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Ueli Mäder

«Es gibt Anzeichen, dass der Trend zum Pendeln kehrt»

Die Zahl der Berufspendler steigt stetig. Im Kanton Bern reisen gut 107 000 Personen auch über die Kantonsgrenze hin und her. Dies, sagt der Basler Soziologe Ueli Mäder, könne auch entspannend sein.

Ueli Mäder: «Pendeln alleine macht nicht krank, es spielen weitere Faktoren mit.» Keystone

Interview: Lotti Teuscher

Herr Mäder, seit ein paar Monaten pendle ich jeden Arbeitstag 80 Minuten und geniesse das. Bin ich eine Ausnahme?

Ueli Mäder: Nein, auch ich pendelte vier Jahre lang von Basel nach Freiburg und empfand dies als angenehm. Am Morgen las ich im Zug die Masterarbeit, auf der Heimreise belohnte ich mich mit einem schönen Buch. Dies war erholsam. Derzeit pendle ich weniger lang, die Zeit reicht nur noch, um eine Zeitung zu lesen.

Unter welchen Voraussetzungen ist Pendeln angenehm?

Wenn pendeln zu Distanz verhilft. Zum Beispiel von einem umtriebigen Arbeitsplatz zu einem Zuhause, das auf eine andere Art umtriebig ist: Pendeln hilft, das eine nicht mit dem anderen zu vermischen. Wichtig ist aber, dass ein Pendler, der seine Zeitung aufschlägt, nicht bei seinem Sitznachbar anstösst.

Also, dass der Zug nicht überfüllt ist.

Es braucht genügend Raum, der zu gewissen Zeiten nicht gegeben ist. Dies ist ein anderes Pendeln, als wenn ich die Beine ausstrecken kann.

Schweizer pendeln pro Tag im Durchschnitt eine Stunde. Ist das eher eine Last oder eine Lust?

Das subjektive Empfinden hängt stark davon ab, ob ich das Pendeln gewöhnt bin und ob ich mich in einem Umfeld bewege, zu dem das Pendeln gehört. Und es hängt entscheidend davon ab, von wo nach wo ich pendle.

Inwiefern?

Bewege ich mich zwischen zwei Orten, an denen mir wohl ist, oder ist es mir zumindest an einem dieser Orte wohl? Freue ich mich, anzukommen, oder sind beide Orte durch Stresssituationen belastet? Dann ist das Pendeln viel unangenehmer. Ich habe den Eindruck, dass Pendeln vor zehn Jahren positiver besetzt war als heute.

Wieso?

Damals kam man sich fast ein wenig komisch vor, wenn man in Basel wohnte und arbeitete und nicht mindestens bis nach Zürich pendelte. Dies hat sich geändert. Denn Pendeln ist nicht nur mit Zeit, sondern auch mit Kosten verbunden. Jetzt wird diskutiert, ob Pendlerkosten künftig von den Steuern abgezogen werden dürfen. Auch dies verändert das subjektive Empfinden.

Heute pendeln die Arbeitnehmer im Durchschnitt 14 Minuten länger als im Jahr 2000. Zudem hat sich die Zahl der Pendler in den letzten Jahren erhöht, was zu Staus und überfüllten Zügen führt.

Dies spielt sicher eine Rolle. Wenn ich im Stau stecke, kann ich zwar Radio hören und relaxen. Wenn aber das Nachtessen auf dem Tisch steht, oder wenn ich um 19.30 Uhr die Tagesschau sehen will, kollidiert die Zeit im Stau mit meinen Erwartungen.

Rund zehn Prozent der Schweizer pendeln pro Arbeitstag zwei Stunden und mehr. Ab welcher Dauer schränkt das Pendeln die Lebensqualität ein?

Die Dauer schränkt die Lebensqualität nicht prinzipiell ein. Ein wichtiger Faktor ist hingegen der Verdienst: Wer einen sehr hohen Lohn hat und pendelt, kann sich sagen: Das gehört einfach dazu, diese Zeit kann ich nutzen, weil ich ohnehin Überzeit machen muss. Ganz anders sieht es aus, wenn eine Reinigungskraft einen Stundenlohn von nicht einmal 20 Franken hat und 15 oder 30 Minuten zum Arbeitsort reisen muss, am Mittag zurückpendelt und am Abend nochmals hinreist.

Kann Pendeln krank machen?

Das Pendeln alleine nicht, es spielen weitere Faktoren mit. Grundsätzlich gilt: Je tiefer das Einkommen ist, desto höher ist die Gefahr, dass jemand erkrankt. Wenn dann noch Pendeln hinzukommt, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung zusätzlich.

Hat dies auch damit zu tun, dass Begüterte in der ersten Klasse oder in einem komfortablen Auto reisen und die ärmeren in der überfüllten zweiten Klasse oder in einer Klapperkiste?

(Zögert) Grundsätzlich ja. Ich persönlich pendelte erste Klasse nach Freiburg, was mir damals sehr entsprach, weil ich in meine Lektüre eintauchen konnte. Heute fahre ich zweite Klasse und möchte nicht mehr tauschen mit der Ersten. Denn ich werde häufig angesprochen und erlebe dies als etwas sehr Bereicherndes. Ich habe so viel erfahren beim Pendeln.

Die Zahl der Pendler nimmt stetig zu, und die Leute pendeln weiter. Wird unser Arbeitsweg künftig immer länger, oder wird es eine Trendwende geben?

Es gibt Anzeichen, dass der Trend kehrt. Vor zehn Jahren wurden wie gesagt das Pendeln, die Mobilität positiver bewertet, heute nimmt man die Einschränkungen, die dadurch entstehen, stärker wahr. Man merkt, wie viele Infrastrukturen das Pendeln braucht, und dass es ökologischer wäre, näher beim Arbeitsplatz zu wohnen. Oder dass es sinnvoll sein kann, am Mittag zu Hause zu essen. Besonders wenn jemand Kinder hat, wäre dies hilfreich.

 

Bern ist ein Zupendler-Kanton

Während 20 000 Staustunden pro Jahr ärgern sich die Autofahrer auf Schweizer Autobahnen. Das sind 833 Tage und damit deutlich mehr als zwei Jahre. Die längsten Stauzeiten gibt es, wenig verwunderlich, in der Agglomeration von Zürich, gefolgt von den Agglomerationen von Genf und Lausanne. Bereits auf dem vierten Platz folgt Bern, Biel befindet sich an zwölfter Stelle im Pendlerstau-Index der Credit Suisse, der 20 Agglomerationen umfasst. In den letzten fünf Jahren haben sich die Staustunden verdoppelt.

Diese Zahlen bestätigen die Pendlerdaten des Bundesamts für Statistik, die vom beco Berner Wirtschaft im aktuellen Newsletter «Wirtschaftsdaten» veröffentlicht wurden. Nach Zürich, Basel-Stadt, Genf und Zug weist der Kanton Bern den fünfthöchsten Pendlersaldo auf. Und auch im Kanton Bern steigt die Zahl der Pendler seit Jahren kontinuierlich.

Insgesamt 107 300 Personen pendelten im Jahr 2012 über die Berner Kantonsgrenze hinweg, dies ergab die dieser Tage veröffentlichte Statistik. 44 200 Berufstätige pendeln weg, die meisten in die Nachbarskantone Solothurn, Freiburg, Aargau, Neuenburg oder bis in den Kanton Zürich.

63 100 Personen fahren vor allem aus den Kantonen Freiburg und Solothurn in den Kanton Bern; andere Zupendler kommen aus dem Aargau, Luzern, Waadt und Jura; selbst aus dem Kanton Zürich strömen Arbeitskräfte in den Kanton Bern.

Der Pendlersaldo, die Differenz zwischen Zu- und Wegpendlern, beträgt somit 18 900 Personen (inklusive Grenzgänger sind es 21 200 Personen). Der Kanton Bern ist damit wie die Kantone Zug oder Zürich ein Zupendler-Kanton. Mehr Weg- als Zupendler weisen zum Beispiel die Kantone Freiburg, Solothurn oder Basel-Land auf.

Angaben, wie viele Personen zum Beispiel von Solothurn nach Biel fahren, um dort zu arbeiten, werden nicht erhoben. Dennoch geht Daniel Bhend, Projektleiter wirtschaftspolitische Grundlagen beim beco, davon aus, dass es nicht wenige sind, die in Richtung Biel fahren, um zu arbeiten. Denn Biel hat ein recht grosses Einzugsgebiet: Die Arbeitskräfte kommen aus dem Seeland, dem Berner Jura, dem Kanton Jura sowie aus dem Kanton Solothurn.

Dass der Kanton Bern mehr Zupendler hat, zeigt, wie wichtig er ist als Wirtschaftsstandort; 68 000 Unternehmen sind hier angesiedelt. Allerdings müssen für die Pendler Infrastrukturen erstellt werden, ihre Steuern bezahlen sie hingegen zu Hause.

Die Standortförderung des Kantons Bern zeigt auch aus diesem Grund auf, dass es durchaus Gründe gibt, sich hier niederzulassen: Der Wohnungsmarkt ist entspannt, die Lage des Kantons zentral. Der Kanton Bern ist verkehrstechnisch sehr gut erschlossen, verfügt über ein breites Bildungsangebot und viel intakte Natur. Abschreckend sind einzig die hohen Steuern für natürliche Personen, die allerdings durch vergleichsweise tiefe Lebenskosten abgefedert werden.

 

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