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Medizinunternehmerin

Topbankerin auf besonderer Mission

Die iranische Bankerin Nilofar Niazi hat an Zürichs bester Lage eine Rehaklinik für Patienten mit
 Gehirn- und Rückenmarkbeschädigungen eröffnet. Es ist ein Quereinstieg mit traurigem Hintergrund.

Bild: Titin Emans

Mathias Morgenthaler

Betritt man die Räumlichkeiten von Nextherapy an der Uraniastrasse in Zürich, wähnt man sich in einem Luxus-Fitnessstudio. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass hier Menschen mit starken Bewegungseinschränkungen trainieren. Ein sechsjähriges Kind unternimmt ungelenke Gehversuche auf einem Laufband und wird dabei von verschiedenen Apparaten gehalten und gesteuert.

Gastgeberin Nilofar Niazi sagt gleich zur Begrüssung, es sei ihr wichtig, dass ihr Rehabilitationszentrum für Menschen mit Gehirn- und Rückenmarkschädigung nur einen Steinwurf von der Bahnhofstrasse entfernt sei. Und dass auch Menschen ohne Beeinträchtigung gerne hier trainierten.

Auf einem Glastischchen in ihrem Büro beugt sich ein Plüsch-Einhorn über eine goldene Glocke. Sie sei ein grosser Fan der Navy Seals, der Eliteeinheit der US-Marine, sagt Niazi. Dort gelte die Regel, dass man jederzeit die Glocke läuten könne, wenn man aus einer Übung aussteigen wolle; das ungeschriebene Gesetz besage allerdings: Läute niemals die Glocke! Das sei zu ihrem Selbstverständnis geworden.

 

Ihre Familie flüchtete 
aus dem Iran

Gelegenheiten zum Aufgeben gab es einige im Leben der heute 49-Jährigen. Sie war zwölf, als sie mit ihrer Familie aus dem Iran flüchtete und via Deutschland in die USA kam. Nach Abschluss des Studiums in Harvard und Kalifornien zog sie nach New York an die Wallstreet.

Ihre erste Aufgabe mit 22 Jahren in der Finanzwelt hätte glamouröser kaum sein können: Sie war Teil des PaineWebber-Teams, das die Privatisierung des Rockefeller Center vorantrieb. 100 Stunden und mehr habe sie pro Woche gearbeitet, nicht selten um Mitternacht Sushi gegessen im 19. Stock, danach die halbe Nacht durchgearbeitet und sich vor dem Einschlafen am frühen Morgen gewundert, dass sie als Immigrantenkind hier an der Wallstreet grosse Fusionen und Übernahmen einfädelte und sich nicht verstecken musste vor den «Tough Guys» im Investmentbanking.

Niazi stieg bei Rothschild in den Rang einer Vizepräsidentin auf und hatte später bei der Deutschen Bank in New York führende Positionen im Investmentbanking inne. 2009 endete die Erfolgsgeschichte abrupt: Niazi, seit Kurzem Mutter von Zwillingen, war besorgt, weil ihr Sohn Nathaniel wegen Atemproblemen hatte hospitalisiert werden müssen. Dann erfuhr sie, dass das Gehirn ihres Sohns so schwer beschädigt war, dass er in Zukunft weder sehen noch reden noch selbstständig würde leben können.

«Ich begriff sofort, dass ich eine ganz andere Aufgabe vor mir hatte», erinnert sich Niazi. Zwei Tage später kündigte sie ihren Job und entschloss sich, ihre ganze Kraft dafür einzusetzen, das Leben ihres Sohns zu verbessern, der zu diesem Zeitpunkt zu schwach war, um selber an der Milchflasche zu saugen.

 

Sie holte die besten Wissenschaftler an Bord

Tage- und nächtelang durchkämmte sie Forschungsliteratur zu Hirnschäden, gründete eine Stiftung, holte die besten Wissenschaftler an Bord, publizierte als erste Nicht-Neurowissenschaftlerin einen Fachartikel in der Zeitschrift «Neuron» und reiste an Kongresse.

Was sie dort erfuhr, war niederschmetternd. Selbst die Stammzellentherapie, so sagte ihr ein führender Neurologe, würde Nathaniels beschädigte Hirnareale nicht wiederbeleben können.

Niazis einzige Hoffnung war die Aussage von Sally Temple, der Leiterin des weltweit grössten Stammzelleninstituts, des NSCI in New York. Sie sagte ihr, auch wenn grosse Teile des Hirns dauerhaft beschädigt seien, könnten manche Fähigkeiten zurückerlangt werden, wenn die Rehabilitierung intensiviert und verbessert werde.

In der Folge trug Niazi fünf Jahre lang alles Wissen zusammen, das sie zu verschiedensten Rehabilitationsansätzen bei Gehirn- und Rückenmarkschäden fand, und suchte nach hoffnungsvoller Grundlagenforschung, die Hinweise geben könnte für neue Therapieansätze. Das finanzielle Polster aus der Zeit, als sie in der Finanzbranche über eine Million Dollar pro Jahr verdient hatte, erlaubte ihr, sich ganz dieser neuen Aufgabe zu widmen.

Die Erfolge waren weniger spektakulär als erhofft, aber dennoch sehr bewegend für Niazi. Nach einer ersten Sitzung mit Elektrostimulation des Gehirns sagte Nathaniel plötzlich aus heiterem Himmel «Hi», vier Jahre später kam nach einer weiteren Behandlung das Wort «Mama» dazu.

Nilofar Niazi ist realistisch genug, um bei ihrem Sohn keine Wunderdinge mehr zu erwarten. Ihr grösstes Ziel ist es, die Rehabilitation von Menschen mit neuronalen Einschränkungen zu verbessern. «Die meisten Betroffenen sind nach der Ausnahmezeit im Spital und einigen Wochen Reha-Aufenthalt komplett allein und fallen in ein Loch», sagt Niazi. «Gerade in der chronischen Phase brauchen sie Support und eine moderne Behandlung durch Therapeuten, die an ihr Potenzial glauben.»

Vor vier Jahren hat Niazi in Antwerpen ein erstes Rehazentrum eröffnet, diesen September nun die Rehaklinik Nextherapy in Zürich. Wie sie als alleinerziehende Amerikanerin ohne Visum und fixes Einkommen, aber mit drei Kindern (eines davon im Rollstuhl) in der Schweiz Fuss gefasst hat, ist eine Geschichte für sich.

 

Starke Nachfrage nach der ambulanten Therapie

Die Nachfrage nach ihrem ambulanten Therapieangebot ausserhalb von Spitalstrukturen habe sich sehr gut entwickelt, sagt Niazi. Sie rechnet damit, schon 2022 schwarze Zahlen zu schreiben und bald weitere Standorte in Basel, Bern, Genf oder Lausanne zu eröffnen – auch deshalb, weil in der Schweiz Versicherungen und Krankenkassen einen Grossteil der Therapiestunden finanzieren.

Sie sei eine grosse Anhängerin von künstlicher Intelligenz und personalisierter Medizin, sagt Niazi. Und sie sehe, welches Potenzial da noch brachliege in der Rehabilitation. So würden Therapiesitzungen mit Roboterunterstützung bis zu 1000 Bewegungswiederholungen pro Sitzung ermöglichen statt der 50 Wiederholungen in einer halben Stunde Physiotherapie.

Dieser Therapieansatz sei an sich nicht neu, sagt Oliver Stoller, Geschäftsführer des ETH-Kompetenzzentrums für Rehabilitation. «Aber die Konsequenz, mit der Nilofar Niazi auf Intensität, Personalisierung und Motivation setzt, ist beeindruckend.»

Die grösste Herausforderung seien die Wirtschaftlichkeit und die Bekanntmachung des Angebots bei den Betroffenen. Stoller hat in einer früheren Tätigkeit das Rehaangebot Revigo lanciert, das ebenfalls stark auf Technologie setzt.

Niazis inzwischen zwölfjähriger Sohn Nathaniel trainiert jede Woche zwölf Stunden in der Nextherapy-Klinik. «Gesund geworden ist er dadurch nicht, aber er hat bisher trotz einem Leben im Rollstuhl keine Osteoporose und musste sich noch keiner Hüftoperation unterziehen», sagt seine Mutter. Manchmal müsse man dankbar sein, dass sich die Situation nicht verschlimmere.

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