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Verkehrspolitik

«Neue Strassen führen zu neuem Verkehr»

In der Diskussion um den A5-Westast in Biel prallen die Interessen der Stadtmenschen und der Agglomerationsbevölkerung aufeinander. Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern sagt: Beide Seiten haben legitime Anliegen.

Timo Ohnmacht, Professor für Verkehrspolitik, beobachtet derzeit in Luzern eine ähnliche Auseinandersetzung wie in Biel. Bild: zvg
  • Dossier

Interview: Tobias Graden

Timo Ohnmacht, seit Jahrzehnten wartet Biel auf die Fertigstellung der Autobahnumfahrung, der noch ausstehende A5-Westast ist eines der letzten noch zu bauenden Teilstücke des Nationalstrassennetzes. Warum dauert das so lange?
Timo Ohnmacht: Als man in den 1960er-Jahren das Nationalstrassennetz geplant hat, war es unter anderem ein Ziel, die Sprachregionen zu verbinden – Autobahnen haben eine integrative Wirkung, sie ermöglichen Interaktion zwischen Landesteilen. Stadtumfahrungen waren in der Entwicklungsphase eher nachgelagert. Darum sind solche Umfahrungen wie in Biel erst am Schluss des Nationalstrassenausbaus zu finden.


Erste Projekte dafür datieren aber aus den 70er-Jahren, das ist über 40 Jahre her – es wäre doch sinnvoll, diese Lücke nun endlich zu schliessen?
Es ist das jetzige Ziel des Bundesamts 
für Strassen als Exekutive, den Netzbeschluss zu verwirklichen und diese 
Lücken zu schliessen. Die Planungsprozesse dauern jedoch sehr lang. Dazu gibt es die Anekdote des Verkehrsplaners, der sein ganzes Leben lang an einer Umfahrung herumplant, und am Ende seiner beruflichen Karriere wird sie nicht gebaut – der hat ein Berufsleben lang für den Plan gearbeitet, nicht für die Umsetzung. Den anderen Grund sieht man in Biel: Dass nämlich verkehrspolitische Prozesse dahinterstehen und immer wieder Pro- und Kontra-Diskussionen geführt wurden. Der lange Prozess der Umsetzung zeigt also auch den langen Prozess der verkehrspolitischen Diskussion.


Die Gesellschaft entwickelt sich also auf eine Art weiter, dass man irgendwann womöglich zum Schluss kommt, das Projekt passe nicht mehr in die Zeit?
In den 60er-Jahren war der Anschluss der Städte an das Autobahnnetz sehr in Mode. Man hat damit Prosperität verbunden, Fremdenverkehr – gerade in Luzern gelangten dank des Autobahn-Anschlusses Touristen sehr rasch in die Stadt. Die Autobahnen verkörperten das Fortschrittsdenken, teilweise wurden Häuser und Wohnungen damit beworben, dass sie Blick auf die Autobahn boten, das war preissteigernd.


Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.
In der Tat. Heute gibt es sehr starke Bürgerbewegungen, welche die Stadt wieder stärker als auch grünen und lebenswerten Wohn- und Aufenthaltsort ins Bewusstsein rücken. Es gibt auch den Rückzug von Familien in die Dichte der Städte. Das war in den 70er-Jahren anders, da gab es etwa in Zürich Stadtteile wie das Seefeld, in denen keine Familien mehr wohnen wollten. Man hatte ein Auto und wollte ausserhalb im Grünen leben. Insofern kann man durchaus sagen, die städtischen Autobahn-Anschlüsse seien Entwürfe der 60er-Jahre, wie sie etwa Le Corbusier mit der «autogerechten Stadt» angedacht hatte.


In Biel heisst es jedoch, nur das Projekt mit den Anschlüssen entlaste die Stadt vom Verkehr, weil damit auch eine Reihe von verkehrlich flankierenden Massnahmen in der ganzen Stadt verbunden sei.
Dieses Argument stimmt durchaus. Nationalstrassen werden heute häufig auch als städtische Umfahrungsstrassen genutzt. Das sieht man etwa in Bern: Die Bevölkerung nutzt die Autobahnen, um die Stadt zu umfahren. Wenn eine solche Umfahrung mehrere Anschlüsse hat, wird sie ein Teil des städtischen Verkehrsnetzes. Die Zahlen des Bundesamts für Strassen zeigen, dass ein guter Teil des Verkehrs hausgemacht, also Binnenverkehr ist, die Agglomerationen mitgerechnet. Die Bevölkerung in den Agglomerationen hat durch die Zubringer sehr grosse Vorteile, weil sie sich nicht mehr durch die Stadt quälen muss.


Die Diskussion in Biel entzweit sich an den geplanten Anschlüssen. Einerseits wegen des Raumverbrauchs, anderseits in der Bewertung ihrer Wirkung: Die Gegner sagen, die Anschlüsse «pumpen» Verkehr in die Stadt hinein; die Befürworter finden, nur die Anschlüsse vermöchten den Verkehr zu kanalisieren und aus der Stadt herauszuleiten.
Es gibt verschiedene Anspruchsgruppen. Die städtische Bevölkerung sieht in erster Linie jenen Verkehr, der die Stadt zum Ziel hat. Dieser führt zu höheren Frequenzen. Die Agglomerationsbevölkerung sieht den Vorteil, rascher aufs nationale Netz gelangen zu können. Es gibt also zwei verschiedene Blickwinkel: den städtischen und den nationalen. Es ist das Ziel des Bundesamtes für Strassen, dass die Nationalstrassen so rasch wie möglich bedient werden können. Das heisst: Das untergeordnete städtische Netz muss auch entsprechend wachsen.


Was heisst das für die A5?
Für die A5 bedeutet das: Wenn sie ausgebaut wird, müssen die Zubringer auch ausgebaut werden. Das hat Folgen, es führt genau zu dem, was die städtische Bevölkerung belastet: zu den grossen Zubringersystemen, also den Stadtautobahnen, die heute kritisch betrachtet werden – weil sie städtische Quartiere zerschneiden, weil sie Mehrverkehr mit sich bringen. Es ist eine Form der «autogerechten Stadt», die so entsteht, und die ruft Opposition der städtischen Bevölkerung hervor, da ihr Lebensraum gefährdet wird. Grundsätzlich sind aber beide Positionen zu verstehen, es kommt eben auf den Blickwinkel an.


Für Biel gab es in den 60er-Jahren die Vision einer städtischen Hochautobahn mitten durch das Zentrum – solche Sachen will heute ja niemand mehr. Doch im Jahr 2005 verlangten in einer Petition 40 000 Menschen, dass die A5-Umfahrung Biels endlich gebaut wird, 2017 wurde die Petition gegen den Westast mit 10 000 Unterschriften eingereicht. Die gesellschaftlichen Veränderungen waren in diesen zwölf Jahren nicht umwälzend. Was ist also passiert?
Nun, man sieht daran wohl schlicht die Spaltung der Bevölkerung. Beide Seiten bringen die jeweiligen Vor- und Nachteile aus ihrer Sicht in den politischen Diskurs ein. Gegenüber 2005 ist allerdings das Bewusstsein dafür gestiegen, dass Städte lebenswert sein müssen. Das wird auch vom Uvek durch den raumsparenden Verkehr gefordert. Man nennt das Konzept «Stadt der kurzen Wege», ich spreche lieber vom «Lebensstil der kurzen Wege»: Es gibt in der Stadt einen zunehmenden Anteil von Menschen, die versuchen, Arbeiten, Wohnen und Leben in einem kleineren städtischen Aktionsradius zu bewältigen. Sie wollen weniger pendeln und haben ein stärkeres Bewusstsein für die lokale Infrastruktur und das Ortsbild. Wenn nun grosse Bauten wie Autobahnanschlüsse in Aussicht stehen, machen sie dagegen mobil.


Das Projekt Westast als Ganzes eröffnet in Biel aber auch neue städtebauliche Möglichkeiten. Kämpft man denn lieber für das bekannte Bestehende, auch wenn es suboptimal ist, als für das Kommende, das womöglich besser wäre?
Viele Menschen haben bei Infrastrukturen Mühe, sich etwas noch nicht Bestehendes vorstellen zu können. Deswegen braucht es bei so grossen Projekten einen partizipativen Einbezug der Bevölkerung. Auch sind solche Projekte sehr komplex, es ist für den Einzelnen schwierig nachzuvollziehen, was sie räumlich bedeuten. Die Bevölkerung muss durch Planungsworkshops abgeholt werden, mit Visualisierungen – Letztere gab es zwar in Biel durchaus, doch sie wurden kritisiert. Das lässt darauf schliessen, dass der Partizipationsprozess zu kurz ausgefallen ist. Ein Teil der Bevölkerung hat sich offenbar überrannt gefühlt, das hat zur kritischen Stimmung beigetragen.


Allen kann man es aber nun mal nicht recht machen, und das partizipative Element ist in Biel im Rahmen der geltenden rechtlichen Bestimmungen berücksichtigt worden. Das führt zur Frage: Lässt sich ein solch grosses Projekt überhaupt allgemeinverträglich gestalten?
Das kommt auf die Komplexität des Projekts an – und die ist hier überaus gross. Die Frage lässt sich jedoch nicht allgemein beantworten. Es kommt drauf an, welche Räume wie verändert werden, was dies für die Anwohner bedeutet, für den Verkehr, wer unter diesem leidet und wer nicht. Die Politik muss die Argumente beider Seiten spiegeln. Und die Befürworter müssen die Nachteile für die städtische Bevölkerung verstehen, und die Stadtbevölkerung muss umgekehrt die Anliegen der Agglomerationsbevölkerung verstehen. Denn Letztere kann häufig weniger gut auf ein öV-Angebot zurückgreifen und hat darum Vorteile durch die Autobahn.


In Luzern gibt es ähnliche Diskussionen rund um den sogenannten Bypass der A2/A14 und dem städtischen Zubringer der «Spange Nord». Sehen Sie Parallelen?
Es ist ein ähnliches Projekt – es geht zwar nicht um den Nationalstrassenausbau im engeren Sinne, aber um eine Engpassbeseitigung durch das Bundesamt für Strassen. Die Autobahn soll eine höhere Kapazität erhalten und die Stadt eine ausgebaute Zufahrt zur Autobahn. Das Nadelöhr in der Stadt, die Seebrücke, soll so entlastet werden; im nördlichen Stadtteil soll die Zufahrt zur Autobahn vereinfacht und erweitert werden durch die so genannte «Spange Nord». Die Zürichstrasse soll stellenweise von zwei auf drei Spuren erweitert werden, im Gegenzug sollen etwa Schulhöfe verkleinert und Grenz-Eichen gefällt werden. Die Zufahrten nehmen also die Form einer Stadtautobahn der 60er-Jahre an. Die Quartiervereine opponieren und fordern andere Lösungen.


Wie wird es herauskommen?
Es werden ähnliche Argumente vorgebracht wie in Biel. Der Bund sagt, er sei für das Nationalstrassennetz zuständig und die Kantone für die Zufahrten. Was die Ausgestaltung der «Spange Nord» betrifft, so ist der politische Prozess der Entscheidungsfindung somit eine kantonale Angelegenheit. Wenn sich der Kanton in Aushandlung mit der Stadt gegen die Zufahrten entscheidet, so wächst das nachgelagerte Netz nicht mit. Hier wird aktuell noch einiges ausgehandelt.


Die Terminologie ist interessant: Einen Bypass und eine Spange braucht es, um den Infarkt zu vermeiden.
Da kommen wir zum Thema «Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten».


Ist das so?
Dass der Satz zutrifft, ist vielfach bewiesen. Ich habe beim Bundesamt für Raumentwicklung die Verkehrsverhaltensdaten betreut. Seit 1994 haben die Tagesdistanzen um 25 Prozent zugenommen – bei fast gleichbleibender Reisezeit. Die Verkehrsleistung hat also zugenommen. Das bedeutet: Wenn man die Verkehrsinfrastruktur verbessert, führt dies dazu, dass in der gleichen Zeit längere Distanzen zurückgelegt werden können. Und die Menschen nehmen dies in Anspruch. Das gilt nicht nur für die Strassen, den gleichen Effekt gibt es beim öV. Darum steht mittlerweile der Viertelstundentakt bei der SBB bei hoher Nachfrage vielerorts zur Diskussion. Die Verbesserung der Infrastruktur induziert also Neuverkehr und führt zu einer Gesellschaft, die nach mehr Mobilität fragt. Auch auf lokaler Ebene führen somit neue Strassen aufgrund der Reisezeitgewinne zu neuem Verkehr.


Die Bevölkerung der Schweiz wächst jedoch weiter und die Mobilität nimmt zu. Der Bund rechnet mit einer weiteren Verkehrszunahme von 20 Prozent bis 2040. Da ist es doch unabdingbar, dass die Kapazitäten erhöht werden müssen?
In diesem Argument prallen die zwei Positionen aufeinander, wie es sie auch in Luzern und Biel gibt. Was der Bund macht, ist ein «Forecasting»: Auf Grundlage der Vergangenheit wird die Verkehrsleistung der Zukunft extrapoliert – wenn wir irgendwann die 11-Millionen-Schweiz haben, müssen wir die Infrastruktur entsprechend ausbauen. Was die städtische Bevölkerung macht, ist ein «Backcasting». Sie stellt sich die Frage: In welcher Stadt, in welchen Formen möchten wir leben, um den Verkehr einzudämmen? Da liegt es nahe, dass grosse Infrastrukturprojekte nicht gut ankommen. Verkehrspolitisch prallen diese beiden Sichtweisen aufeinander.


Es stellt sich allerdings auch die Frage, wie Prognosen in einer Zeit von Disruption überhaupt gemacht werden sollen, wenn man etwa an das mögliche Aufkommen autonomer Fahrzeuge denkt.
Die Gegner des Ausbaus von Strasseninfrastruktur bringen dieses Argument ein und zählen alle Elemente auf, die zu einer nachhaltigen Mobilität führen sollen. Ich sehe das mittlerweile eher kritisch.


Inwiefern?
Ich teile den Technikoptimismus, der – auch in Fachkreisen – in diesen Diskussionen steckt, nicht so ganz. Wenn Sie sich in Luzern auf die Seebrücke stellen, sehen Sie, dass die Mehrheit immer noch motorisiert unterwegs ist. Gruppen, die etwa Carsharing betreiben, sind zwar in den letzten Jahren gewachsen, aber gesamtgesellschaftlich gesehen immer noch marginal. In der Schweiz hat sich das Carsharing von 2005 bis 2010 von 
1,6 auf 3,2 Prozent der Führerausweisbesitzer verdoppelt, seither ist es aber kaum mehr gewachsen. Diese Mobilitätsformen werden die Massenmotorisierung also noch länger nicht verändern. Auch die Digitalisierung mit den zukünftigen autonomen Fahrzeugen stellt noch keine ernsthafte Lösung für die aktuellen Probleme bereit.


Die Technik zu verändern ist also einfacher, als beim Menschen eine Verhaltensänderung hinzubringen. So gesehen bleibt also nichts anderes übrig, als die Infrastruktur auszubauen.
Sagen wir es so: Wenn die zu treffenden Massnahmen nur auf den Goodwill der Menschen setzen, sind die Ergebnisse doch sehr enttäuschend. Das Verkehrsverhalten ändert sich dann, wenn staatlich und planerisch eingegriffen wird. Das sieht man beispielsweise in Singapur, wo eine Auto-Obergrenze staatlich verordnet wurde. Dort kriegt man nur dann ein Auto, wenn man auch einen Parkplatz hat, und neu kriegt man eines nur, wenn jemand anderes das seine abgibt.


Solche dirigistischen Massnahmen sind in der liberalen Schweiz nicht mehrheitsfähig.
Nicht nur in der Schweiz. Solche verhaltenseinschränkenden Massnahmen sind in ganz Europa schwierig umzusetzen. Man sieht nun aber im Automobilland Deutschland: Wenn der Leidensdruck gerade der städtischen Bevölkerung gross genug ist, kann es zu Änderungen kommen. In der Autostadt Stuttgart etwa ist die Feinstaubbelastung am Schwabentor bisweilen so hoch wie in den 60er-Jahren im Ruhrpott. Nun kommt es zu richterlichen Beschlüssen, dass die Grenzwerte eingehalten und Fahrverbote erlassen werden müssen. In der Schweiz ist offenbar der Leidensdruck nicht gross genug, um einzugreifen.


Gleichzeitig gibt es die anerkannten Klimaziele, auch die Schweiz will den Vertrag von Paris einhalten. Wenn man Ihnen zuhört, bezweifelt man, dass es in der geforderten Zeitspanne auch zu Lösungen kommt.
Da habe ich wohl etwas zu pessimistisch geklungen. Ich möchte einfach einen Gegenakzent setzen zur sehr optimistischen Haltung, die darauf vertraut, dass die technische Entwicklung schon alles richten werde. Und ich möchte darauf hinweisen, dass Dinge wie «mobility as a service» noch sehr städtische Dynamiken sind und dass es im Gegenzug nach wie vor viele Haushalte gibt, die auf das Auto nicht verzichten können.


Das Privatauto ist aber ein sehr ineffizientes Gerät – die meiste Zeit steht es nur rum. Haben Sie Rezepte, wie dies verbessert werden könnte?
Wichtig ist die Wesensgerechtigkeit.


Was heisst das?
Energetisch gesehen gibt es kein besseres Mobilitätsmittel als ein gut besetztes Auto auf der Autobahn. Das Problem ist eben, dass die Autos nicht wesensgerecht eingesetzt werden. Gerade im städtischen Bereich ist das Auto nicht das richtige Fahrzeug. Darum sind Entwicklungen wie «Park + Ride» nötig. Allerdings ist seit den 60er-Jahren sehr stark für das Auto geplant worden. Es gibt eine betongewordene Realität für Autos in der Stadt: Für sie ist sehr viel Platz reserviert. Und das Auto müsste besser besetzt sein als wie im Pendel- und Berufsverkehr mit durchschnittlich 1,1 Personen – etwa durch Car-Pooling.


Die Entwicklung in der Autobranche geht aber auch nicht in Richtung Wesensgerechtigkeit. Die trendigen SUVs sind im Verhältnis zu dem, was sie als Verkehrsträger leisten müssen, zu gross dimensioniert.
Das geht bereits so weit, dass das Bundesamt für Strassen darüber nachdenkt, die Strassenbreite zu erhöhen – wobei hier auch der Mischverkehr eine Rolle spielt. Dies zeigt trotzdem, dass die Automobilindustrie auch Akzente für die Infrastruktur setzt. Doch Raum ist ein begrenztes Gut, und solche Entwicklungen sind für den Stadtverkehr kontraproduktiv.


In der Schweiz kann man sich solche Autos eben auch leisten. Geht es uns zu gut, als dass wir die sich daraus ergebenden Nachteile wirklich angehen wollen?
Kaufkraft und Autodichte sind in der Schweiz sehr hoch. Wir sehen in unseren Studien aber auch, dass immer mehr Menschen multimodal unterwegs sind, sie können sich ein GA und ein Auto leisten.


Wie sähe denn die ideale Mobilität aus?
Die Fachwelt sieht sie als situative Multimodalität. Das heisst: Je nach Weg, je nach Zweck wird der am wesensgerechteste einsetzbare Verkehrsträger genutzt. Man bringt also die Kinder mit dem Cargobike zur Schule, fährt damit zum Einkauf, pendelt mit dem Bus zur Arbeit, besucht Verwandte auf dem Land mit einem Auto, das geteilt wird. Doch wer ein Auto ständig zur Verfügung hat, benutzt es auch für Zwecke, die nicht wesensgerecht sind. Diese Menschen stört es eben nicht, dass das Auto 
23 Stunden am Tag nur rumsteht, im Gegenteil: Sie schätzen gerade die Möglichkeit, jederzeit von Ort und Stelle wegfahren zu können, auch wenn sie diese gar nicht nutzen. Eine solche Mobilitätsform ist an Reichtum gekoppelt: Wirtschaftswachstum und Verkehrswachstum gehen Hand in Hand. Die grosse Frage ist, wie sich dieser Mechanismus brechen lässt. Das geht wie gesagt wohl nur, wenn der Leidensdruck gross genug ist. Es ist ein langer Weg.


In Kopenhagen zum Beispiel funktioniert es.
Ja, doch man vergisst gerne: Dort wird das Velo seit 50 Jahren in der Planung stark unterstützt, in der Schweiz seit etwa zehn Jahren. Das sind lange Prozesse.


Was bedeutet das Auto für Sie?
Ich bin in einem kleinen Dorf im Schwarzwald aufgewachsen. Mit 18 hatte ich mein erstes Auto, dank ihm konnte ich dem Lokalen entfliehen und die Welt entdecken. Fürs Studium in Berlin und Zürich habe ich es dann abgegeben und mir erst mit 35 wieder eines zugelegt, als die Kinder da waren. Dieses Auto teile ich mit dem Schwiegervater, ich setze es vor allem für Besuche bei den Eltern im Schwarzwald oder für Wochenendausflüge ein. Es ist bei mir definitiv mehr Steh- als Fahrzeug, bisweilen steht es tagelang still. Immerhin: In dieser Zeit verursacht es keinen Verkehr (lacht).


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Zur Person

- geboren 1979 in Rottweil am Neckar

- 2000 bis 2006: Studium Verkehrswesen und Soziologie in Berlin und Zürich

- 2009: Promotion in Soziologie in Basel

- 2009 bis 2011: Inhaltlicher Projektleiter Mikrozensus Mobilität und Verkehr am Bundesamt für Raumentwicklung ARE

- seit 2011 FH-Professor an der Hochschule Luzern – Wirtschaft / Kompetenzzentrum für Mobilität tg

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