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Biel

Ein Fall mit vielen Ungereimtheiten

Überreaktion der Behörden oder Betrug? Ein Nigerianer gerät in Biel in eine Kontrolle und kommt in Ausschaffungshaft. Wieder daheim, klagt er auf Schadenersatz und bekommt Recht.

18 Tage verbrachte der Nigerianer C. in Ausschaffungshaft. Symbolbild

Wolf Röcken

Biel, am 19. Mai 2008: Der Nigerianer C.* ist mit einem Begleiter, der einen britischen Pass hat, unterwegs. Zwei Tage vorher sind die beiden von London her kommend in Zürich gelandet. Sie wollen ein verlängertes Wochenende in der Schweiz verbringen. So werden sie jedenfalls später bei der Polizei aussagen und ihre Angaben mit dem Boardingpass belegen. C. wird den Beamten auch seine Reservation für den Rückflug Zürich-London für eben diesen Tag, den 19. Mai, zeigen. Doch es kommt nicht zum Rückflug. Der Nigerianer C. und sein Begleiter werden an jenem Tag in Biel von der Kantonspolizei angehalten. Zur Überprüfung der Personalien müssen die beiden auf die Polizeiwache.

Der Begleiter von C. wird sofort wieder entlassen. Bei C. selber stolpert die Polizei aber über dessen Pass. Die Beamten gehen davon aus, dass er gefälscht ist und übergeben ihn dem Kriminaltechnischen Dienst (KTD). Dieser stellt beim Stempel tatsächlich «anormale Eigenschaften» fest. Der Abdruck etwa sei asymmetrisch. Der KTD geht davon aus, dass es sich um einen laienhaft gefertigten Stempel handeln könnte, der international bereits als Fälschung bekannt ist. Die Identität von C. gilt deshalb nicht als gesichert.

18 Tage in Ausschaffungshaft

Nun geht alles Schlag auf Schlag: Die Ausländerbehörde von Biel weist den Nigerianer aus der Schweiz aus und versetzt ihn noch am selben Tag in Ausschaffungshaft. Die Haftrichterin bestätigt den Entscheid, der Nigerianer ficht ihn nicht an. Anfang Juni, nach 18 Tagen Haft, reist C. mit einem sogenannten Laisser-Passer nach London zurück. Die Schweizer Behörden übergeben den verdächtigen Pass ihren britischen Kollegen.

Gegen C. wird in der Schweiz eine Strafverfolgung wegen Fälschung von Ausweisen, Verletzung von Einreisebestimmungen und rechtswidrigem Aufenthalt eingeleitet. Weil es zu wenig Belastungstatsachen gibt, hebt der Bieler Gerichtspräsident das Verfahren später jedoch wieder auf.

C. beginnt zu klagen

Im Oktober 2008 beschwert sich der Nigerianer aus London. Dies geht aus einem kürzlich veröffentlichten Urteil des Berner Verwaltungsgerichts hervor. Er, C., sei während 18 Tagen ungerechtfertigt in Ausschaffungshaft gewesen. Dadurch habe er sowohl materiellen als auch immateriellen Schaden erlitten. Er verlangt Schadenersatz und Genugtuung wegen ungerechtfertigter Ausschaffung.

Eineinhalb Jahre später, im Mai 2010, weist die Berner Polizeidirektion sein Gesuch ab. Der Nigerianer gibt sich nicht zufrieden. Er zieht den Entscheid ans Berner Verwaltungsgericht weiter. Seine finanziellen Forderungen listet er exakt auf. 1800 Franken Genugtuung (100 Franken pro Hafttag) für ungerechtfertigte Haft. Schadenersatz von 92 000 Franken für Ausfälle bei der Arbeit, dazu 4000 Franken für Anwaltskosten in England und knapp 9000 Franken für den Anwalt in der Schweiz. Inklusive Zinsen fordert er knapp 107 000 Franken. C. macht geltend, dass die Haft ungerechtfertigt gewesen sei.

Aus Sicht der Polizeidirektion wiederum war die Ausschaffungshaft gerechtfertigt. Denn es habe Untertauchgefahr bestanden. Und es bestünden «aufgrund der Aktenlage ununterdrückbare Zweifel» an der Echtheit des Passes.

Das Verwaltungsgericht äussert sich in seinem Urteil nicht endgültig, ob der Pass gefälscht ist oder nicht. Denn, so geben die Richter zu bedenken, immerhin habe der Nigerianer mit diesem angeblich gefälschten Pass im Mai 2008 problemlos aus London aus- und in Zürich einreisen können. Abklärungen vor Ort ergaben, dass C. über ein Aufenthaltsrecht in England verfügt.

Der Job mit dem Superlohn

Die höchste Forderung von C. betrifft den Schadenersatz: 92 000 Franken. Als «Test Manager im Softwarebereich» habe er täglich 450 Pfund (gut 650 Franken) erhalten. Dieses Geld, hochgerechnet auf 18 Tage, stehe ihm nun zu. Denn er sei am 23. Mai 2008 von der Firma Microsystems entlassen worden, wegen «unentschuldigtem Fehlen».

Die Angaben machen die Verwaltungsrichter stutzig. Denn zum einen hätte C. aus dem Regionalgefängnis Bern jederzeit seinen Arbeitgeber anrufen können. Zum anderen stellen sie fest, dass der 23. Mai gerade mal sein vierter Arbeitstag bei Microsystems gewesen wäre. Zuvor war C. Wachmann mit viel tieferem Lohn. Im ganzen Verfahren legt er nie einen Vertrag mit Microsystems vor. Auch rund um den Anwalt bleiben Fragen. Dessen Kanzlei fehlt die in England übliche Zulassung. Und wie beim Arbeitgeber gibt es ein Durcheinander mit Adressen und Namen.

Noch stutziger macht die Richter etwas anderes: Das Kündigungsschreiben ist auf dem gleichen Briefpapier (mit Wasserzeichen) verfasst wie die Schreiben des angeblichen Anwalts von C. in London - und in gleicher Schrift. Die Schlussfolgerung: Alle diese Dokumente stammen wohl vom gleichen Verfasser. Das Verwaltungsgericht lehnt den Schadenersatz ab.

«Er wäre ja eh ausgereist»

In einem anderen Punkt geben die Verwaltungsrichter C. recht. Denn die Verhaftung und die Ausschaffungshaft seien kaum nachvollziehbar. C. habe ja eine Reservation für den Rückflug vorgelegt. Da hätte es gereicht, dafür zu sorgen, dass er die Ausreise wirklich antrete - notabene ja am Tag der Verhaftung.

Für die Richter ist deshalb klar: Die Ausschaffungshaft für C. war im Nachhinein betrachtet ungerechtfertigt - egal, ob der Pass echt ist oder nicht. Der Kanton muss C. deshalb nun 100 Franken Genugtuung pro Hafttag zahlen.

Genugtuung

wrs. Gemäss der Berner Kantonsverfassung hat eine Person nicht nur dann Anrecht auf vollen Schadenersatz und allenfalls Genugtuung, wenn sich ein Freiheitsentzug als widerrechtlich erweist. Sie hat auch bereits Anspruch darauf, wenn der Freiheitsentzug ungerechtfertigt war. Unter diese Bestimmung fällt jede Form von Freiheitsentzug, auch die Ausschaffungshaft wie im Fall des Nigerianers C. (siehe Haupttext).

Widerrechtlich ist eine solche Haft, wenn ihre Anordnung auf einer Verletzung von Rechtsnormen beruht.

Als ungerechtfertigt gilt eine Haft, die zwar rechtmässig angeordnet wurde, die sich aber nachträglich als unbegründet herausstellte - wie nun laut dem Verwaltungsgericht bei C.

*Name der Redaktion bekannt

Stichwörter: Biel, Ausschaffung

Kommentare

Demokrat

Mir kommen ab einem solchen Widersprüchlichen Artikel die Tränen! Das Bielertagblatt schwenkt immer mehr nach links ab.


faktus

Wird mir als Schweizer, der 52 Jahre direkte und indirekte Steuern bezahlt hat und nie eine Sozialhilfe-Eingangstüre öffnete, auch solche mediale Aufmerksakeit geschenkt und Entschädigungsgeld bezahlt, wenn ich je mals in irgend eine dubiose Widersprüchlichkeit verstrickt bin? Fragen darf man immer, wenn man die Antwort nicht scheut!


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