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Wochenkommentar

Was heute vor 77 Jahren passiert ist

Heute vor 77 Jahren hat sich Unfassbares ereignet. Am 28. September 1941 gaben die deutschen Besatzer in Kiew folgende Bekanntmachung heraus:

Bild: mak

«Saemtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September 1941, um 8 Uhr, Ecke Melnik- und Dokteriwski-Strasse (an den Friedhöfen) einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Wäsche usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.»


Und so fanden sich zum angegebenen Zeitpunkt tausende Menschen ein. Viele glaubten oder wollten glauben, dass sie deportiert würden. Doch die Deutschen, Angehörige der Wehrmacht und von SS-Sonderkommandos, unterstützt von der ukrainischen Miliz sowie von ukrainischen Nationalisten, trieben die Menschen in die Schlucht von Babij Jar und erschossen sie. Ein ganzer Tag reichte nicht, um «das Werk zu vollenden», wie man das damals wohl formuliert hat: 36 Stunden wurden benötigt, um in Babij Jar insgesamt 33 771 Menschen zu töten. Ein beispielloses Massaker. 


Damit ist die grausige Geschichte von Babij Jar noch längst nicht zu Ende erzählt. In der Weiberschlucht, wie der Ort auf Deutsch heisst, wurde bis 1943 gemordet. Nebst weiteren Juden fanden dort auch Partisanen, Kriegsgefangene, spontan verhaftete Passanten oder Priester ihren Tod. Weil man irgendwann zu zählen aufgehört hat, weiss man heute nicht genau, ob die Schlucht 100000 oder eher 200000 Opfer hervorbrachte. Im Sommer 1943 nahte die Rote Armee, und die Deutschen machten sich mit 327 Kriegsgefangenen aus einem benachbarten Konzentrationslager daran, die Spuren zu verwischen. Die Toten wurden ausgegraben, aufgestapelt und verbrannt, und die Knochen anschliessend zermahlt. Die Ausführer und Mitwisser wurden wiederum ermordet, lediglich 14 dieser Kriegsgefangenen konnten fliehen und später vom Erlebten berichten.


Da auch unter Stalin der Antisemitismus grassierte, wurden die Geschehnisse von Babij Jar in der Sowjetunion jahrzehntelang mit Schweigen verhüllt: Dies geschah auch plastisch, denn eine Ziegelfabrik füllte die Schlucht mit ihren Abfällen auf. 1961 brach ein Damm, und eine Schlammlawine tötete gemäss Schätzungen bis zu 1500 Anwohner.


Mit den politischen Veränderungen in der Sowjetunion während des «Tauwetters» kehrte die Erinnerung zurück. Heute ist Babij Jar, das damals am Stadtrand von Kiew lag und mit den Jahren von der Stadt umschlungen wurde, ein Stadtpark, mit U-Bahn oder Bus zu erreichen. Wer mehr über die Geschichte dieses Ortes erfahren will, wird in den Berichten von Anatoli Wassiljewitsch Kusnezow, Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg und Ilja Altman oder auch im Roman «Vielleicht Esther» von Katja Petrowskaja fündig.


2018 heisst es nun plötzlich vielerorts, die aufgeheizte Weltlage ähnle jener in den 30er-Jahren. Es werden Grenzen gezogen und Hass versprüht. Wildfremde Menschen beschimpfen sich in den Sozialen Medien aufs Übelste oder wünschen einander den Tod. Und plötzlich werden öffentlich Dinge gesagt, die man vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte.


Dazu drei Beispiele aus der AfD: Parteipräsident Alexander Gauland im Juni: «Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.» Lars Steinke, Landeschef der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) Niedersachsen: «Stauffenberg war ein Verräter.» AfD-Fraktion Hochtaunuskreis im August: «Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Strasse gezerrt. Darüber sollten die Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken, denn wenn die Stimmung endgültig kippt, ist es zu spät.»


Geschichtsverzerrung und Hetze sind nicht nur in Deutschland ein Thema, sondern weltweit. Offenbar geht vergessen, dass die Konsequenz aus den 30er-Jahren der Holocaust ist: Millionen von Opfern, Konzentrationslager, Babij Jar. Investieren wir unsere Energie statt in Hass auf Andersdenkende oder Andersaussehende deshalb besser in den Dialog. Auch dann, wenn es anstrengend ist. Und gedenken wir des Geschehens, das sich vor 77 Jahren ereignet hat.
E-Mail: abutorin@bielertagblatt.ch 

Stichwörter: Wochenkommentar

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