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Erster Weltkrieg

Wenn ein Nussbaum der letzte Freund ist

Im Spätherbst 1917 publiziert das «Bieler Tagblatt» zwischen den Nachrichten einen kurzen Text von berührender Melancholie. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs, der letzten grossen Hungersnot in der Schweiz.

Wer war O.H.? Der unbekannte Poet schrieb vor hundert Jahren im BT einen berührenden Text über einen alternden Nussbaum. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Lotti Teuscher

«Wo er steht? Drüben am See, dass die Flut feine Wurzeln tränkt – ein mächtiger Nussbaum, hoch und breit und alt. Zu ihm hinaus pilgere ich in meiner Einsamkeit und mit ihm rede ich und ihm klage ich, wie ich mit Menschen nicht reden und ihnen nicht klagen könnte. Er versteht mich und wenn er zufrieden ist mit mir und mich trösten will, dann rauschen seine Blätter leise auf und ein weiches Beben geht durch sein weites Geäst.»

Vor hundert Jahren ist das BT wie alle Tageszeitungen eine Bleiwüste. Bilder sind inexistent, alle Texte sind einspaltig und in Kurrentschrift. Inmitten ständiger Rubriken wie «Der Krieg» oder «Neustes und Telegramme» findet sich dieser poetische Text. Die Spitzmarke lautet «Stadt Biel», der Titel ist kurz und bündig: «Der alte Baum», versehen mit dem Kürzel O. H. Und wie hat es die Ode an den Nussbaum auf eine Seite mit Nachrichten geschafft? Verfasst von einer Frau oder einem Mann? Geschrieben in der Not oder oder aus Freude an der Poesie?

 

Krieg und Missernten
November 1917. Der Erste Weltkrieg und der verschärfte Wirtschaftskrieg stellen die Landesversorgung der Schweiz vor grosse Probleme: Die Schweiz ist zu einem hohen Grad vom weltweiten Handel abhängig, sie führt grosse Mengen Nahrungsmittel ein.

1916 zerstören Schnee, Regen und Kälte einen grossen Teil der Ernte. Nach einem Temperatursturz am 4. Juni fällt bis auf 500 Meter viel Schnee. Die feste Schneedecke walzt Heuwiesen und Getreidefelder platt; im Juli setzt Dauerregen ein. Im Jahr 1917 folgt ein eiskalter Frühling, die Vegetationsphase setzt ungewöhnlich spät ein.

Nach zwei Missernten und drei Jahren Krieg sind auch die letzten Lebensmittellager fast leer. Die grösste Furcht der Menschen gilt einer feindlichen Invasion. Die zweite grosse Sorge: der Hunger.

Es fehlt an allem: Butter, Käse, Milch, Fett, Reis, Mais, Zucker, Hafer, Gerste, Kartoffeln und Fleisch. Ab dem 1. Oktober 1917 müssen auch Brot und Mehl rationiert werden. Die Gemeindebehörden, verantwortlich für das Rationieren und Verteilen der Nahrungsmittel, sind heillos überfordert. Dies verschärft die Hungersnot zusätzlich.

 

Ein Kilo Fleisch: 54 Franken
Und obwohl die Löhne tief bleiben, werden die Nahrungsmittel immer teurer. Umgerechnet kostet ein Kilo Kartoffeln 5.20 Franken, ein Liter Milch 6.30 Franken, ein Kilo Schweinefleisch horrende 154 Franken. Im Schnitt geben die Menschen 45 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus.

«Nun ist der Winter da, draussen in der Natur und auch im Leben, der Winter, der die Seele niederdrückt und alle Hoffnungen zerstört hat. Rau geht der Wind durch die wenigen Blätter, die mein Baum noch behalten hat. Wehmütig und traurig zittert er durch das klagende Geäst und zu meinen Füssen seufzen die Wellen, die der bang atmende, graue, dunkle See an die stillen Ufer wirft.»

Leidet O. H. an Einsamkeit, ist ein geliebter Mensch gestorben? Fürchtet er das Alter und damit das Schwinden seiner Arbeitskraft, weil er von der «Notstandunterstützung» kaum überleben könnte? Kann er Miete und Heizung nicht mehr bezahlen, weil die teuren Lebensmittel sein Budget sprengen? Ist er deprimiert, weil sich bereits abzeichnet, dass die Reallöhne um bis zu 30 Prozent fallen werden? Oder ist O. H. schlicht ein Romantiker, der die herbstliche Melancholie wortreich beschreibt?

 

Hungerkrawall in Biel
Die Lebenshaltungskosten – Nahrungsmittel, Brennstoff, Miete – steigen zwischen den Jahren 1914 bis 1917 bis um 130 Prozent. In den Städten wie Biel gar um 150 Prozent. Der sogenannte Burgfriede, das 1914 bei Kriegsausbruch abgeschlossene Stillhalteabkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zerbricht. In Biel kommt es zum «Hungerkrawall»: Am 8. Juli 1917 wird ein protestierender junger Mann von der Ordnungstruppe erschossen. Die Proteste der verarmten Bevölkerung gipfeln ein Jahr später, im November 1918, im Generalstreik. Strassenschlachten zwischen Demonstrierenden, Polizei und Militär fordern vier Tote. «Der See – auch er hat sich in Freudlosigkeit und Trauer gehüllt. Seine Wasser leuchten nicht mehr, verstummt ist das Lied seiner lockenden Flut, kalt weht es über die Wasser, kalt, als ob der Hauch aus tiefen Gräbern heraufsteige.»

Denkt O. H. an den erschossenen Bieler, während er diese Zeilen schreibt? An hungernde Frauen und Kinder? An frierende Alte und Arme? An die Soldaten, die in den Bunkern im Jura darauf hoffen, dass es nie Konfrontation mit feindlichen Truppen geben wird? Denn ihre Rettung ist nicht vorgesehen, die Soldaten würden geopfert. Ihre Aufgabe ist es lediglich, so lange die Stellung zu halten, bis sich die Privilegierteren in die Reduits in den Alpen zurückgezogen haben.

Die Schweizer Soldaten und die Bevölkerung werden ohnehin erbärmlich geschützt und versorgt: Stahlhelme sind erst ab Januar 1918 verfügbar. Die 100 000 bis Kriegsende beschafften Gasmasken hätten nur kleine Teile der Armee und der Bevölkerung geschützt. Durchschnittlich leisteten die Wehrmänner 500 Tage Dienst – bei sehr geringem Sold und ohne Verdienstausfallentschädigung. Viele Familienmitglieder der Soldaten darben.

 

Der letzte Halt
«Die Flut rauscht stärker, mein Baum erbebt – das letzte Blatt aus seiner Krone fällt zu meinen Füssen, das letzte Lichtlein in meiner Seele ist erloschen. Ich wandere in die werdende Nacht hinein, in den Sturm hinaus. Meine Gedanken, mein Sehnen und meine Wünsche gehen zurück – auch ich bin einmal in der Sonne, im strahlenden, freudigen Tage gegangen und das war schön und bleibt mein Halt und bleibt mein Licht...» Ist O. H. ein Dichter? Einer, dem es Spass macht, mit Worten zu spielen und sie zu melancholischer Prosa zusammenzufügen?

Die letzten Zeilen erzählen etwas anderes: Wer Trost nur noch in der Vergangenheit findet, glaubt nicht mehr an eine bessere Zukunft.

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Erster Weltkrieg

  • Dauer: 1914 bis 1918
  • Etwa 40 Länder waren betroffen, wichtige Kriegsbeteiligte waren Deutschland, Österreich, Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien sowie Frankreich, Grossbritannien und das Britische Weltreich, Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien, Japan und die USA.
  • Es starben etwa 17 Millionen Menschen. LT
Stichwörter: Nussbaum, See, Text, O.H.

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