Sie sind hier

Abo

Berlin

Ich liebe mein Auto

Die wachsende Mobilität hat Berlin verändert. Und Berlin verändert die Mobilität. Einzig bei den Autos bleibt alles gleich, wie unser Fernweh-Autor erstaunt feststellt.

Die Aufschrift «Gehwegschäden» gehört zum Standard von Berliner Fahrrad- und Gehwegen. Die in der Schweiz verbreiteten E-Trottinetts haben in Berlin deshalb keine Chance. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Aber nicht nur Easyjet hat die Stadt verändert. Sondern die wachsende Mobilität insgesamt tut es. Und Berlin verändert umgekehrt auch die Mobilität.

Mit dem Post-DDR-Roller durch Berlin flitzen
Mobilität verbindet. Im Ausland, auf Reisen, in fremden Städten stellt sich bei mir ein Gefühl des «angekommen Sein» ein, wenn ich weiss, wie man Bus fährt, wie man zu einem Ticket kommt und, seit das Roaming abgeschafft wurde, wenn ich die besseren Routen plane als Google maps. Wenn ich eine Stadt zu vermessen weiss, fühle ich mich ihr zugehörig. In Berlin hat mir früher die Kenntnis des Netzes der U-, S- und Strassenbahnen dieses Gefühl verliehen. Seit drei knappen Jahren ist es der Besitz von – Stand heute – 27 Mobilitäts-Apps. Zehn davon betreffen den individuellen Berliner Nahverkehr.

Mit App Nummer zehn bestelle, bezahle und tracke ich Taxis. Nummer neun und acht erlauben mir, ein Sammeltaxi mit anderen, zufälligen Kunden zu teilen und für eine höhere Auslastung der einzelnen Fahrten zu sorgen. Die Nummern sieben bis fünf dienen zum Ausleihen von Fahrrädern und vier und drei zum Carsharing. Meine beiden liebsten Apps, Nummer eins und zwei, geben mir Zugriff auf Elektromotorräder, die innerhalb des 
S-Bahnrings ausgeliehen werden können: Emmy und Coup. Die orange-roten Emmy-Roller sind Nachbauten der Vespa der DDR, der Schwalbe. Und Coup bietet leicht kleinere, schwarz-grüne 
E-Flitzer, mit denen ich dank des übergrossen Helms und des lauten elektronischen Tutens des Blinkers wie eine Mischung aus Yoshi und dem Pilz von Mario Kart durch Berlin sause. La dolce vita.

«Schwierig», sagt der Münchner
Die Mobilität verändert Berlin und Berlin verändert die Mobilität. Aber auch eine dritte Behauptung trifft zu: Nichts verändert sich in Berlin so langsam wie die Mobilität. Zumindest wenn man die heilige Kuh des Deutschen ins Visier nimmt, das Auto.

Im Gespräch mit einem frisch zugezogenen Münchner bewertete er die Lebensqualität Berlins anhand der Parkplatzsituation. «Schwierig», meinte er. Da bleibe er lieber in München. Ich fand das schwer nachvollziehbar. Autos, so scheint es mir mit meinem Schweizer Auge, dürfen hier an jeder Ecke geparkt werden. Erst kürzlich habe ich erfahren, dass auch all die Fahrer, die ihre Autos auf der Fahrbahn stehen lassen, nichts Illegales tun. Solange daneben ein Streifen von mindestens drei Metern frei bleibt. Mehrspurige Strassen, die das erlauben, sind gerade im Zentrum der Stadt alles andere als eine Seltenheit. Es gibt sogar Stadtautobahnen – Strassen, auf denen einem auf dem Nachhauseweg vom Supermarkt Autos mit 80 Kilometern pro Stunde entgegenbrettern, während man eine kleine Ewigkeit auf die grüne Fussgängerampel wartet.

Stellenwert von Autos ist sakrosankt
Es ist ein Klischee: Deutsche lieben ihre Autos. Und ganz offensichtlich sind Berliner zu einem Grossteil Deutsche. Mir kommt kein gleichaltriger Freund aus der Schweiz in den Sinn, der ein ähnliches Leben lebt wie ich und ein Auto besitzt. Ganz im Gegensatz zu meinen Berliner Freunden. Da sind es nicht nur einige, nein, es sind viele.

Die Strassen der Stadt sind denn auch in einem ziemlich guten Zustand. Anders die Fahrrad- und Gehwege. Dort gehören Schilder mit der Aufschrift «Gehwegschäden» zum Stadtbild wie die aus dem Fundament gerissenen Bodenplatten und die zur Hälfte mit Sand gefüllten Schlaglöcher. Schwer vorstellbar, hier mit einem E-Trottinett rumzukurven, wie sie in Schweizer Städten gerade Mode werden. In Deutschland sind sie noch immer verboten. Argumente von Politikern, dass auch solche Ergänzungen zur Verkehrswende beitragen könnten, gehen im wortreichen Herunterspielen der Abgasskandale unter.

Der Stellenwert der Autos ist sakrosankt. Als die ersten Horden an Leihfahrrädern die Gehwege belagerten, wurde über die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes diskutiert. Anarchistische Kreise veröffentlichten Videoanleitungen, wie die Fahrradschlösser in einem Akt politischen Ungehorsams geknackt werden können. Die Angebote wurden reglementiert. Einige der Verleihfirmen gingen ein. Und vor allem fiel immer wieder die Frage: Wem gehört der öffentliche Raum? Bei den omnipräsenten Autos fragt das niemand. Im Gegenteil: Jeder Zentimeter, der in Berlin den Autos abgerungen wird, zieht langwierige Streitereien nach sich. So wurden in Kreuzberg beispielsweise testweise einige wenige «Parklets» auf Parkstreifen installiert. Die kleinen gesicherten Holzplattformen sollten dem motorisierten Verkehr Fahrradpark- und Sitzplätze abringen. Noch vor Abschluss der Testphase sind nun aber Politiker aus allen Fraktionen (ausser von den Grünen) bereits schon wieder dagegen. Ohne klar ersichtlichen Grund, ausser: Anwohner mit Autos haben reklamiert.

In 40 Minuten zu Fuss zur nächsten S-Bahn
Warum man in Berlin überhaupt private Autos braucht, erschliesst sich mir auf den ersten Blick nicht. Der öffentliche Nahverkehr ist gut ausgebaut und verkehrt während 24 Stunden. Allerdings, und da verstehe ich die Autofahrer: Es hapert an der Zuverlässigkeit. Die Bahnen sind unpünktlich und fallen ersatzlos aus. Streiken abwechselnd die Berliner Verkehrsbetriebe BVG oder die von der Deutschen Bahn betriebene S-Bahn, erlahmt die Stadt. Selbst der Noch-Hauptstadtflughafen Tegel verliert dann seine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, um damit den Bogen zurück zu Easyjet zu schlagen.

Diese strukturelle Überforderung mit planbaren Ereignissen erstaunt immer wieder. Die bereits um sieben Jahre verzögerte Eröffnung des neuen Flughafens ist nur das krasseste Beispiel. Beim vorletzten BVG-Streik liessen die Flughafenverantwortlichen in Tegel Flugblätter verteilen, die den Ankommenden aufzeigten, wie sie ohne Bus in 40 Minuten zu Fuss zur nächstgelegenen S-Bahn-Station gelangen konnten. Taxis und Autos steckten in endlosem Stau. Für die Organisation von Ersatzbussen habe die Zeit nicht ausgereicht. Kaum zu glauben. An der Zuverlässigkeit des berühmt-berüchtigten TXL-Busses, der Linie zum Flughafen, hat weder die exzessive Präsenz von Easyjet noch irgendein Start-Up etwas verändert. Der Bus steckt notorisch im Stau, und statt die Linienführung grundsätzlich anzupassen, werden Fahrten spontan gekappt und Fahrgäste an Haltestellen stehen gelassen. Auch das, ich wage es zu behaupten, dürfte eine Folge der exklusiven Liebe der Deutschen zu den Autos sein.

Info: Der Schriftsteller Donat Blum ist Absolventdes Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz.Aktuell ist er mit seinem Debüt-Roman «Opoe» auf Lesetour.
 

Nachrichten zu Ausland »