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René Gerber hört auf

33 Jahre lang war René Gerber praktisch jeden Tag in seiner Härterei Frauchiger in Lyss anzutreffen – gestern zum letzten Mal. Nun hat er Zeit, sein Flugzeug fertigzubauen. Er und seine Frau wollen damit nach Australien fliegen.

Abschied von der Härterei: René Gerber hat seine Härterei Frauchiger AG ab heute für immer geschlossen.  copyright: patrick weyeneth

Tobias Graden

«Ich komme am Morgen hinein, brülle meine Befehle in den Raum und führe sie danach aus»: Das sagte René Gerber vor mehr als zehn Jahren, als das «Bieler Tagblatt» über seine Härterei Frauchiger AG in Lyss berichtete. Gestern Morgen hat Gerber zum letzten Mal Befehle von sich entgegengenommen. Seit heute ist die Härterei in Lyss Geschichte, auch wenn sich Gerber beim neuerlichen Besuch des BTnoch nicht sicher war, ob er nicht doch noch ein bisschen darüberhinaus arbeiten werde, sollten seine langjährigen Stammkunden einen letzten Wunsch haben.

Kein Tag wie der andere

Die Ursprünge der Härterei reichen bis ins Jahr 1899 zurück. Damals entschlossen sich Friedrich und Elise Frauchiger-Nigst, in Lyss eine Spenglerei zu betreiben. 1948, die Firma hiess nun Fritz Frauchiger Nigst AG, entstand die Härterei, die zusammen mit dem schwedischen Stahllieferanten Bofors betrieben wurde. Die Schweden zogen sich in den 70er-Jahren zurück, womit die bis gestern bestehende Härterei Frauchiger AG entstand. René Gerber selber hat den Betrieb 1984 von seinem Vater übernommen. 29 Jahre alt war er und kam nach Wanderjahren zurück.

Das Geschäftsvolumen wurde kleiner, ab den frühen 90er-Jahren beschäftigte Gerber keine Mitarbeiter mehr ausser sich selber. Doch einsam fühlte er sich nie: «Ständig kam ein Kunde», sagt er, «ich war schliesslich ein Dienstleistungsbetrieb.» Langweilig war ihm nie: «Es war kein Tag wie der andere.» Und Gerber war arbeitsam: Wenn er nicht in den Ferien war, dann war er jeden Tag in der Härterei anzutreffen, 33 Jahre lang. Zweimal war der Betrieb in all der Zeit für je eine Woche unangekündigt geschlossen:Einmal hatte Gerber eine doppelte Lungenentzündung, das andere Mal einen Töffunfall. «Wenn die Kunden zu mir wollten, dann wollten sie eben zu mir», sagt Gerber.

Erst in letzter Zeit begann sich Gerber etwas rarer zu machen. Vor zehn Jahren hat er ein Segelflugzeug gekauft, da begann er, sich den Mittwochnachmittag freizunehmen. Später kam der Freitag hinzu, und dann hat René Gerber bei den Kunden aufgeräumt: Zuerst sortierte er jene aus, die nie rechtzeitig zahlten, dann auch jene, die ständig stürmten. «Das ist das Privileg des Alters», sagt Gerber.

Backup auf Disketten

Bei jenen, die bleiben «durften» – mechanische Betriebe, Werkzeugmacher, auch grössere Firmen in der Region – habe dann aber «blankes Entsetzen» geherrscht, als er ihnen im Mai das Ende per Ende Juni ankündigte. In Gerbers Augen blitzt der Schalk, wenn er so erzählt. Zu den wichtigen Kunden ist er persönlich hingegangen, es sei eine emotionale Woche gewesen. Einen Nachfolger hat er gar nicht gesucht. Seine Töchter hatten kein Interesse, und sonst habe ja eh niemand Geld, ohnehin sei das nicht mehr zukunftsträchtig, eine Härterei mitten im Wohngebiet. Investitionen wären auch nötig: Die Anlage erfüllt die Ansprüche zwar auch nach 30 Jahren noch, ihre Steuerung dagegen hätte eine Modernisierung nötig: Das Programm hat Gerber damals selber geschrieben, es basiert noch auf MS-DOS, die Buchhaltung führt Gerber auf einem Laptop von 1995. Wenn er diesen anlässt, betätigt er einen alten Lichtschalter, der mit dem Computer verbunden ist. Jedes Mal, wenn Gerber aufstartet, muss er lachen: Seit Jahr und Tag erscheint die Warnung, die besagt, «der Computer ist eventuell gefährdet». Der Laptop war noch nie am Internet angeschlossen, das Backup steckt auf Disketten mit einer Speichergrösse von 1,2 Megabite. Gerber hat keine Website, er schaut nur «offizielles Fernsehen», wie er es nennt, er ist nirgends Mitglied, und er hat noch nie auch nur fünf Rappen für ein Inserat ausgegeben. «Es war nie nötig», sagt er.

Es fliegt in Woche 26

Leicht könnte nun der Eindruck entstehen, René Gerber sei ein weltabgewandter Sonderling, der nicht über die Hecke seines Einfamilienhausgartens hinausblickt. Nichts wäre falscher. Schon in seinen Zwanzigern reiste er in die ganze Welt:Geplant war eine halbjährige Reise, sie dauerte dann deutlich länger. «Es ist halt noch weit, so um die Welt herum.» Und wenn Gerber mit seiner Frau Barbara und einem befreundeten Paar Töfftouren auf dem Balkan unternimmt, ist er es, der den Freunden die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen versucht;er hat vor nicht allzulanger Zeit seine ganze Familie auf eine Reise durch Russland mitgenommen; und wenn dann erst sein Flugzeug fertiggebaut ist, will er mit diesem und seiner Frau nach Australien fliegen – mit Zwischenhalten, natürlich. Letztes Jahr hat er das Flugbrevet gemacht, da war er 60.

Dieses Flugzeug: Ein Eigenbauprojekt ist es, seit vier Jahren schraubt er daran, wenn man ihn fragt, wann er denn damit abhebe, pflegt er zu antworten:«In Woche 26.» Die Anzahl Stunden, die er bis zum Start mit dem Bau zugebracht haben wird? «Das will ich gar nicht wissen.»Es soll aber nicht so kommen wie beim Freund, der ein Modell der «Bismarck» nachbaute, er musste nur noch die Kanonen anleimen, und das war derart knifflig, dass er schliesslich nach monatelanger Arbeit das Schiff entnervt auf die Strasse trug, es zu Boden warf und mittels Einsatz physischer Gewalt wieder in die Einzelteile zerlegte.

Gerber lacht Tränen, wenn er diese Geschichte erzählt. Doch Geduld braucht aber auch der Flieger. «Bald ist die Verkabelung fertig», sagt Gerber, «dann kann ich die Instrumente einbauen. Es fehlt also nicht mehr so viel.»Der Flieger steht als nackte Karosserie da, ohne Flügel, ohne Lack. Gerber kennt «die vier F der Eigenbauer: Flieger fertig, frau fort».

Gerber hat den Jungfernflug für 2017 geplant.

Der Vater kommt jeden Tag

Wie es sein wird, ab heute und später, für ihn ganz persönlich, das kann René Gerber doch noch nicht richtig abschätzen: «Ich mache es einfach.» Er will es jedenfalls nicht so halten wie sein Vater, der auch mit 93 Jahren noch immer jeden Tag in der Härterei auftaucht – und stets Dinge findet, die man besser machen könnte.

Wenn er einen Sohn hätte, Gerber würde ihm nicht raten, die Härterei zu übernehmen. «Die Maschinenindustrie, das ist kein Zuckerschlecken», sagt er, «alleine in Biel, was da alles an Firmen verschwunden ist in den letzten 20 Jahren.» Er selber ist aber nie in ernsthafte Schwierigkeiten gekommen, konnte die Infrastruktur selber finanzieren, «es war nie etwas geleast hier drin!»

Angebote für einen Verkauf hätte er durchaus gehabt: Das Land in unmittelbarer Nähe zum Lysser Bahnhof ist gefragt. Doch Gerbers wissen damit selber etwas anzufangen. Sie wollen das Gebäude abreissen und Alterswohnungen bauen. Barbara Gerber, sie führt die weiter bestehende Gesundheitspraxis, könnte sich vorstellen, das Haus zu betreiben. Wenn sie denn nicht gerade mit ihrem Mann, dem ehemaligen Härtereibetreiber, um die Welt reist.

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