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Ting

"Wir investieren in Menschen"

Das Netzwerk Ting denkt die Idee des Grundeinkommens weiter: Wer mitmacht, kann sich für ein halbes Jahr einer Weiterentwicklung widmen. Diese solle einen Mehrwert für die Gesellschaft haben, sagt die Bieler Mitinitiantin Ondine Riesen.

Ondine Riesen hat Ting mitentwickelt, Mathias Stalder hat als erster Unterstützung für seine «Weiterentwicklung» erhalten.  copyright: peter samuel jaggi/bieler tagblatt

Tobias Graden

Ondine Riesen ist sichtlich glücklich. Eine bezahlte, sechsmonatige Auszeit, um mal etwas ganz Anderes machen zu können? Die Bielerin schüttelt den Kopf: «Das kommt für mich zurzeit nicht infrage. Ich bin am richtigen Ort, ich arbeite genau das, was ich will. Ich möchte gerade nichts Anderes tun.»
Dabei ist es das, was sie tut: Anderen Menschen eine bezahlte, sechsmonatige Auszeit zu ermöglichen, damit diese Projekte verwirklichen können. Ondine Riesen arbeitet bei Ting.

Ein zeitlich befristetes Grundeinkommen
Ting ist im Umfeld der hiesigen Bewegung für ein Grundeinkommen entstanden. Auch Ondine Riesen ist vor gut zwei Jahren dem Verein Grundeinkommen beigetreten. Die Schweiz war das erste Land, das über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abstimmen konnte. Das Resultat fiel im Juni 2016 allerdings klar aus: Mehr als drei Viertel der Abstimmenden lehnten die Vorlage ab. In der Folge machten sich Aktivistinnen und Aktivisten im Verein Grundeinkommen Gedanken, welche ähnlichen Projekte denn nun verfolgt werden könnten. Das Ziel: «Wir wollen den Menschen mehr Autonomie geben», sagt Ondine Riesen.
Wäre es denn denkbar, ein Grundeinkommen auf zivilgesellschaftlicher Basis aufzubauen? Berechnungen zeigten rasch: Das wäre zwar möglich, aber wohl für viele nicht sehr attraktiv. Und so entstand die Idee eines zeitlich befristeten Grundeinkommens für spezifische Zwecke. Ting ist ein Netzwerk von Menschen, die regelmässig Geld einzahlen, und dafür im Gegenzug das Recht haben, während eines halben Jahres maximal 2500 Franken monatlich zu beziehen. Dieser Verdienst soll es ihnen ermöglichen, Projekte zu verfolgen. Für diese Projekte gibt es zwei Bedingungen: Erstens sollen sie die Gesuchsstellenden in irgendeiner Form weiterbringen. Zweitens sollen sie gesellschaftliche Relevanz haben. Ting nennt diese Projekte  «Weiterentwicklungen». Darunter werden «intrinsisch motivierte Projekte und Tätigkeiten wie Ausbildungen, Engagement und Unternehmungen verstanden, welche sich entweder positiv auf die aktuelle Lebenssituation auswirken oder die Biographie nachhaltig prägen und einen Mehrwert für die Gesellschaft bieten», wie es auf der Website heisst.

Scheitern ist erlaubt – wenn alle daraus lernen können
Wie beim Grundeinkommen auch kommen einem umgehend Einwände in den Sinn. Warum soll man nicht einfach selber sparen, um sich einen Wunsch zu erfüllen oder eine Auszeit zu nehmen? Und gibt es denn nicht bereits genug Institutionen, die ein solches Bedürfnis abdecken, sei es über Kredite, Stipendien oder Fördergelder?
Ondine Riesen kennt die Fragen. Sie antwortet mit Beispielen: «Eine alleinerziehende Mutter kann nicht einfach mehrere Monate unbezahlten Urlaub nehmen.» In Deutschland, wo der Verein Mein Grundeinkommen 300 mal 12000 Euro zur freien Verfügung verlost hat, wurde evaluiert, was die Menschen damit tun – eine Frau nutzte beispielsweise die Gelegenheit, um endlich ein Arbeitsverhältnis kündigen zu können, in dem es ihr nicht gut ging. Ohne das temporäre Grundeinkommen wäre ihr dies nicht möglich gewesen.
Bestehende Förderinstitutionen knüpfen zudem Unterstützung meist an enge Vorgaben. Und selbst wer für ein persönliches Projekt bei einer guten Freundin oder den Eltern ein Darlehen bezieht, sieht sich von einer gewissen Erwartungshaltung unter Druck gesetzt. Bei Ting ist das anders: «Man darf auch scheitern», sagt Ondine Riesen, «wir investieren schliesslich in Menschen, nicht in Geschäftsideen.» Wichtig ist es aber in jedem Fall, seine Erfahrungen mit der Gemeinschaft zu teilen. So wird auch aus dem Scheitern ein Erkenntnisgewinn für alle.

Ein anderes Menschenbild: Empathie statt Ellbogen
Ting ist nun seit letztem Sommer aktiv, mittlerweile hat der Verein etwas über 90 Mitglieder. Sie zahlen im Durchschnitt 180 Franken pro Monat ein. Als Richtwert gelten fünf Prozent des Nettoeinkommens, es darf gerne mehr sein, weniger ist auch OK, mindestens 100 Franken aber müssen es sein. «Wir wollen zeigen, dass die Leistung nicht gratis ist», sagt Ondine Riesen, «wer Unterstützung in Anspruch nehmen will, sollte auch bereit sein, diese anderen zu geben.»
Frühestens nach drei Monaten können die Mitglieder einen Antrag für Unterstützung stellen. Besser gesagt: bereits nach drei Monaten. Denn eine Mindestdauer für die Mitgliedschaft ist nicht vorgesehen – sie ist jederzeit mit einer Frist von drei Monaten kündbar. Es wäre also möglich, Ting beizutreten, einige Monate einzuzahlen, das Geld für die Weiterentwicklung zu beziehen und unmittelbar danach wieder auszutreten – also für sich selber den maximalen Profit zu erzielen bei gleichzeitig minimalem Einsatz für die Gemeinschaft. Doch Ondine Riesen sagt: «Wer so denkt, kommt gar nicht zu uns.» Diverse Studien zeigten, dass die Menschen in Vereinigungen wie Ting im Durchschnitt mehr Geld einzahlen, als sie beziehen.
Grundlage dafür ist laut Riesen ein Menschenbild, das sich von jenem in der kapitalistischen Ellbogengesellschaft unterscheidet. Es basiert auf zwei Prämissen. Erstens: Menschen wollen tätig sein – es gibt nur wenige, die gar nichts tun wollen. Zweitens: Menschen vertrauen sich gegenseitig. «Wir gehen von uns selber aus und sprechen Leute an, die so ticken wie wir», sagt Ondine Riesen – ohne allerdings den Anspruch zu haben, dass die Mitglieder von Ting einen repräsentativen Querschnitt durch die Gesellschaft bilden. «Wir wollen ausprobieren, Geschichten erzählen, schauen, wo uns dieses Experiment hinbringt.»

Eine Ethikkommissionsoll entscheiden
Ganz ohne Kontrolle funktioniert aber auch Ting nicht – besser gesagt: nicht ohne Begleitung. Wer eine Eingabe für eine Weiterentwicklung einreicht, wird zuerst dazu befragt. Ting klärt ab, ob die Eingabe stringent und mit den Kriterien vereinbar ist. Erst einmal war bisher eine Eingabe so überzeugend erarbeitet, dass sie ohne weitere Abklärungen bewilligt werden konnte: Ein Mitglied realisiert nun ein pädagogisches Projekt zum Thema Permakultur, also zu nachhaltiger Landwirtschaft und Gartenbau.
In der Regel aber spricht Ondine Riesen mit den Mitgliedern, die ein Gesuch gestellt haben. Und sie coacht sie vor und während der Realisation der Weiterentwicklung. Dazu hat sie ein Coaching-Tool mitentwickelt, das helfen soll, die relevanten Fragen zu klären: Was genau ist mein Ziel? Welche Bausteine brauche ich zu dessen Verwirklichung? Ist es realistisch? Welches Budget brauche ich? Welches sind die Etappen?
Nun ist das Urteil, ob eine Weiterentwicklung einen «Mehrwert für die Gesellschaft» bietet, stark vom eigenen Standpunkt abhängig. Schulkindern ökologischen Gartenbau beizubringen – dagegen hat wohl niemand etwas. Doch wie sieht es aus, wenn jemand ein Kinderbuch realisieren möchte mit dem Ziel, Nachwuchs für die Wildjagd zu gewinnen? Leidenschaftliche Veganer dürften ein solches Vorhaben kaum unterstützenswert finden. Um solche Fragen zur Zufriedenheit der ganzen Community lösen zu können, soll darum der Entscheidungsweg über Anträge vom Vereinsvorstand ausgelagert werden an eine Art Ethikkommission, der auch externe Fachkräfte angehören können. Noch ist es nicht so weit, Ting ist noch jung, Vieles ist noch im Aufbau begriffen.

Dem Strukturwandel begegnen
Die Finanzierung von Ting ist vorerst gesichert; durch die Beiträge der Mitglieder, durch Spenden, aber nicht zuletzt dank der Unterstützung des Förderfonds Engagement Migros (EM), der laut Eigenbeschrieb Pionierprojekte im gesellschaftlichen Wandel unterstützt. Linda Sulzer von EM fasziniert an Ting, dass das Experiment ein Problem «komplett neu angeht, das es schon lange gibt»: die Reform der Sozialsysteme. Initiativen wie Ting gäben ihr «die Hoffnung auf eine solidarische Gesellschaft zurück», wird Sulzer in einem Interview auf der Website von Ting zitiert. Das Team von Ting versteht sein Engagement denn auch explizit als eine Idee, die helfen soll, «die Auswirkungen des gesellschaftlichen Strukturwandels abzufedern und gleichzeitig neue Wege für Sozialsysteme aufzuzeigen», wie es auf der Website heisst.
Die Leitung von Ting ist als Agentur für Weiterentwicklung GmbH organisiert, die Community als Verein. Für den gesicherten Betrieb sorgt eine Buchführung mit mehreren getrennten Konti. Der Verwaltungsaufwand macht derzeit etwa zehn Prozent des Umsatzes aus, er kann unabhängig von den unterstützten Weiterentwicklungen gedeckt werden.
Derzeit ist Ting so aufgestellt, dass jedes Mitglied ungefähr alle acht Jahre Geld für ein halbjähriges Projekt beziehen könnte. Aber auch in der übrigen Zeit trägt jedes Mitglied zum Gelingen anderer Projekte bei: «Im Gegensatz etwa zum privaten Sparen sieht man bei Ting, was mit dem einbezahlten Geld passiert», sagt Ondine Riesen, «und damit auch, was man selber Gutes bewirken kann.» Alleine der Kontakt zueinander gebe den Mitgliedern Auftrieb. Einzelne werden auch ausserhalb von Ting aktiv und starten etwa Crowdfundings. Ting wecke die Lust am Tun, sagt Riesen.
Das Netzwerk ist noch nicht lange in der Öffentlichkeit bekannt, noch ist es im Wachstum begriffen, sowohl was die Zahl der Mitglieder als auch die Strukturen betrifft. Doch es stellen sich bereits Grundsatzfragen: Droht Ting mit zunehmender Grösse den Spirit zu verlieren, wird der Austausch auch bei grösserer Beteiligung noch funktionieren? Für Ondine Riesen ist die Antwort klar: «Wir möchten so gross wie möglich werden und uns in der ganzen Schweiz etablieren.»
Auf dass jene, die nicht wie sie gerade am richtigen Ort sind, diesen mit der Unterstützung eines zeitlich begrenzten Grundeinkommens finden mögen.
 

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