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Unsere Pioniere: Die Triebkräfte des Fortschritts

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz erfüllt von Pioniergeist. Wie damals ist sie auch heute eines der innovationsstärksten Länder der Welt. Damit das so bleibt, braucht es aber weiterhin ein Klima der Offenheit und Freiheit.

Unsere Pioniere: Die Triebkräfte des Fortschritts

Der Aufstieg der Schweiz im 19. Jahrhundert von einem armen Agrarland zu einem reichen Industrieland ist untrennbar mit dem Namen grosser Pioniere der Wirtschaft und Technik verbunden. Johann Jakob Sulzer-Neuffert (1782–1853), Gründungsvater der Gebrüder Sulzer AG, Winterthur; Henri Nestlé (1814–1890), Erfinder des Kindermehls, Vevey; Johann Rudolf Geigy-Merian (1830–1917), Chemische Industrie, Basel; Alfred Escher (1819–1882), Mitbegründer der Schweizerischen Kreditanstalt und Förderer der Gotthardbahn, Zürich; Fritz Hoffmann-La Roche (1868–1920), Pharmazeutische Industrie, Basel; Charles E. L. Brown (1863–1924) und Walter Boveri (1865–1924), Gründer eines Weltunternehmens: Sie und viele andere mehr strebten nach Einzigartigkeit, die ihnen ermöglichen sollte, sich von der Konkurrenz abzusetzen. Sie suchten in den jungen Industriemärkten nach zahlungswilligen Kunden, um mit innovativen Geschäftsideen hohe Profite zu erzielen.

Historische Bedingungen

Fragt man, wieso es in der Schweiz des 19. Jahrhunderts eine derartige Ballung von (erfolgreichen) Pionieren gab, findet man in der Wirtschaftsgeschichte folgende Antwort(en): Zwar hat es innovative Menschen zu allen Zeiten und überall gegeben. Aber nicht jede Gesellschaft war in der Lage, das Potenzial zu heben. Es gab Gesellschaften, die stagnierten, wie das alte China oder der wirtschaftlich einst blühende Orient. Andernorts – wie in Europa oder Nordamerika – jedoch gelang es, Rahmenbedingungen, Anreize und Belohnung so zu setzen, dass eine Innovationskultur entstand. Aufgeklärte, kapitalistische Gesellschaften mit einem marktwirtschaftlichen Wettbewerbssystem erwiesen sich als besonders erfolgversprechend.

Unter den kapitalistischen Marktwirtschaften waren Kultur- oder Religionsgemeinschaften im Vorteil, die Leistung, Gelderwerb, Gewinnstreben und Kapitalbesitz gesellschaftlich hoch achteten, oder sogar als das von Gott verlangte Verhalten bewerteten. Soziales oder ökonomisches Aussenseitertum zeigte sich vielfach als starke Motivation, Pionier zu werden, um über wirtschaftlichen Erfolg auch zu gesellschaftlichem Ansehen zu kommen.

Weil Innovation auch immer bedeutet, Altes infrage zu stellen, spielte schliesslich die Verteilung politischer Macht eine ganz wichtige Rolle. In Gesellschaften, in denen über längere Zeit Imitatoren das Sagen hatten, drohte eine Verkrustung und wurde es für Innovatoren schwieriger, sich entfalten zu können. Gesellschaften, die auf Erfindungen und Entdeckungen passiv und abwartend reagiert haben, gerieten gegenüber anderen, die neue Ideen rasch und aktiv zu innovativen Lösungen verarbeiteten ins Hintertreffen, was durch viele auch heute noch arme Länder im Nahen Osten, in Afrika und Lateinamerika veranschaulicht wird.

Die Schweiz war im 19. Jahrhundert und ist auch im 21. Jahrhundert eines der innovationsstärksten Länder weltweit. Sie bleibt von aussen gesehen das Mass aller Dinge. Es sind nicht national-konservative Chauvinisten der SVP, die so urteilen. Vielmehr attestiert das neutral unabhängige Weltwirtschaftsforum (WEF) der Schweiz seit sieben Jahren ungebrochen die beste Wettbewerbsfähigkeit aller 140 untersuchten Volkswirtschaften – unangefochten vor Singapur, den USA und Deutschland. Besonders gelobt werden in Helvetien die Innovationsfähigkeit, das Bildungssystem, die Verwaltung und die politische Stabilität.

Schweiz an der Spitze – aber...

Der Spitzenplatz macht sich auch für die Bevölkerung bezahlt. Der Lebensstandard gehört in der Eidgenossenschaft weltweit zu den höchsten, die Arbeitslosigkeit mit rund dreieinhalb Prozent zu den niedrigsten. Nirgendwo sonst sind die Nettolöhne so hoch wie in Zürich und selbst wenn die hohen Preise die Kaufkraft schmälern, muss in der Schweiz weniger lange als anderswo gearbeitet werden, um sich ein angenehmes Leben zu finanzieren.

Allerdings – und das ist eine Schwäche der schweizerischen Innovationspolitik – bleibt die Hebelwirkung der heutigen Pioniere bescheidener als im 19. Jahrhundert. Es wird zwar in der Schweiz durchaus über die zentralen Themen der Menschheit geforscht. Es stimmt also nicht, wenn ab und zu behauptet wird, es würden nicht die richtigen Forschungsfragen gestellt oder nicht in den wichtigen Zukunftsgebieten der Digitalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Biotechnologie, Optik, Gentechnologie oder den Nanowissenschaften geforscht.

Die Schweiz krankt nicht daran, falsche Fragen zu stellen, sondern an der Geschwindigkeit, mit der an sich richtige Antworten in die Praxis umgesetzt werden. Das negative Paradebeispiel findet sich in der Biochemie. An schweizerischen Universitäten und Fachhochschulen werden junge Wissenschaftler(innen) exzellent ausgebildet. Das gilt auch für hervorragend qualifizierte technische Fachkräfte. Und in Basel und Umgebung finden sich mehr Weltmarktführer der Pharmawirtschaft als wohl nirgendwo sonst.

Aber wenn es um die angewandte Forschung und deren praktische Anwendung in der industriellen Produktion geht, finden schweizerische Spitzenkräfte andernorts – meistens in den USA – bessere Bedingungen, weniger Regulierungen und mehr Offenheit neuen Technologien gegenüber – so etwa wenn es um genetisch modifizierte Pflanzen geht. Als Resultat der feindlichen Stimmung, die in der Alten Welt gegenüber der Gentechnik herrscht, hat die Pharmawirtschaft die gentechnologische Forschung in die Neue Welt nach Amerika verlagert. Logischerweise folgen alle damit verbundenen Anwendungen und Umsetzungen.

Um im 21. Jahrhundert von erfolgreichen Pionieren profitieren zu können, bedarf es in der Schweiz eines allgemeinen Klimas der Offenheit und Freiheit. Pioniergeist kann nicht staatlich angeordnet werden. Er muss aus eigenem Antrieb wachsen. Der Staat sollte nicht Spieler, sondern bestenfalls Schiedsrichter sein. Er muss die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so gestalten, dass Cluster entstehen können. Die Schaffung von Plattformen, auf denen in enger räumlicher Nähe ein Austausch von interdisziplinärer Forschung und wirtschaftlicher Anwendung möglich ist, fördert Innovationen. In gleichem Masse müssen Bildung, Forschung und Wirtschaft international durchlässig und vernetzt werden.

Offenheit fördert Wissen

Nur ein hoher Grad der Internationalisierung gewährleistet den für Innovationen nötigen freien Wissenstransfer. Hier wurde in der Schweiz im universitären Sektor in den letzten Jahren sehr viel sehr gut gemacht. Man denke dabei etwa an die Universitäten Zürich oder St. Gallen, aber auch an die ETH in Zürich und Lausanne, wo die Internationalisierung enorm hoch ist.

Das alles hat natürlich auch mit der Zuwanderungspolitik zu tun. Es gilt etwa, Professoren nicht nach deren Nationalität, sondern nach deren Qualität zu berufen. Hier liegt die Schweiz zusammen mit den skandinavischen Ländern sicherlich weit vor Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien. Wenn an einer Universität die Mehrheit der Professoren aus dem Ausland kommt, dann ist das ein ausgesprochenes Gütezeichen und kein Warnsignal. Es zeigt, dass sich ein Forschungsstandort nicht provinziell beschneidet, sondern offenbleibt für Neues.

Erfolgreiche Pioniere sind vielfach Menschen, die nicht den gängigen Konventionen entsprechen. Oft haben sie das Studium geschmissen oder sind bei Abschlussprüfungen durchgefallen. Sie ticken anders als der Durchschnitt, sie stellen mit ihren neuen Ideen auch bestehende Lehren infrage. Ein Hochschulsystem müsste gerade solchen Querdenkern eine Chance geben. Deshalb sollte es durchlässig sein und Aussteigern auch immer wieder Einstiegschancen offen halten.

Erfolgreiche Pioniere sind oft kreative Bastler und neugierige Tüftler. Der Drang, die Welt mit neuen Produkten, Dienstleistungen, Geräten, Apparaten und Konsumgütern zu beglücken, entsteht oft allein, manchmal in kleinen Gruppen, selten in der grossen Öffentlichkeit. Die Gesellschaft kann hier lediglich ein günstiges Umfeld schaffen, das Neuerungen gegenüber offen ist, das erlaubt, Hinterhofgaragen zweckentfremdet als Werkstatt oder Labor zu nutzen und das selbständigen jungen Start-up- Betrieben keine bürokratischen Hürden in den Weg legt.

Wagniskapital nötig

Erfolgreiche Pioniere haben meistens grosse Visionen, aber in der Regel kein Geld. Wie rasch und wie einfach kommt ein junger Absolvent von Universität oder Fachhochschule zu Kapital, um clevere Ideen ein Stück voran zu bringen? Es ist in der Schweiz schwierig, Risikokapital zu generieren. Doch für einen guten Start ist es unumgänglich. Nachher, wenn sich das Produkt im Markt erfolgreich eingeführt hat und eine gewisse Grösse überschreitet, können erfolgreiche Pioniere (Teile) ihrer Firmen an bestehende Unternehmen verkaufen.

Für wie viele so wohlhabende Schweizer, die über Millionen verfügen, wäre es ein leichtes, mit relativ bescheidenen Summen an Wagniskapital Innovationen anzustossen. Nicht etwa aus Altruismus, sondern aus Egoismus.

Gerade in Zeiten mit Niedrigzinsen, die hohe Liquidität zum Problem und ertragreiche Anlagen zum Mangel werden lassen, ist Wagniskapital eine höchst interessante Sachwertinvestition. Das eingesetzte Wagniskapital soll eine hohe Rendite abwerfen.

Natürlich gibt es keine Renditen ohne entsprechendes Risiko. Doch ohne Risiko geht es nicht, wenn man in der ersten Liga erfolgreich spielen will. Dazu brauchen die Schweiz und das Seeland beides: durchsetzungsstarke Pioniere und mutige Investoren. Zusammen können sie dafür sorgen, dass die Eidgenossenschaft so erfolgreich bleibt, wie sie es seit ihrer Neugründung 1848 dank ihrer Pioniere geworden ist.

Info: Der aus Burgdorf stammende Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

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