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Sonnige Aussichten für Velobranche

Die Nachfrage nach Velos hat auf der ganzen Welt stark zugenommen. Davon profitieren auch die Hersteller in der Region. Der Boom hat aber auch seine Schattenseiten.

Velo fahren spricht zunehmend mehr Menschen an – wie diese Seniorengruppe bei Dotzigen.  copyright: keystone

Tobias Graden

Im letzten März herrschte beim Bieler Fahrradkomponentenhersteller DT Swiss kurz Schockstarre. Überall auf der Welt gab es Lockdowns, die Läden waren geschlossen, just in der Phase, in der sich die Menschen üblicherweise ein neues Velo für die Sommersaison kaufen. «In Frankreich hatten wir während zwei Monaten kaum mehr Umsatz», sagt Daniel Berger, Vizepräsident und oberster Produktverantwortlicher von DT Swiss. Das Unternehmen entwarf Szenarien für das ganze Jahr, die mit bis zu 30 Prozent Umsatzeinbruch rechneten.
Doch einen Monat später ging es los: «Die Bestellung überschlugen sich, es hat richtig getätscht.»

Die Lager sind leer
Ein Veloboom hat nicht nur die Schweiz erfasst (vgl. Seite 4), sondern praktisch die ganze Welt. In allen wichtigen Märkten Europas, aber auch in Asien, in Nordamerika, in Australien und in Brasilien sei die Nachfrage stark angestiegen, sagt Branchenkenner Urs Rosenbaum, der mit seiner Dynamot GmbH schon lange Marktreports verfasst – und das ist ein Novum. Und weil 2021 das zweite Boomjahr in Folge ist, bestimmt nicht nur die gestiegene Endkundennachfrage das Marktgeschehen, sondern auch der Wiederaufbau der Lager seitens der Hersteller;diese sind letztes Jahr schon ausverkauft worden. Es gibt also sozusagen zwei Wellen, die sich überlagern. Specialized beispielsweise, einer der grossen internationalen Player, hat laut Rosenbaum verzeichnet derzeit Monat für Monat mehr Bestellungen, als Auslieferungen möglich sind. Hinzu kommt: Die Verteuerung der Transportkosten trifft auch die Velobranche empfindlich. Der Preis für eine Containerlieferung von Asien nach Europa hat sich verzehnfacht, die zwischenzeitliche Blockade des Suezkanals hat das Problem noch einmal verschärft.
An den Lieferfristen von DTSwiss, welche Hersteller wie Specialized mit Laufrädern und Federungskomponenten beliefert, lässt sich die Marktlage ablesen: «Normalerweise betragen die Fristen 3 bis 6 Monate», sagt Daniel Berger, «derzeit sind es im Durchschnitt 15, für einzelne Teile gar zwei Jahre.» Was wie ein angenehmes Luxusproblem klingt, ist nicht zuletzt eine enorme Herausforderung. Schloss DTSwiss das letzte Geschäftsjahr nach dem Schreckmoment im Frühling mit einem einstelligen Umsatzplus, so rechnet das Unternehme für 2021 mit einem Wachstum von 20 Prozent. «Wir wurden überrannt», sagt Berger, «und mussten Wege finden, wie wir unsere treuesten Kunden halbwegs zufrieden stellen können.» Diese haben nun bei DTSwiss reservierte Kapazitätsfenster.

Der Nachschub harzt
Während die langen Wartefristen für Endkunden ein lästiger Makel sind, können sie für kleine Hersteller zum ernsthaften Problem werden. Kürzlich klagte der deutsche Jo Klieber, der mit seiner Marke Liteville in der Mountainbike-Szene Kultstatus geniesst, er könne dieses Jahr viel zu wenig Velos ausliefern, weil er nicht an die benötigten Komponenten gelange. Die Schweizer Marke MTBCycletech ist kürzlich gar konkurs gegangen: Sie hatte das selbe Problem, und ihre Kapitaldecke war zu dünn, um diese Flaute inmitten des Booms durchstehen zu können.
Bei BMC in Grenchen kennt man die Herausforderungen. «Wir haben unsere Bestellungen sehr früh platziert und unsere Händler mit einer früheren Orderphase unterstützt», richtet Lisa Wolf aus, PR-Managerin Nordeuropa bei BMC. Der Hersteller von Sportvelos ist zu einem guten Teil im oberen Preissegment tätig und sieht sich gut aufgestellt: «Wir können bereits die ersten Modelle aus dem neuen Modelljahr ausliefern», so Wolf. BMC sei über die letzten Jahre stetig gewachsen und habe auch das Team am Hauptsitz verstärkt.

Zweistelliges Wachstum
Der Elektrovelo-Hersteller Cylan in Pieterlen (vormals Canyon) ist letztes Jahr das Wagnis eingegangen, sich von seinem Händlernetz zu verabschieden und auf Direktvertrieb umzustellen. Der Entscheid sei «goldrichtig» gewesen, sagt Manuel Zigerli, zuständig für Online- und Produktmarketing. Das Wachstum von Cylan habe in letzter Zeit jährlich 20 Prozent betragen, und die Nachrage nach E-Bikes sei derzeit grösser als die Kapazitäten: «Aufgrund von extremen Lieferverzögerungen seitens der Zulieferer kann die Nachfrage für 2021 und 2022  nicht abgedeckt werden.» Die gesamte Branche werde in den nächsten zwei Jahren Probleme mit den Zulieferern haben. Ausweichmöglichkeiten seien schwierig zu finden, «da wir ausschliesslich Anbauteile der Marktführer verbauen». Auch bei Cylan hat der Mitarbeiterbestand zugenommen, nicht zuletzt wegen der Umstellung auf Direktvertrieb.
Etwas ruhiger geht es dagegen bei der Bieler Marke Bold Cycles zu. «Wir profitieren von der positiven Grundstimmung», sagt Firmengründer Vincenz Droux, «aber unser Produkt spricht nicht die typischen Neuentdecker-Kunden an, die wegen Corona zum Biken stossen.» Der Hersteller von High-End-Mountainbikes gehört mittlerweile zur Scott-Gruppe, und das kommt Bold beim Bezug von Komponenten entgegen, so dass Bold auch als Nischenmarke an die benötigten Teilen gelangt. Zusammen mit einer auf lange Frist bedachten Lagerhaltung kann es Bold nun gar ins Auge fassen, sich im weltweiten Händlernetz von Scott einzunisten.

Treiber E-Bikes
Vereinzelt ist in der Branche derzeit die Rede von einem «Zurückholen der Produktion» von Asien nach Europa. Der E-Bike-Hersteller Flyer beispielsweise baut seinen Stammsitz in Huttwil aus (das BT berichtete). Laut Experte Urs Rosenbaum gilt es dabei allerdings zu relativieren: «Es geht dabei zumeist um die Montage der Velos, nicht um die eigentliche Produktion der Rahmen.» Zwar sei dieses Jahr ein neues Werk für die Produktion von Elektrovelo-Rahmen in Portugal in Betrieb genommen worden, nach dreijähriger Planungs- und Bauphase. Es hat eine Kapazität von 470000 Stück pro Jahr. Zum Vergleich: Alleine das Markvolumen in Europa beträgt über 20 Millionen Stück. Rosenbaum:«Die Abhängigkeit von Asien bleibt enorm.»
Klar ist: E-Bikes sind der Wachstumstreiber des Marktes. Das stellt nicht nur die Seeländer Marke Cylan fest, sondern auch der Zulieferer DT Swiss. In Deutschland sind laut Daniel Berger letztes Jahr knapp 2 Millionen E-Bikes verkauft worden, davon 585000 E-Mountainbikes – normale MTBs waren es gerade noch 150000.

Gute Aussichten
Die gestiegene Nachfrage setzt auch die Zulieferer der Zulieferer unter Druck. «Unsere Lieferkette läuft am Limit», sagt Daniel Berger, «der Nachschub an Rohmaterialien und Halbfabrikaten ist ein Problem.» Das betrifft beispielsweise Aluminium-Profilstangen, aus denen DTdann Felgen fertigt. Hinzu kommt das Garantieren gleichbleibender, hoher Qualität: Auch wenn der Mitarbeiterbestand an den Standorten Taiwan, Polen und Biel deutlich gewachsen sei, «ist es eben ein Unterschied, ob man einige zehntausend oder eine Million Laufräder baut.»
So rasch wird der Trend aber nicht abflachen. «Wir planen schon 2024», sagt Berger, «und alle Indikatoren deuten darauf hin, dass der Markt gut bleibt.» Derzeit sei er allerdings schlicht eines: überhitzt.

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