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Gedächtnis

«Nicht verstehen, aber spüren»

Wenn wir Menschen begegnen, arbeitet unser Hirn auf Hochtouren. Das sorgt zusammen mit anderen Aktivitäten für Lebens-qualität bis ins hohe Alter. Wie das funktioniert, erklärt der Neurologe Hans Pihan.

Symbolbild: Pixabay

Hans Pihan, der Titel des Vortrags morgen in der Residenz au Lac lautet «Begegnung fördert das Gedächtnis» – wie geht das?
Hans Pihan: Ein Beispiel: Wenn Sie jemanden nach Jahren wieder treffen, den Sie einmal in den Ferien kennengelernt haben, kommen mit der Begegnung Erinnerungen an diese Ferien hoch. Aktiviert werden zum Beispiel Bilder aus der Umgebung, Inhalte von Gesprächen und vor allem auch Gefühle. Das bedeutet, dass über den sozialen Kontakt Erinnerungen und Gefühle früherer Erlebnisse wieder abgerufen werden können. Aber dabei passiert noch viel mehr im Hirn.

Was denn?
Spezielle Nervenzellen, die Spiegelneuronen, bewirken, dass man sein Gegenüber innerlich imitiert. Sehe ich etwa jemanden, der mit einem Schreibstift spielt, dann weiss ich genau, wie das wäre, wenn ich das selber machen würde. Das heisst, diese Handlung oder zumindest die Bereitschaft dazu findet in mir selbst auch statt, und das passiert automatisch.

Also schon nur, wenn ich andere Menschen beobachte, regt das meine Hirnzellen an?
Genau. Die Spiegelneuronen und deren Verbindung mit anderen Hirnregionen veranlassen, dass wir aufgrund von Gestik, Mimik und Stimme des Gegenübers, die wir innerlich imitieren, viel über den Gefühlszustand und die Absichten des anderen erfahren. Wir verstehen sie nicht unmittelbar, aber wir können sie häufig als eine Art Bauchgefühl spüren. Und diese Resonanz ist die eigentliche Kraft von positiver Begegnung. Dieser Austausch mit anderen Menschen, und vor allem emotional geprägte Beziehungen, wirken stark auf unser Hirn.

Inwiefern?
Wissenschaftlich lässt sich das bislang noch nicht schlüssig erklären. Man weiss aber, dass Menschen, die ihr Hirn geistig, sozial und emotional beschäftigen, ein geringeres Risiko haben, an einer Demenz zu erkranken, als jene, die das nicht tun. Entscheidend erscheint mir aber das Gesamtpaket aus guten sozialen Beziehungen, geistiger und sportlicher Aktivität sowie einer gesunden Lebensführung. Ebenso wichtig ist, dass man sich bei dem, was man alltäglich tut, auch wohlfühlt. Es gibt Menschen, die lieber zurückgezogen leben oder die Angstgefühle in Gruppen haben. Das Mass an Begegnung, welches die Gesundheit oder die Lebensqualität steigert, ist individuell verschieden. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was er braucht, um sich wohlzufühlen.

Aber gerade Menschen über 80 stammen noch aus einer Generation, die nicht gewohnt ist, an sich selber zu denken – wie bringen Sie diese dazu, sich zu überlegen, was ihnen denn guttun würde?
Ich würde ihnen sagen, dass sie viel geleistet haben und sich nun die Zeit nehmen sollten, das herauszufinden und zu tun, was ihnen wirklich wichtig ist. Ich würde ihnen aber auch sagen, dass sie sich selber bleiben sollen. Oder sich selber werden, falls sie es noch nicht sind. Ich bin überzeugt, dass man auch in höherem Lebensalter neue Seiten an sich entdecken und intensive Erlebnisse haben kann.

Ist soziale Isolation bei Ihrer Arbeit in der Praxis ein Thema?
Ja, fast täglich. Und zwar in der Form, dass die Beziehung von Eltern und Kindern nicht selten entfremdet ist. Hier spielt die räumlich getrennte Lebensführung eine Rolle. Wenn die Eltern krank werden und die Kinder unterstützend eingreifen möchten, kann dies von den älteren als Bedrohung ihrer Unabhängigkeit empfunden werden. Diese Beziehungsferne kann auf beiden Seiten Gefühle der Isolation oder der Einsamkeit auslösen. Diese gefühlte Einsamkeit ist viel häufiger als diejenige von Menschen, die nur wenige Sozialkontakte haben und sich damit arrangieren. Eine andere, in meinen Augen bedeutende Form von Einsamkeit ist jene von Paaren, bei denen ein Partner dement wird.

Wie meinen Sie das?
Der Erkrankte steht als Partner für eine geistige Auseinandersetzung nicht mehr zur Verfügung. Er erweckt den Eindruck, sich in eine andere Welt zurückzuziehen, in die der andere nicht folgen kann. Man verliert den Partner, obwohl er noch da ist. Dies schafft erheblichen Leidensdruck bei den Angehörigen. Bei Demenzkrankheiten entstehen Einsamkeitsgefühle vor allem bei der Bezugsperson.

Wie kann man damit umgehen?
Der Gesunde muss sich in einer neuen zusätzlichen Rolle akzeptieren. Er ist mehr Therapeut und weniger Partner und bekommt dadurch auch eine andere Verantwortung. Ich empfehle Betroffenen meist, in dem ihnen möglichen Umfang ein eigenes Leben zu führen, Begegnungen nach aussen zu suchen und nicht 24 Stunden an sieben Tagen einsam um den Partner zu kreisen. Es ist ein langer Weg, den Angehörige von Betroffenen in Angriff nehmen. Sie müssen früh beginnen, vom kranken Partner Abschied zu nehmen und sich in einer neuen Rolle und Verantwortung zu finden.

Gibt es auch positive Erlebnisse in der Begegnung mit Demenzkranken?
Ja. Gerade heute war ein Pärchen in meiner Praxis. Sie ist mittelschwer dement. Er sagte, er habe seine Partnerin auf geistiger Ebene zwar verloren, aber gefühlsmässig seien sie sich nähergekommen. Man unterschätzt in der Medizin die emotionale Komponente von Demenz. Das Gefühlsleben ist resistenter gegen den Verfall als der Verstand.

Interview: Brigitte Jeckelmann

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