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Kolumne

Der Riss

So etwas wie die Familie Mann ist selten: Heinrich, Thomas – die Reihenfolge ist absichtlich so gewählt –, Klaus, Erika, Golo, alle mit ähnlicher DNS ausgestattet, mit dem Gen der Literatur gesegnet (mir gefällt «geschlagen» besser). Schriftsteller sind in der Regel Familienunikate, um nicht zu sagen, genealogische Irrlichter.

Rolf Hubler

Rolf Hubler

Und doch: Im Spanien des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden kurz nacheinander (1874 und 1875) zwei Brüder geboren, die beide die Literatur, und in ihr insbesondere die Lyrik, zu ihrem Beruf und zu ihrer Leidenschaft machten: Manuel und Antonio Machado. Wer die Bilder aus Paris ansieht, die 1900/1901 aufgenommen wurden, kann den sowohl begabteren und – wie sich später zeigen sollte –auch edleren der beiden Brüder (Antonio) sehen an der Seite von Literatur-Persönlichkeiten wie Rubén Darío, Paul Verlaine oder Oscar Wilde. Die Bilder atmen vor allem eines: Aufbruch. Viele Türen stehen offen; es ist, als würde die Biographie das Wesen der Literatur spiegeln: Kommt, lasst uns gehen, ins Offene hinein.

Aber dann schlugen das Schicksal und später auch die Geschichte zu.

1909 hatte Antonio geheiratet. Das junge Eheglück – jung ist in in diesem Zusammenhang wirklich bedeutsam: Antonio war bei der Heirat 34, seine Frau Leonor Izquierdo 17 – zerbricht: Leonor stirbt an Tuberkulose. Es gibt ein herzzerreissendes Gedicht von Antonio, in dem er beschreibt, wie der Frühling um ihn herum aufplatzt, während er zum «Alto Espino» hochsteigt, wo sich das Grab seiner Frau befindet. Der Aufbruch der Natur schmerzt nur noch. Ein Gedicht, das ich seit 25 Jahren immer mit mir trage, wie einen fahl schimmernden Rubin.

Die Geschichte schlägt in Form der finsteren, bestiefelten Franquisten zu. Und der Riss, der sich in der Gesellschaft auftut, setzt sich fort bis in die Familie: Während sich Antonio auf die Seite der Franco-Gegner schlägt und die Republikaner unterstützt, macht sein Bruder gemeinsame Sache mit der Mörderbrut. Die Türen schwingen alle zu. Manuel sollte später sogar ein bewunderungsbesoffenes, peinlich dummes Gedicht auf den Caudillo schreiben, aus dem Worte wie «friedvoll», «gottgegeben» und «lächelnd» triefen. Das hatte er früher wirklich besser gekonnt. Das Gedicht fand unter Franco seinen Weg in die spanischen Schulbücher, während jene von Antonio verboten wurden. Heute ist das wieder umgekehrt – post mortem ein schwacher Trost.

Antonio muss zusammen mit seiner Mutter vor dem Regime flüchten, von Madrid über Valencia nach Barcelona. In meiner Erinnerung geht die Geschichte so, dass sich die beiden aus den Augen verlieren auf der Flucht, Antonio schafft es bis nach dem französischen Collioure, ein paar Kilometer hinter der spanischen Grenze. Aber die Flucht hat zuviel Kraft gekostet, er stirbt einsam in einem Hotel, an Erschöpfung. Seine Mutter übernachtet kurz darauf auch in diesem Hotel und stirbt dort ebenfalls an Erschöpfung, drei Tage nach ihrem Sohn, ohne Kenntnis von dessen Schicksal zu haben. Wohl zum Glück. Vielleicht ist das aber schon der Roman, an dem ich herumstudiere, und entspricht den Tatsachen nicht wirklich.

Ich ging nach Collioure, um sein Grab zu sehen. Es lagen verwelkte Rosen, schön geformte Steine und sogar eine Patronenhülse auf dem Grab, stille Grüsse von heutigen Republikanern: Ein privater Ort, anders als das in der Nähe liegende, berühmtere und irgendwie inszenierte Grab mit zugehöriger Gedenkstätte von Walter Benjamin in Port Bou. Wenn Touristen Gräber besuchen, dann Letzteres.

Während Antonio zur sogenannten «Generation 98» gehörte, die aus der Implosion des spanischen Weltreichs nach dem Verlust der letzten Kolonien und der vernichtenden Niederlage im Krieg gegen die USA 1898 den Schluss zog, das Weltreich selbst könnte der falsche Ansatz gewesen sein, zog Manuel den gegenteiligen Schluss: Er wollte das strahlende Weltreich, «in dem die Sonne nie untergeht», zurück. Von diesem Wunsch führte ein direkter Weg nach Guernica.

Ich sehe zahlreiche Parallelen zu heute. Viele Referenden sind heute Referenden über die moderne, verwickelte, offenbar nur schwer zu durchschauende Welt und Ausdruck der nostalgischen Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die entweder beschönigt und mythologisiert wird oder die es so gar nie gegeben hat. Der Riss wird zum Graben. An den Machados kann man exemplarisch nachvollziehen, wohin das führt.

(Ich habs nicht so mit Hymnen. Mir liegen Elegien besser.)

Info: Rolf Hubler ist ehemaliger Präsident der Literarischen Biel. Seither Mehrleser. Und Mehrarbeit an einem Roman.

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