Sie sind hier

Abo

Biel

«Müssen diese Weltordnung ändern»

An der Generalversammlung der Gewerkschaft Unia Biel-Seeland hat Jean Ziegler über den Hunger auf der Welt referiert. «Bankenhalunken» und Konzerne trügen die Hauptschuld an der Misere.

Jean Ziegler referierte in Biel. copyright anita vozza/bieler tagblatt

Daniel Rohrbach

Sein Alter ist ihm nicht anzusehen. Behänden Schrittes und mit geradem Rücken durchmisst der grosse, stattliche Mann den Saal, steuert auf das Rednerpult zu, wo er sich mit geballter Wortgewalt schon nach wenigen Minuten ins Feuer redet. Jean Ziegler, vor gut einer Woche 80 Jahre alt geworden, sprach am Samstag auf Einladung der Gewerkschaft Unia Biel-Seeland an deren Generalversammlung.

Der frühere Genfer SP-Nationalrat und Soziologieprofessor ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates. Von 2000 bis 2008 wirkte er als erster UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. So stellt er denn auch seine Rede vor den versammelten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unter den Titel «Das tägliche Massaker des Hungers. Wo ist Hoffnung?»

Hunger – und Überfluss

Der jährliche Hungertod von mehreren zehn Millionen Menschen sei der Skandal unseres Jahrhunderts. «Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren auf diesem Planeten», sagte Ziegler. Und dies auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziere. Wie in seinem 2012 erschienenen Buch «Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt», das neu auch in einer Taschenbuchausgabe vorliegt, machte Jean Ziegler in seinen Ausführungen in erster Linie
Spekulanten und Konzerne als Hauptschuldige am Hunger auf der Welt aus. Denn heute sei der objektive Mangel an Nahrung besiegt. Das Problem sei nicht mehr unzureichende Produktion von Nahrung. Das Problem sei der durch fehlende Kaufkraft verhinderte Zugang zu Nahrung.

Da die «Halunken der Grossbanken» mit ihren Spekulationen die Finanzmärkte in den Jahren vor 2008 ruiniert hätten, seien sie auf die Rohstoffbörsen umgestiegen. Dies habe die Weltmarktpreise massiv steigen lassen. Nun würden mit Mais, Getreide und Reis astronomische Profite erzielt, während daneben sich viele Menschen nicht mehr die zum Überleben notwendigen Lebensmittel kaufen könnten. «Dabei agieren diese Spekulanten total legal, weil es die Börsengesetze erlauben.»

Im Tank statt auf dem Teller

Als ein weiteres Problem ortete Jean Ziegler die Agrartreibstoffe. Es sei ein Verbrechen auf einem Planeten mit so vielen Hungertoten Hunderte von Millionen Tonnen Mais als Biodiesel zu verbrennen.

Ein weiteres Übel, das zur Hungermisere beitrage, sei die Staatsverschuldung der Entwicklungsländer. Der Schuldendienst fresse alle Deviseneinnahmen auf, und deshalb könnten keine Investitionen in die Landwirtschaft getätigt werden. Würde man die ärmsten Länder entschulden, hätten diese die Möglichkeit zu investieren. Doch stattdessen würden jedes Jahr Millionen von Hektaren Ackerland in Afrika in den Besitz von Hedgefonds und multinationalen Konzernen übergehen. Die Bauern, die bisher dort lebten, vertreibe man in die Slums der Städte.

Ziegler hofft auf Initiative

«Wir leben in einer Weltdiktatur des Finanzkapitals», so Jean Ziegler. Gemäss einer Statistik der Weltbank hätten im letzten Jahr die 500 grössten Konzerne der Welt zusammen 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert.

Doch Jean Ziegler wollte das Elend auf der Welt nicht nur an den «Banditen» festmachen, die es fraglos in jedem Konzern gäbe. «Es geht hier auch um strukturelle Gewalt. Die Konzerne funktionieren nur nach dem Prinzip der Profitmaximierung.» Wenn ein Konzernchef den Shareholder-Value nicht jedes Jahr steigere, sei er nach drei Monaten weg. Auch wenn er daneben vielleicht ein netter und anständiger Mensch sei, so Ziegler.

Hoffnung setzt Jean Ziegler auf die Spekulationsstopp-Initiative der Schweizer Jungsozialisten, die im letzten Herbst mit der
nötigen Zahl Unterschriften zustande gekommen ist. Die Initiative sieht vor, dass wer nicht Produzent oder Verbraucher ist, von den Rohstoffbörsen ausgeschlossen werden muss. Hier könne man einen Hebel ansetzen, da Genf heute die Welthauptstadt der Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel sei, sagte Ziegler.

Das Ansinnen der Jungsozialisten könnte aber nicht nur in der Schweiz, sondern in allen westlichen Demokratien umgesetzt werden. Er habe diesbezüglich Hoffnung, es gäbe keine Ohnmacht in der Demokratie. «Entweder wir ändern diese kannibalische Weltordnung, oder sonst tut es niemand.»

Denn wie habe der französische Schriftsteller Georges Bernanos gesagt: «Gott hat keine anderen Hände als die unseren.»

 

«Banken müssen verstaatlicht werden»

Sie machen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft für alles Übel der Welt verantwortlich, was sollte denn Ihrer Meinung nach an deren Stelle treten?

Jean Ziegler: Markt  braucht es selbstverständlich, aber gebändigt durch Normen. Der Sozialismus bleibt aber der Horizont der Geschichte. Der Raubtierkapitalismus, den wir heute haben, macht den Planeten kaputt, schafft Massenarbeitslosigkeit. Der Raubtierkapitalismus muss mit demokratischen Mitteln überwunden werden. Das erste, das wir in der Schweiz machen müssen, ist, die Grossbanken zu verstaatlichen.

Und was folgt dann?
Das Volkeinkommen muss durch ganz neue Steuersysteme besser verteilt werden. Dazu gehört auch ein Minimallohn, über den wir am 18. Mai abstimmen.

Wenn man Ihnen bei Ihren Referaten zuhört, erhält man ein wenig den Eindruck, sie hätten die Wahrheit für sich gepachtet.
Bei meinem UNO-Mandat habe ich, viel mehr als ich dies als Professor oder Nationalrat hatte, Einblick in die Dinge, die hinter den Kulissen passieren. Meine Aufgabe lautet, Transparenz zu schaffen. Bei Bertolt Brecht gibt es den schönen Satz: «Vorsicht hilft den Armen nicht».

Sie stellen die Dritte Welt als Opfer dar. Die Unmündigkeit ist doch, insbesondere angesichts der Korruption verschiedener Machthaber in Drittweltstaaten, auch selbst verschuldet.
Klar herrschen in vielen Ländern total korrupte Staatschefs, zum Beispiel Joseph Kabila im Kongo. Er plündert das grosse, reiche Land aus und schickt Millionen auf die Privatkonten bei den Schweizer Banken. Korruption ist unentschuldbar. Aber gleichzeitig kommt die Korruption von den internationalen Konzernen, von den Rohstoffkonzernen. Diese zahlen, damit sie ein Land frei ausplündern.

Zur Verteidigung der eingeschränkten Bürgerrechte in einigen südamerikanischen Ländern, so beispielsweise in Kuba, sagten Sie in ihrem Vortrag: Für einen Analphabeten braucht es keine Pressefreiheit. Das nimmt sich doch gar etwas zynisch aus.
Da haben Sie mich falsch verstanden. Was ich sagen will, ist, zuerst müssen die Leute essen können, und erst danach kommen die freien Wahlen. Zur Pressefreiheit: Zuerst muss ein jeder lesen und schreiben können. Und erst dann kommt die Pressefreiheit.

Interview: Daniel Rohrbach
 

Stichwörter: Jean Ziegler, Unia

Nachrichten zu Wirtschaft »