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Dezemberkinder werden seltener gefördert

Wer spät im Jahr geboren ist, wird im Leistungssport weniger gezielt unterstützt. So gehen beispielsweise im Fussball und Eishockey viele Talente verloren.

Ältere Nachwuchsspieler der gleichen Altersklasse werden eher für Auswahlmannschaften selektioniert und erhalten positiveres Feedback von Trainern. Wer körperlich noch nicht weit entwickelt ist, muss sich stärker anstrengen, um wahrgenommen zu werden. zvg

Michael Romann und Jörg Fuchslocher

Haben Sie ein talentiertes Kind, das Fussball-, Ski- oder Eishockeyprofi werden will? Die Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel zu erreichen, hängt auch davon ab, wann ihr Kind geboren wurde. Ist es im Januar geboren, ist die Chance, dass ihr Kind als «Talent» entdeckt wird, um ein Vielfaches höher, als wenn es im Dezember geboren wurde.

 

Talente gehen verloren

Tatsächlich ist es so, dass relativ Ältere, das heisst Talente, die am Anfang des Jahres geboren wurden, in Nationalkadern stark überrepräsentiert sind. In der Schweiz sind die Geburtsdaten aller Kinder aber gleichmässig über das ganze Jahr verteilt. Es ist daher davon auszugehen, dass Talente auch gleichmässig übers Jahr verteilte Geburtsdaten haben. Untersucht man zum Beispiel die Geburtsdaten der Schweizer Jugend-Nationalspieler der Mannschaften U15-U18, so zeigt sich eine extreme Abweichung von der erwarteten Verteilung. Bei den Nationalmannschaften ist fast die Hälfte der Spieler (48 Prozent) zwischen Januar und März geboren, obwohl man nur 25 Prozent erwarten würde. Zwischen Oktober und Dezember sind nur noch 11 Prozent der Nationalspieler geboren. Betrachtet man die Geburtsmonate einzeln, zeigt sich, dass Januarkinder eine über fünfmal so hohe Chance haben, in ein Nationalkader selektioniert zu werden als Dezemberkinder. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es zu einem «Doppelfehler» bei der Talentauswahl kommt:

1. «Falsche Talente» werden gefördert. Das heisst, zu viele Spieler, die zwischen Januar bis März geboren wurden, werden auf Grund des höheren relativen Alters selektioniert. Darunter sind Spieler, die «nur» Dank ihrer momentanen körperlichen Vorteile bessere Leistungen zeigen, aber wahrscheinlich nicht zu den potenziell Besten gehören.

2. «Richtige Talente» werden nicht gefördert. Zwischen Oktober und Dezember geborene Spieler werden zu wenig unterstützt, da sie wegen ihrer momentanen körperlichen Nachteile weniger gute Leistungen zeigen. Hier gehen «echte» Talente auf Kosten der relativ Älteren verloren. Zudem wird deutlich, dass keine Chancengleichheit bei der Selektion besteht. Je früher ein Spieler im Jahr geboren ist, desto höher ist seine Chance, in einer Auswahlmannschaft zu spielen.

 

Teufelskreis des relativen Alters

Kinder werden im Sport in Jahrgänge eingeteilt. Dies hat zur Folge, dass Kinder, die im Dezember geboren sind, fast ein Jahr jünger sind, als Jahrgangskameraden, die im Januar geboren wurden.

Die relativ jüngeren Spieler erbringen durch die geringere Erfahrung und die weniger fortgeschrittene körperliche und psychische Entwicklung im Durchschnitt eine niedrigere Leistung. Dadurch werden sie nicht in Auswahlmannschaften selektioniert, können nicht von Fördermassnahmen profitieren und bekommen von den Trainern weniger positives Feedback. Dieser Teufelskreis kann langfristig zur Aufgabe des Sports und zum Verlust von potenziellen Talenten führen. Die relativ älteren Spieler haben einen Entwicklungsvorsprung, der zu einem besseren Spielverständnis, einer besseren Übersicht und schliesslich einer besseren Gesamtleistung führt. Durch die höhere Leistung schätzen Trainer daher relativ ältere Spieler tendenziell öfter als Talente ein. Dies wiederum führt zur Selektion für eine Auswahlmannschaft, zu besserer Förderung und zu mehr positivem Feedback von Trainern, der Familie und Mitspielern. Das Geburtsdatum kann also ein Stolperstein bei der Talentselektion und der sportlichen Karriere sein.

 

Erfolgsdruck ist gross

Schon im Nachwuchssport stehen Siege und Meisterschaften oft im Vordergrund. Die Nachwuchstrainer stehen unter Druck, Meisterschaftspunkte zu sammeln, um nicht ihren Job zu verlieren. Stattdessen sollten Trainer belohnt werden, die Spieler ausgebildet haben, die es später in den Profibereich geschafft haben. Funktionäre, Eltern und Medien müssen sich bewusst sein, dass im Nachwuchs nicht der kurzfristige Erfolg, sondern eine langfristige, nachhaltige Talententwicklung angestrebt werden sollte.

 

Lösungsvorschläge und Projekte

Auch auf internationaler Ebene ist die Problematik des relativen Alters bekannt. Wirksame Lösungen gibt es aber bisher noch keine. Die Schweizer Sportverbände haben hingegen schon erste Massnahmen implementiert. Um den Effekt des relativen Alters auf Ebene der Talentselektion zumindest kurzfristig zu berücksichtigen, können Bonuspunkte für Kinder und Jugendliche, die spät im Jahr geboren wurden, vergeben werden. Dieses System wird auch in dem Selektionsinstrument «Piste» angewendet, das von der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) im Auftrag von Swiss Olympic entwickelt wurde (siehe Zweittext). Zudem könnten strukturelle Änderungen, wie zum Beispiel kleinere Altersklassen, Quotenregelungen oder eine Rotation des Stichtages langfristig Besserungen bringen und den Talentpool qualitativ und quantitativ verbessern.

Auch das Projekt des Fussballverbands «Footeco» versucht auf das zukünftige Potenzial des Spielers zu fokussieren und hat zum Ziel, die jungen Spieler nicht zu früh zu selektionieren. Weiter wird darauf geachtet, nicht die körperlich stärksten Spieler (meist im ersten Halbjahr geboren) zu bevorzugen, sondern Elemente wie Technik, Spielintelligenz, Spielfreude und die Spielerpersönlichkeit noch stärker zu berücksichtigen.

 

Info: Michael Romann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der EHSM. Jörg Fuchslocher ist Leiter der Abteilung Trainingswissenschaften an der EHSM.

 

Erfolg nur mit zielgerichteter Förderung

 

Die Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) hat 2010 im Auftrag von Swiss Olympic, dem Dachverband des Schweizer Sports, ein Talentselektionsinstrument für die Schweizer Sportverbände entwickelt. «Nicht die aktuell Besten, sondern die Geeignetsten» lautet die simple Leitidee des Instruments. Es geht darum, bei der Talentselektion nicht nur auf aktuelle Wettkampfresultate zu schauen, sondern anhand multidisziplinärer Kriterien das Potenzial auf spätere Erfolge im Erwachsenenalter einzuschätzen. Das Talentselektionsinstrument «Piste» (Prognostisch Integrative Systematische Trainer-Einschätzung), berücksichtigt daher folgende Beurteilungskriterien:

•Wettkampfleistung •Leistungsentwicklung •Psychologische Faktoren •Athletenbiographie • Biologischer Entwicklungsstand

Klar ist, dass Erfolge im Spitzensport hauptsächlich ein Ergebnis einer langfristigen, zielgerichteten Talentförderung sind. Die Talentselektion ist ein Teilprozess, der ermöglichen sollte, möglichst viele «geeignete» Nachwuchstalente in die Talentförderung zu integrieren. Absolut zuverlässige Vorhersagen vor allem vor dem Ende der Pubertät sind aber kaum möglich. Daher sind Talentselektionen nur zu empfehlen, falls die Mittel für die Talentförderung beschränkt sind. Denn es besteht bei jeder Talentselektion das Risiko, einen möglichen späteren Olympiasieger zu übersehen. ehsm