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Grossprojekte

Es braucht Kompromisse, nicht Konflikte

Wer soll bei einem Generationenprojekt demokratische Entscheidungsgewalt haben? Und wie könnte ein fairer Ausgleich zwischen Nutzniessern und Geschädigten aussehen? Der Ökonomie-Nobelpreisträger Ronald Coase hat einen Vorschlag.

Das Hochmoor von Rothenthurm: Dank der Schweizer Stimmbevölkerung ist diese Landschaft geschützt. Bild: Keystone
  • Dossier

Thomas Straubhaar

«Nützen oder Schützen?» ist eine der spannendsten Fragen der Menschheit. Soll die Natur erhalten bleiben, oder darf der Mensch sie für seine Zwecke nutzen? Sind seltene Insekten, vom Aussterben bedrohte Tier- oder Pflanzenarten dem Menschen so wichtig, dass er ihretwegen auf Überbauungen, Umfahrungsstrassen oder Autobahnen verzichten muss?

Auch wenn völlig unstrittig ist, dass es bei der Suche nach Antworten nicht um absoluten menschlichen Verzicht auf Eingriffe in die Umwelt gehen kann, ist genauso zweifelsfrei, dass eine völlige Vernachlässigung ökologischer Grundgesetze keine Lösung sein kann. Vielmehr gilt es immer wieder von Neuem, ökonomische und ökologische Interessen abzuwägen und ein kluges Gleichgewicht zu finden.


Gleiche Chancen 
für Kindeskinder
Spätestens seit der «Club of Rome» die Menschheit aufgerüttelt hat, dass ein «Weiter so wie bis anhin» in die ökologische Katastrophe führe, gibt es keine Zweifel mehr daran, dass nicht alles, was technisch machbar und wirtschaftlich sinnvoll ist, auch unbesehen der Auswirkungen auf Umwelt und Klima positiv zu bewerten und zu realisieren ist.

Die damalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland hatte 1987 einer Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen vorgestanden, die einen gut brauchbaren Kompass für die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen «Nützen oder Schützen» lieferte. Die Brundtland-Kommission wurde zur Hebamme des mittlerweile in die Jahre gekommenen Begriffs der «nachhaltigen Entwicklung». Damit war eine Entwicklung gemeint, «die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können».

Nachhaltig ist somit, was «generationengerecht» ist. Die Kindeskinder sollen die gleichen Chancen wie heute haben, ein selbstbestimmtes, glückliches Leben zu führen. Die Eltern und Älteren von heute sollen durch ihr Verhalten den Enkelkindern die Welt so hinterlassen, dass alle Möglichkeiten für mehr Wohlstand offenbleiben. Damit sind für die heutige Generation zwei Forderungen gleichermassen verbunden: Einmal «zu tun, was künftigen Generationen nützt», aber eben auch «zu lassen, was künftigen Generationen schadet».

Damit wird nun eine Frage besonders knifflig. Was ist vom Prinzip «Nützen oder Schützen» zu halten, wenn es nicht um einen Konflikt zwischen Mensch und Natur geht, sondern wenn es um Konflikte unter Menschen geht? Wie sich am Beispiel des Baus von Autobahnen oder Umfahrungsstrassen wunderbar veranschaulichen lässt, können die Konflikte zwischen Menschen auf zwei Arten entstehen: nämlich innerhalb der heute lebenden Generationen oder aber zwischen heutigen und kommenden Generationen.

Der Bau von Autobahnen und Umfahrungsstrassen verursacht zunächst einmal Kosten, Lärm, Staus, blockierte Zufahrtswege und unpassierbare Strassen. Anwohnerinnen und Anwohner haben eine Menge Stress. Sie erreichen kaum mehr ihr Zuhause, finden keine Parkplätze. Sie sind von Baulärm, Gestank und Rüttelarbeiten von frühmorgens bis spätabends über Jahre genervt. Wenn überhaupt je, profitieren sie vom Vorteil des Strassenbaus sehr lange überhaupt nicht.


Die Autobahn
kann auch nützen
Dass eines noch sehr fernen Tages eine Stadt von Verkehr, Abgasen und Stau entlastet wird, kratzt ältere Anwohner nicht mehr so sehr, da leben sie vielleicht schon ganz anderswo im Grünen oder im Seniorenheim. Und Jüngere können mit Fug und Recht auf den technologischen Fortschritt hoffen, der Autos durch selbstfahrende Elektrofahrzeuge ersetzt. Dazu können Entlastungseffekte kommen, wenn in einer Sharing Economy Menschen Fahrzeuge gar nicht mehr besitzen, sondern nur nutzen wollen und somit weit weniger Fahrzeuge als heute rumfahren und rumstehen werden. Warum sollten sie derartigen Baumassnahmen also zustimmen?

Andere jedoch, die weit(er) entfernt wohnen, leben und arbeiten, sind durch den Bau von Autobahnen und Umfahrungsstrassen kaum oder gar nicht betroffen. Wieso sollten sie dagegen sein? Sie dürften eher die aktuellen Vorteile positiv bewerten. Durch die Baumassnahmen entstehen Arbeitsplätze und Umsätze aller Art.


Standortgemeinden 
wehren sich
Wie soll man in einer Demokratie mit einem solchen Zwiespalt zwischen Leidtragenden und Begünstigten öffentlicher Baumassnahmen umgehen? Sollen nur die Anwohnerinnen und Anwohner entscheiden können?

Das wäre wohl das komplette Ende von Autobahnausbauten und dem Bau neuer Umfahrungsstrassen. Ja, es wäre wohl sogar überhaupt das Ende von Grossprojekten mit regionalem oder gar nationalem Interesse. Standortgemeinden würden sich immer mit Händen und Füssen dagegen wehren, dass die kommunale Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden soll für Baumassnahmen, Verkehrssysteme, Staudämme, Hochspannungsleitungen, Pipelines, Sportstadien und Entsorgungsanlagen, die einen nationalen Nutzen, aber lokalen Schaden verursachen.

Aber genauso wenig vermag eine Lösung zu überzeugen, bei der die Bevölkerung des gesamten Kantons oder gar aller Kantone mitbestimmen darf, was jetzt in einer einzelnen Gemeinde geschehen soll. Dann bestimmen Ortsfremde über die Lebensqualität einzelner Orte. Dann würden nach dem Sankt-Florians-Prinzip Menschen, die nur von den Vorteilen, nicht aber den Nachteilen betroffen sind, über das Wohlbefinden jener entscheiden, die den Schaden zu tragen haben. Das kann auch nicht gerecht sein!


Ein Beispiel:
 Das Hochmoor Rothenthurm
Gerade ältere Leserinnen und Leser des BT werden sich erinnern, wie die Rothenthurm-Initiative zum Schutz der Moore Ende der 1980er-Jahre die Eidgenossenschaft spaltete. Damals entschied das Schweizer Volk, dass «Moore und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und von nationaler Bedeutung Schutzobjekte sind. Es dürfen darin weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden. Ausgenommen sind Einrichtungen, die der Aufrechterhaltung des Schutzzweckes und der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung dienen. Anlagen, Bauten und Bodenveränderungen, die dem Zweck der Schutzgebiete widersprechen und nach dem 1. Juni 1983 erstellt werden, insbesondere in der Moorlandschaft von Rothenthurm auf dem Gebiet der Kantone Schwyz sowie Zug, müssen zulasten der Ersteller abgebrochen und rückgängig gemacht werden. Der ursprüngliche Zustand ist wieder herzustellen.»

Was aus vielen guten Gründen für eine Mehrheit (58 Prozent stimmten dafür) der abstimmenden Schweizer Bevölkerung (die Stimmbeteiligung betrug 47 Prozent) beschlossen wurde, bedeutete nicht nur einen massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Standortgemeinde Rothenthurm, die sogar alte Entscheidungen rückwirkend zu korrigieren hatte. Es war auch eine Entscheidung, die von Schweizerinnen und Schweizern gefällt wurde, die in gar manchem Falle nachweislich nicht einmal wussten, wo Rothenthurm liegt, nie dort waren und keine Ahnung davon hatten, in welcher Weise nun genau im Hochtal zwischen Biberbrugg und Rothenthurm die Moorlandschaft gefährdet gewesen wäre.


Die Zukunft 
hat keine Stimme
Natürlich ist es in einer Demokratie gutes Recht, dass alle abstimmen dürfen, auch wenn sie sich nicht informiert haben, worum es geht. Es darf keinen Zwang geben, erst eine Prüfung über die Abstimmungssachverhalte bestehen zu müssen, bevor man stimmberechtigt ist. Aber wenn Unbetroffene über das Schicksal von Direktbetroffenen entscheiden, entsteht ein gewisses Unbehagen.

Ein schlechtes Gefühl ergibt sich bei gewissen direktdemokratischen Entscheidungsverfahren auch mit Blick auf kommende Generationen. Autobahnen und Umfahrungsstrassen zu bauen, verursacht heute Nachteile und erst in ferner Zukunft Vorteile. Kosten und Lärm strapazieren die Nerven der Betroffenen heute. Kürzere Reisezeiten und weniger Autos in den Stadtzentren verbessern jedoch erst in vielen Jahren die Lebensqualität. Für die Demokratie bedeutet das: In der heutigen Generation, die das Grüne Licht für den Bau von Autobahnen und Umfahrungsstrassen zu geben hat, können alle Gegner hier und jetzt lautstark protestieren.

Viele der Nutzniesser jedoch sind noch gar nicht erst geboren oder noch so jung, dass ihre Zustimmung in der Gegenwart nicht zu hören ist, weil sie gar keine Stimme haben. Somit werden die Gegner von heute die Begünstigten von morgen überstimmen können. Grossprojekte, deren Nutzen erst künftigen Generationen zu Gute kommen, haben es sehr schwer, in Demokratien realisiert zu werden.


Schmerzensgeld
 für Betroffene
Was hat der Ökonom in dieser schwierigen Gemengelage für Lösungsideen anzubieten? Einem Nobelpreisträger, Ronald Coase, folgend, können Entschädigungszahlungen Abhilfe bringen. Bei demokratisch getroffenen Entscheidungen, die den Einen Nutzen stiften, den Anderen jedoch Schaden zufügen, müssten die Gewinner die Verlierer entschädigen. Also: Wird durch Abstimmung entschieden, Autobahnen und Umfahrungsstrassen zu bauen, müssen alle Steuerzahlende allen Direktbetroffenen ein Schmerzensgeld bezahlen. Wird entschieden, nicht zu bauen, müssen alle Direktbetroffenen, die nun Ruhe geniessen, anstatt unter Lärm leiden, alle anderen für deren Verzicht kompensieren.

Da der erste Fall, die Zahlung von Schmerzensgeldern, bei kommunalen Grossprojekten mit (über)regionaler Bedeutung eher praktikabel sein dürfte als der zweite Fall der Verzichtskompensation, spricht sehr viel dafür, diesem Weg zu folgen und ihn mit etwas Fantasie und Kreativität so zu verfolgen, dass er politisch mehrheitsfähig wird.


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Der aus Burgdorf stammende Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg. Bis September 2014 war er Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts HWWI.

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