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Welk sind die Blätter

Das Wort «welk» hat jetzt seine Zeit: Es bedeutet Endlichkeit, Vergänglichkeit. Es mahnt uns an den Herbst, den Herbst des Jahres, den Herbst des Lebens, die Gebrochenheit eines Körpers oder einer Seele.

Der Herbst des Jahres oder des Lebens kann noch einmal voller Farbe, Fülle und Lebensfreude sein. Bild: Keystone

von Christophe Pochon

Langsam erlöschen die roten und gelben Feuersäulen an den Waldrändern oder in den Gärten. Wenn die Sonne von Herbstwolken verschluckt wird, kann sie keine Strahlen mehr zu den Bäumen senden, und diesen fehlen mehr und mehr auch die Blätter, die im Licht wie Flammen zu züngeln schienen. Ein für diese Jahreszeit typisches Geräusch ist vielerorts zu vernehmen; es wird Laub zusammengerecht – zusammenrechnen möchte man es nicht angesichts der Mengen, die den Rasen zudecken. In einer Winterlandschaft werden Baumgerippe schwarze, kahle Äste in den Himmel strecken.

Noch aber ist Herbst: Auf Strassen, Trottoirs und in Parks kann man jetzt durch Haufen von Blättern laufen – das selbsterzeugte Rascheln ist ein Erlebnis oftmals sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Die Schritte vermögen weniger Unruhe in diese Masse zu bringen, als wenn ein Novembersturm sie aufmischt und verwirbelt. Es dominiert die Farbe Braun, von der Form her sind die Blätter – weil verdorrt – leicht gebogen oder ganz zusammengerollt. Sie sind welk – ein Wort, das zur herbstlichen Saison gehört. Sie sind verwelkt.

Nochmals auftrumpfen
Wenn sie zuvor noch an ihrem angestammten Platz an den Zweigen in Purpur oder in Gold loderten, so demonstrierte die Natur eine ihrer wunderbaren Spielarten. Auch der Herbst in einem Menschenleben kann noch einmal so richtig farbig sein und Fülle und Schönheit verkörpern. Es erweckt den Eindruck von Gesundheit und Vitalität, trumpft nochmals auf wie die leuchtenden Bäume in diesen Tagen. Eine bemessene Zeit.

Am Schluss wartet auf ein Baumblatt und den menschlichen Körper die Erde. Manchmal riecht ein welker Laubhaufen erdig, was keineswegs unangenehm ist: Es ist der Geruch unseres ureigenen Planeten, Erdgeruch gibt Bodenhaftung.

Wandel ins Gegenteil
Ein welkes Blatt ist matt, hat jeden Glanz verloren – ganz im Unterschied zum Wort, zu «welk», das in seiner Kürze klanglich recht kräftig tönt. Eine gefühlte Widersprüchlichkeit; es existiert aber auch eine tatsächliche, wie ein Blick auf Herkunft und Geschichte des Wortes ergibt: Auf Althochdeutsch bedeutete «welc» und auf Mittelhochdeutsch «welc(h)», «wilch» unter anderem auch «feucht». Aber «welk» ist heute ein Synonym für «vertrocknet», «tot», «abgestorben». Für das Gegenteil von «feucht» also. Ein welkes Blatt wirkt äusserst brüchig, und man kann sich nicht vorstellen, es enthalte auch nur noch einen Tropfen Feuchtigkeit.

Für das Etymologische Wörterbuch des Deutschen (dtv) ist die Annahme nicht bewiesen, dass das althochdeutsche «welkēn» – die Feuchtigkeit, die Säfte verlieren – im entsprechenden Sinne das Adjektiv «welk» beeinflusst habe. Das Lexikon hält einfach eine Bedeutungsentwicklung von «feucht, faulig» zu «abgestorben, verdorrt» für denkbar. Solche Phänomene gibt es. Welch ein Paradox, dass gerade «welk», das heute einen direkten Bezug zu Tod und Verwesung herstellt, die Lebendigkeit der Sprache beweist.

Wenn ein Blumenstrauss kein Wasser bekommt, wird auch er welk, die Blumen lassen ihre Köpfe hängen, unabhängig von der Jahreszeit. Wenn der Salat, der noch im Boden steckt, plötzlich welkt, sind oftmals Schädlinge daran schuld. Aber auch ein Salat, der zu lange am Buffet angeboten wird, verändert sich und wird welk. Er macht schlapp und den Hungrigen läuft bei seinem Anblick nicht mehr das Wasser im Mund zusammen.

Wenn ein Mensch seinen Durst nach Leben nicht befriedigen kann oder darf, etwas an ihm nagt, ihn innerlich vielleicht langsam auffrisst oder er keine Pflege, keinen Zuspruch findet, dann verdorrt auch er, welkt – manchmal geschieht das vorzeitig, lange vor dem biologischen Herbst seiner Existenz, in den Jahren, in denen er eigentlich in seiner Blütezeit stehen sollte. Freude nährt, verjüngt sogar, Leid und Kummer, ein Schicksalsschlag, ein Trauma zehren an jemandem, können seine Seele welk werden lassen. Vorgetäuschte Fröhlichkeit vermag schlimme Erfahrungen zu überspielen, aber hält die Schminke ewig?

Wer glücklich ist und einen normalen physischen Alterungsprozess durchläuft, kann nicht verhindern, dass seine Haut, sein Äusseres, welk wird. Ein solcher Mensch sollte in Würde welk werden. Die Blätter im Herbst können da zum Nachdenken veranlassen.
 

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