhabung der Sicherheitskleider, die Automatisation des Rangierens oder profan: Wie kuppelt man?

Herr Ducrot, wissen Sie, wie man kuppelt? «Natürlich. Ich weiss haargenau, wie man kuppelt.» Wie? Ducrot sitzt in der ersten Klasse des Dosto und zeigt mit den Händen in wilden Bewegungen vor, wie man mit den Schläuchen umgehen muss. Man glaubt es ihm – der Mann kann kuppeln.

Ducrot ist ein guter Verkäufer der Bundesbahnen. Der gelernte Elektroingenieur funktioniert so, wie er angekündigt wurde. Geerdet, authentisch, im Grunde sympathisch. Ein Bähnler. Kein CEO, sondern ein Direktor. Der Mensch stehe bei ihm im Vordergrund, beschreiben Wegbegleiter, selbst wenn es hart auf hart komme, bleibe Ducrot gelassen. Es gebe ja Schlimmeres. Ducrot weiss das aus eigener Erfahrung. Im Gespräch über ihn landet man irgendwann immer bei einer traurigen Geschichte aus dem Leben des Freiburgers.

Ducrot hat sechs Kinder, und er ist Witwer. Seine Frau ist vor vier Jahren nach schwerer Krankheit gestorben. «Es war hart, für uns alle, doch nun haben wir uns gut organisiert», sagt er. Die beiden Söhne (13 und 15) leben unter der Woche mit Ducrot in Freiburg, die vier älteren Mädchen im Familienhaus auf dem Land. Am Wochenende sind alle unter einem Dach.

Wenn Ducrot morgens um fünf aufsteht und um Viertel vor sechs seine Freiburger Wohnung verlässt, schlafen seine beiden Söhne noch. Sie stehen selbst auf, schicken sich selbst zur Schule, kochen und putzen selbst, bringen sich selbst zu Bett. «Wir haben keine Nanny oder Putzfrau, wir Männer machen das selbst», sagt Ducrot. Der einstige Pfadfinder und Samariter erzählt, wie er seine Kinder zu selbstständigen Menschen erzieht. So wie er es selbst erlebt hat, so wie er es von seinen Mitarbeitenden erwartet.

«Dieser Mann hat einiges durchgemacht. Wie er das handhabt, das ist sehr beeindruckend», sagt Norbert Schmassmann, Chef der Verkehrsbetriebe Luzern, mit Ducrot im Verband des öffentlichen Verkehrs. «Diese Geschichte macht ihn menschlich greifbar.» In Schmassmanns Worten schwingt Bewunderung mit. Er erzählt, wie Ducrot einen unsichtbaren Draht zu vermeintlich verbitterten Gegnern wie den Gewerkschaften habe, wie er gerade bei diesen schwierigen Gesprächen mehr Marge zu haben scheine. Als Ducrots Frau starb, schaltete selbst die lokale Gewerkschaft eine Traueranzeige. Das war aussergewöhnlich.

 

Weniger Lohn für Ducrot

Der nette Herr Ducrot von den SBB also, bei allen beliebt und geschätzt. «O nein, nein», entfährt es Giorgio Tuti, Präsident der Eisenbahngewerkschaft SEV. «Der Mann ist nicht etwa pflütterweich, der ist pickelhart.» Doch man könne ihm Sachen erklären, und er gehe darauf ein. Als es darum ging, wegen Corona Gelder einzusparen, zeigte Ducrot Härte und Empathie zugleich. Man einigte sich darauf, dass die Lohnerhöhungen der Belegschaft in diesem Jahr tiefer ausfallen, im Gegenzug kassiert Ducrot weniger Lohn (rund 50 000 Franken), und er lässt den GAV in den nächsten vier Jahren in Ruhe. «Ducrot hat es verstanden: In der Krise braucht es Stabilität», sagt Gewerkschafter Tuti.

Wer so viel Wert auf das Funktionieren des Alltäglichen legt wie Ducrot, läuft Gefahr, die Zukunft aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich hat der CEO der Schweiz noch nicht erzählt, wie er die Zukunft der Bahn sieht. «Ich bin in Phase eins: Die Bahn im Griff haben.» Ebenfalls sehr wichtig: die strategische Ausrichtung. «Da sind wir intensiv dran. Aber ich muss nicht Ihnen meine Vision sagen, sondern diesen Leuten.» Ducrot zeigt über seine Schultern. Hinter ihm im Dosto sitzen die Nationalräte Balthasar Glättli und Andreas Glarner, Greta Gysin und Gregor Rutz. Man grüsst sich höflich beim Einsteigen, man kennt sich. In den vergangenen Wochen sass Ducrot immer wieder in verschiedenen Kommissionen, die Politikerinnen und Politiker sind seine Chefs, er muss ihnen Rede und Antwort stehen, zuletzt wegen des finanziellen Lochs aufgrund von Corona.

In Ducrots Vision steht die Bahn im Zentrum, der Hauptkonkurrent ist das Auto, noch immer. Selbstfahrende Züge interessieren ihn nicht, schon gar nicht Flugtaxis. «Wir sind eine Eisenbahn.» Bis 2040 ist mit 50 Prozent mehr Kunden zu rechnen, darauf will Ducrot die SBB vorbereiten. Dazu den Taktfahrplan reduzieren und flexiblere Verbindungen für Freizeitreisende einrichten (eine Wachstumsmöglichkeit), zum Beispiel einen direkten Zug von Zürich ins Berner Oberland am Wochenende.

 

Eine Übergangslösung

Und da wäre noch die eher unvorteilhafte Altersstruktur der SBB. Bald werden die geburtenstarken Jahrgänge pensioniert, bis 2035 müssen die SBB 40 Prozent des Personals ersetzen, darunter viele Bahnjobs, sehr spezialisiert, wegen Schichtarbeit nicht wahnsinnig attraktiv. Bedarf gibt es auch bei den Frauen. Bloss 17 Prozent der Belegschaft sind weiblich.

Die wahren Aufgaben kommen also erst noch. Ducrot ist 58, in der Branche gilt er wegen der nahenden Pensionierung als Übergangslösung. Bevor ihn die Zeit beiseiteschiebt, muss er die SBB zum tollen Arbeitgeber trimmen.

Der Dosto ist in Zürich angekommen. Ducrot muss weiter, die Sicherheitskampagne wartet. Diese findet im «Churchill» statt, dem Roten Pfeil, eine Legende auf Schiene und Liebhaberobjekt von Bähnlern. Menschen machen im Zürcher Hauptbahnhof mit ihren Handys Fotos, schwärmen von den schönen Formen. Die SBB sind heute ein Milliardenunternehmen mit auf Gleisen fahrenden Rechenzentren. Am emotionalsten punkten sie aber noch immer mit 80-jährigem Rollmaterial, mit Zügen, bei denen man die Fenster öffnen kann. Es ist die Aufgabe von Ducrot und seinen Nachfolgern: Den Glanz von früher in die Zukunft bringen, damit die Menschen irgendwann Fotos vom Dosto machen.

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