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Musikfestival

Ein altes Kind und ein prophetischer Astronaut

Die elfte Ausgabe des Bieler Festivals Ear We Are ist Vergangenheit. Ein Rückblick auf drei Tage grenzenlose Musik in vier Schnappschüssen.

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Rudolf Amstutz

«I’m the oldest kid in the world», scherzte Saxophonist Kidd Jordan am Ende des letzten Auftritts des diesjährigen Ear We Are. Zuvor lustwandelte der 83-Jährige gemeinsam mit Bassist William Parker, Schlagzeuger Hamid Drake und Pianist Dave Burrell durch jenen Garten, der sich Free Jazz nennt, und zu dem alle vier, die auf der Bühne standen, Massgebliches zu dessen Entwicklung beigetragen hatten. Das Quartett beendete das dreitägige Festival in der Alten Juragarage in Biel mit einem grandiosen, verwinkelten, mächtig dröhnenden und doch lyrisch bis in die hintersten Ecken allerfeinst strukturierten Auftritt und erinnerte das Publikum an jenen freigeistigen Donnerschlag, der einst zur Gründung dieses Festivals führte.

Obwohl alle vier Musiker in diesem Kollektiv gleichwertig sind und Dave Burrell mit seinen 78 Jahren auch ein paar gewichtige Kapitel in der Jazzgeschichte repräsentiert (von den «Jüngeren» Parker und Drake gar nicht zu sprechen), so nutzte Jordan doch geschickt sein Alter, um den Kontrast zwischen seiner gebrechlichen Art und dem immer noch konditionell tadellosen Spiel in Szene zu setzen. Der Mann hat mit allen gespielt: von Stevie Wonder bis R.E.M. und von Cannonball Adderley über Ornette Coleman bis Cecil Taylor. Und wenn dieser Mann, der auch den französischen Ordre des Arts et des Lettres besitzt, am Ende jedem Einzelnen in der ersten Reihe per Händedruck dankt, dann will dies was heissen …

Freier Auslauf für die Musik
«Ihr habt alle eine Reise nach New York City gewonnen», rief William Parker zum Schluss aus. «Ohne euch wunderbares Publikum wollen wir nicht mehr auftreten, also nehmen wir euch einfach mit», strahlte er und unterstrich damit eine Qualität dieses Festivals, die früher am Abend Mit-Organisator Daniel Schneider in seiner Dankesrede ebenfalls herausstrich. Das Publikum kam an diesen drei Tagen nicht nur zahlreich (rund 800 Eintritte), sondern präsentierte sich an den insgesamt zwölf Konzerten in einer Weise aufmerksam, dass Parker die Lobrede nicht schwerfiel.

Am Ear We Are zeigt sich Musik nicht wie an vielen kommerziell ausgerichteten Veranstaltungen als Dienstleistung. Hier wird der Musik freien Auslauf gewährt. Sie soll an den Grenzen reiben und damit ungewohnte Perspektiven schaffen. Türen öffnen. Felder abstecken, die zuvor noch nicht vermessen worden sind. Das Publikum war in stillen Momenten mucksmäuschenstill und an sperrigen Orten hochkonzentriert. Es liess sich verstören und begeistern und es dankte es den Musikerinnen und Musikern mit entsprechendem Applaus.

Auch Intellekt kann begeistern
Oft wurde das Publikum aber auch gefordert und an einigen Stellen gar überfordert: Der sperrige Klangkosmos des Trios Hübsch, Martel und Zoubek und dessen seltene Instrumentierung (Tuba, Viola da Gamba, Piano) blieb konsequent seinem intellektuellen Ansatz treu und verschloss damit dem Publikum einen emotionalen Zugang.

Dass Komplexität und Intellekt auch bedingungslos begeistern können, zeigten Craig Taborn und Ikue Mori. Taborn, der zu den beeindruckendsten Pianisten der Gegenwart zählt, und Mori, eine Pionierin auf dem Gebiet der elektronischen Musik, vollführten einen wuchtigen Paartanz, in dem Taborn mit pointiertem und dynamischen Läufen auf die wie Farbschichten aufgetragenen Klangwolken von Mori reagierte.

Sie waren nicht das einzige Duo an diesem Festival, das das Publikum an die Hand nahm, um es mitzunehmen auf eine auf unüblichem Gelände ins Unbekannte führende Reise. Dies gelang auch den im Spannungsfeld zwischen analogen und digitalen Klangkörpern operierenden Protagonisten: Lee Patterson (electronics) und Irena Tomažin (Stimme) modellierten wie Marta Zapparoli (electronics) und Liz Allbee (Trompete, Stimme) eine eindringliche Klang-Topographie zwischen Ambient und Hörspiel, in der die Gedanken des Zuhörers ungehindert umherwandern durften.

Es gibt aber auch Momente, in die man als Hörer nur eintauchen kann, wenn einem das nötige Rüstzeug ausgehändigt wird. Der Auftritt von Toshimaru Nakamura und Katsuaki Iida fühlte sich an, als würde man in einem Museum vor einem hoch abstrakten Gemälde stehen, bei dem der Kurator vergessen hat, notwendige Erläuterungen dazu anzubringen. Iida, der Barbesitzer und Poet, der nur ganz selten seine Heimat verlässt, rezitierte hinter einem Notenständer, der sein Gesicht verbarg, in stoischer Art seine Gedichte, währenddem Nakamura auf seinem Non-Input Mixer mit zarten bis beissend hohen Tönen darauf reagierte. «Iidas Gedichte handeln von seinem Innersten, von der Dunkelheit, von grosser Melancholie und von einer kleinen Hoffnung», erklärt Nakamura nach dem Auftritt im persönlichen Gespräch. Da war sie also, die Erläuterung, die das Bild nachvollziehen liess und die man dem Publikum vor dem Auftritt hätte mitgeben müssen. Schade.

Die Wiedergeburt des Urknalls
So wie Parker/Drake/Burrell/Jordan mit ihrem Auftritt den Beginn des freien Denkens im analogen Zeitalter repräsentierten und so die Brücke zum ersten Ear We Are schlugen, so offenbarte ein anderer die digitale Antwort darauf und einen Ausblick, wie es in zwei Jahren bei der zwölften Ausgabe klingen könnte. «I make Los Angeles Rap. American Folk Music», meinte Regan J. Farquhar bei seinem Auftritt bescheiden. Alle je erdachten Klänge dieser Erde scheint er in seinem Sampler und sämtliche je erdachten Wortkombinationen in seinem Kopf mitzutragen. Das Resultat: die Wiedergeburt des Urknalls, ein verbales und klangliches Feuerwerk, in dem die Unendlichkeit der Möglichkeiten in komprimierter Form in die Köpfe des Publikums eindrang. Am Ende war man atemlos. Und beglückt. Farquhar nennt sich als Rapper und Musiker bescheiden Busdriver. Doch in Wirklichkeit ist er ein Astronaut, der in Biel den Nachweis erbrachte, dass da draussen für die Macher dieses ausserordentlichen Festivals auch für die nächsten zwei Jahrzehnte noch genug Unerforschtes existiert.

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