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Berlin

In Berlin liegt die neuere Weltgeschichte vor der Tür

Lange galt Berlin als hässlich. Asiatische Reisegruppen machen noch heute oft einen weiten Bogen um die Stadt. Fernweh-Autor Donat Blum zeichnet die Entwicklung des Berlin-Tourismus nach, von dessen Wertschöpfung heute 235 000 Menschen leben.

Erinnerungskultur: Seit 1992 werden in Berlin vor den ehemaligen Wohnhäusern von Opfern des Nationalsozialismus Stolpersteine verlegt. Initiiert hat die Aktion der Künstler Gunter Demnig. Finanziert wird sie durch Spenden. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Berlin sei eine Trümmerstadt. Mehr recht als schlecht auferstanden. Eine Stadt, die mit Brachen wie mit riesigen Zahnlücken glänzt, falls denn die verfaulten Zähne überhaupt je entfernt worden sind. Wenn ich als Jugendlicher meinen Grossmüttern erzählte, ich fahre dort hin, schüttelten sie den Kopf: Was will man in Berlin? Sie hatten noch immer die zerbombte Stadt der Nachkriegszeit und das geteilte Berlin des Kalten Krieges vor Augen. Und so kommentierte auch manch ein Schweizer Freund seinen oder ihren Trip nach Berlin: «Wir haben uns das Brandenburger Tor angeschaut und irgendwie wussten wir dann nicht mehr recht, was wir noch machen könnten.» «Wir waren auf dem Fernsehturm. Die Stadt ist schon beeindruckend flach und weit, aber das müssen wir jetzt schon auch sagen: schmutzig.» Es fehle ein Kern. Eine Innenstadt. Am besten eine aus dem Mittelalter, eine mit Fussgängerzone. Von Berlin schwärmten einzig Künstler und Partygänger – nicht zuletzt dank den leicht verfügbaren Drogen.

Das Konzept der «Ostalgie»
Berlin war aber auch während Jahrzehnten eine geteilte Stadt. Stark eingeschränkt in ihren Entwicklungsmöglichkeiten. Besucher fühlten sich hüben wie drüben eingeengt. Im Westen von der Mauer und im Osten von der Ideologie. Berlin sei hässlich, kann man hier und da von damals lesen. Kein Wunder hatten die Touristiker die Stadt noch Jahrzehnte danach aufgegeben. Die Stadt war zerrüttet. Ihr fehlten die klassische Geschichte, die kontinuierliche Identität. Dabei übersahen sie, dass sie viel zu weit in der Vergangenheit suchten. Was Berlin ausmacht, ist die Postmoderne.

Ich kann mich gut erinnern, wie um die Jahrtausendwende, als ich die ersten paar Male nach Berlin kam, eine ältere Frau, Elke Matz, das erste DDR-«Museum» führte. Wobei ein Museum zu führen nie ihre Absicht war. Viel eher verkaufte sie in einer Art Brockenhaus DDR-Produkte, die sie nach der Wende gesammelt hatte: Farbige Plastik-Eierbecher in Form von Hühnern, Spreewaldgurken und Geschirr von Mitropa. Aber die Touristen besuchten ihren Laden, als wäre er ein Museum, und Ostdeutsche fanden in ihm die Geborgenheit vergangener Zeiten.

Das Konzept der «Ostalgie» wurde geboren und erhielt mit dem 2003 erschienen Film «Good Bye, Lenin!» weit über Berlin hinaus an Schub. In jenes Jahr fiel auch der Ausspruch des damaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit: «Berlin ist arm, aber sexy». Worte, die zu einem Slogan wurden, der den Umschwung im touristischen Selbstbewusstsein der Stadt begleitete. Statt sich für die Geschichte zu schämen, wurde sie aufgearbeitet: Richtige – sprich: auch kritische – DDR-Museen entstanden, einige der Mauer-Überreste wurden inklusive der Graffiti, die sie schmückten, konserviert und ein ganzer Park zum Thema, die «Gedenkstätte Berliner Mauer», eröffnet. Ähnlich war der neue Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts: 2001 eröffnete das Jüdische Museum, bis heute eines der innovativsten Museen weltweit, und mitten in der Stadt wurde das Holocaustdenkmal, eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt, eingeweiht. Touristen realisierten, Berlin ist keine bis aufs ideelle Fundament zerstörte Stadt. Keine Stadt ohne Geschichte. Im Gegenteil: Berlin ist eine Stadt, in der die neuere Geschichte vor der Tür liegt und nur aufbereitet werden muss. Sowohl sprichwörtlich, als auch tatsächlich, beispielsweise in Form von Stolpersteinen, goldenen, beschrifteten Pflastersteinen, die vor den ehemaligen Wohnsitzen von Holocaust-Opfern im Boden angebracht wurden. Oder in der Form von Veränderung und Stillstand, heute und damals, die sich vor den Fenstern der Bewohner der Stadt abspielen und nicht selten weit über die Stadt hinaus Wirkung entfalten haben.

Voller unerzählter Heldengeschichten
Als ich vor zweieinhalb Jahren zum ersten Mal die Wohnung besichtigte, in der ich bis heute wohne, war ich einerseits nur froh, die Chance auf eine eigene Wohnung in Aussicht gestellt bekommen zu haben. Andererseits war es Juli und in der Dachwohnung derart heiss, dass ich mir überlegte, trotzdem abzusagen. Eine Nacht hatte ich für die Entscheidung Zeit, und weil die immer gleichen Gedanken hin- und her zu wälzen auch nichts bringen würde, liess ich mich von meiner Schwester zum Besuch eines Openairkinos überreden. «Ecke Schönhauser ...» hiess der Klassiker aus der DDR. Was lustig war, denn an der Schönhauser Allee befand sich auch besagte Wohnung, und mit jeder weiteren Filmminute stellte sich heraus: Der Film und meine Wohnung teilten sich nicht nur die Strasse, nein, es ging um ein und dieselbe Ecke: Unser Haus war die «Ecke Schönhauser», offenbar eines der ehemaligen Zentren Ostberlins. In unserem Haus wohnten die jugendlichen Protagonisten und unter der Hochbahn-Brücke vor unserem Fenster, neben Konnopke’s Currywurst Imbiss, schäkerten sie fast die ganzen 81 Minuten miteinander.

Ich sah das als Zeichen und unterschrieb den Mietvertrag. Was nur insofern etwas zur Sache tut, als dass damit die Wohnung zu meiner Wohnung wurde, vor und hinter deren Fenster sich Geschichte abspielte:

Bei der Übergabe erzählte der Vormieter, dass in dem Atelierzimmer, das Teil der Wohnung war, der Film erfunden worden sei. In dem Atelier hatten die Skladanowsky-Brüder vor 1900 die allererste Filmtechnik entwickelt. Zeitgleich mit Lumière, dessen Verfahren sich schliesslich durchsetzen sollte. Die Aufnahmen eines Mannes, der auf unserem oder einem der umliegenden Dächern Turnübungen macht, dürften die allerersten Filmaufnahmen überhaupt gewesen sein. Berlin wäre aber nicht Berlin, wäre die heimische Erfindung des Films Allgemeinwissen, das in der Stadt kursierte. Wie so viele Berliner Heldengeschichten – man denke zum Beispiel auch an Magnus Hirschfeld, einen der ersten Sexualwissenschaftler überhaupt – scheinen auch die Geschichte rund um die Skladanowsky-Brüder eher schlecht als recht aufbereitet. Immerhin erinnert seit der Umgestaltung des kleinen Platzes vor unserem Haus ein Schriftzug auf dem Boden und eine Infotafel an die beiden Brüder. Und so bleibt zu sagen: Aller Unkenrufe zum Trotz scheinen die Touristiker langsam den zur Stadt passenden Fokus gefunden zu haben, und die Gästezahlen bestätigen sie. Seit 1996 steigen sie kontinuierlich und haben sich von knapp drei Millionen Besuchern auf 13 Millionen jährlich mehr als vervierfacht. Auf ihrer Website «Visit Berlin» verkündet das Stadtmarketing denn nun auch stolz: Berlin – europaweit Top-3-Reiseziel nach London und Paris.

Info: Der Schriftsteller Donat Blum ist Absolventdes Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. Aktuell ist er mit seinem Debüt-Roman «Opoe» auf Lesetour.

 

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