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«Frauen haben ein weniger ausgeprägtes Ego»

Die Chefin der Micro Precision Systems SA, Nicola Thibaudeau, tritt für die Gleichstellung der Geschlechter ein. 
Sie ist überzeugt: Gemischte Arbeitsteams fördern die Harmonie.

Nicola Thibaudeau hält nichts von Frauenquoten. Aber sie setzt sich für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern ein. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Interview: Marjorie Spart/pl

Nicola Thibaudeau steht als eine der wenigen Frauen an der Spitze eines grossen Westschweizer Industrieunternehmens. Seit 2003 leitet die Ingenieurin und Betriebswirtschafterin die Micro Precision Systems SA. Das international tätige Mikrotechnik-Unternehmen beschäftigt 400 Mitarbeitende an den Standorten Biel, Court und Bonfol (JU). Im Vorfeld zum heutigen Frauenstreik haben wir mit Thibaudeau über die Gleichstellung von Frau und Mann gesprochen.

Nicola Thibaudeau, heute ist Frauenstreik. Wird Ihr Unternehmen dann mit gedrosselter Leistung arbeiten?
Nicola Thibaudeau: Nein. Am Standort Biel ist bis jetzt kein Gesuch für die Teilnahme am Streik eingegangen. Nur in Bonfol hat eine Person frei genommen.

Welche Weisung hat Micro 
Precision Systems zum Frauenstreik erlassen?
Wir haben allen Mitarbeitenden mitgeteilt, dass sie für die Teilnahme am Frauenstreik freinehmen müssen.

Wie erklären Sie die spärliche Teilnahme, wo doch 50 Prozent Ihrer Belegschaft aus Frauen 
besteht?
Viele Angestellte arbeiten Teilzeit. Bei reduzierten Pensen wird am Freitag bevorzugt nicht gearbeitet. Dank flexibler Arbeitszeit kann man bei uns schon um 15 Uhr ausstempeln. Wer am Frauenstreik teilnehmen möchte, muss also nicht unbedingt frei nehmen, denn die offiziellen Veranstaltungen beginnen um 15 Uhr.

Welche Politik verfolgt Micro Precision Systems auf dem 
Gebiet der Gleichstellung?
Die Gleichstellung von Mann und Frau gehört zu den inneren Werten unseres Unternehmens. Sie ist im Firmenleitbild verankert und wird tagtäglich gelebt. Ohne Gleichstellung gibt es keine Ausgewogenheit im Betrieb. Das Gleichgewicht bezieht sich nicht nur auf Männer und Frauen. Wir achten ebenso auf das Verhältnis zwischen jüngeren und älteren Mitarbeitenden. Wenn dieses Miteinander gelingt, stellt sich mehr Harmonie und Arbeitszufriedenheit ein. In Arbeitsgruppen, die nur aus Männern oder Frauen bestehen, kommen öfter Spannungen vor.

Mit welchen Massnahmen 
stellen Sie die Gleichstellung 
in Ihrem Unternehmen sicher?
Unsere Politik fördert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Alle Mitarbeitenden haben Anspruch auf Teilzeit und flexible Arbeitszeiten. Wir bieten die Möglichkeit für längere Mutterschafts- oder Sonderurlaube. Der Vaterschaftsurlaub beträgt bei uns zwei Wochen. Die Lohngleichheit ist garantiert. Micro Precision Systems eröffnet Frauen nicht alltägliche Arbeitsfelder in der Mechanik, im Engineering und in der Produktion. Bei uns arbeiten viele weibliche Führungspersonen, zum Beispiel als Leiterin einer Fabrik.

Das heisst, Sie bevorzugen 
Frauen bei der Einstellung?
Wenn wir eine Stelle ausschreiben, erhalten wir in der Regel etwa zwanzig Bewerbungen. Darunter gibt es aber nur drei bis vier Frauen. Einige von ihnen laden wir zum Gespräch ein. Allerdings halte ich nichts von Frauenquoten. Es ist nämlich schwer genug, eine Person zu finden, die unseren Anforderungen entspricht. Die Forderung nach einer Frau wäre dann eine zusätzliche Hürde bei der Stellenbesetzung. Eine Quotenregelung birgt die Gefahr, dass wir allein wegen der Geschlechtszugehörigkeit auf einen ausgezeichneten Bewerber verzichten müssten. Als Geschäftsführerin bin ich für das Wohl des gesamten Unternehmens verantwortlich.

Trotz allem haben Sie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen erreicht?
Ja, denn es gibt gleich viele gut ausgebildete und kompetente Frauen wie Männer.

Sie sagen, die Gleichstellung zwischen Mann und Frau gehöre zu den inneren Werten von Micro Precision Systems SA. Ist das so, weil eine Frau, nämlich Sie, an der Spitze des Unternehmens steht?
Sicher. Bevor ich bei Micro Precision Systems anfing, waren Kadersitzungen reine Männersache.

Wie ist es in der Schweiz: Hat es eine Frau schwerer als ein Mann, die Führung eines grossen Unternehmens zu übernehmen?
Das hängt von der Branche und der Region ab. Im Dienstleistungssektor und in grossen internationalen Firmen ist die Öffnung für Frauen grösser.

Führen sie anders als ein Mann?
Das kann ich so nicht sagen. Im Allgemeinen stelle ich fest, dass Frauen ein weniger ausgeprägtes Ego als Männer haben. Das wirkt sich auf den Entscheidungsprozess aus. Frauen haben weniger Angst vor dem Scheitern. Sie suchen nach Lösungen, die sie in Etappen verwirklichen können und räumen dafür mehr Zeit ein. Männer handeln direkter. Von meinen Mitarbeitenden höre ich häufig, dass sie es schätzen, eine Frau als Geschäftsführerin zu haben.

Hat der Frauenstreik für Sie einen Sinn?
Die Bezeichnung «Streik» wird missbräuchlich verwendet, denn es geht ja nicht um einen Konflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Man sollte vielmehr von einer Kundgebung für Gleichstellung sprechen. Ich verstehe, dass gewisse Kreise mehr Egalität fordern. Untersuchungen zeigen ja, dass es auf bestimmten Gebieten Ungleichheit gibt.

Werden Sie an der Kundgebung teilnehmen?
Nein. Ich muss arbeiten. Eine Kundgebung allein hat nicht die Kraft, Dinge zu ändern. Vor dem Irakkrieg waren auf der ganzen Welt Millionen auf die Strasse gegangen, um den Krieg zu verhindern. Es hatte nichts gebracht. Allerdings sieht es bei den aktuellen Klimademonstrationen anders aus. Diese Kundgebungen sind erfolgreich, weil sich die Jugend mobilisiert hat, und dadurch werden Veränderungen in Gang gesetzt.

Wie geht man vor, um die Ungleichheit zu überwinden?
Jeder muss sich auf seiner Stufe einbringen. Bei Micro Precision Systems SA stellen wir Frauen in allen Arbeitsbereichen und auf allen Hierarchiestufen ein. Gleichzeitig bieten wir Arbeitsmodelle an, die den Kindern und Jugendlichen in Ausbildung entgegenkommen. Als Beitrag zur Gleichstellung liefern wir Taten. Wir nehmen regelässig am Nationalen Zukunftstag teil, wo Mädchen und Jungen Einblick in die Arbeit ihrer Eltern erhalten. Dabei lernen die Jugendlichen, dass Frauen in allen Bereichen des Unternehmens tätig sind.

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«Unternehmen zögern nicht mehr, Frauen in Führungspositionen zu wählen»
Nicola Thibaudeau hat ein Ingenieurstudium an der Hochschule für Maschinenbau der Universität Montreal abgeschlossen. Damals gab in diesem Fach nur wenige Studentinnen. «Ja, man traf dort vor allem Männer an», sagt die Kanadierin. Deshalb habe sie sich aber nie benachteiligt gefühlt. Thibaudeau entdeckte früh, dass sich in den meisten Gegenständen des täglichen Gebrauchs eine mechanische Vorrichtung verbirgt, und sie brannte darauf, die Funktionsweise der Geräte zu entschlüsseln: «Sehen sie, dieser einfache Kugelschreiber enthält eine Feder, eine Kugel, eine polierte Mine und andere Kleinteile. Das Schreibgerät ist das Ergebnis des Zusammenspiels von viel technischem Know-how.»

Als es um die Berufswahl ging, musste Nicola Thibaudeau nicht lange überlegen: «Unsere Mutter hatte uns stets ermuntert, das zu tun, was uns anspricht.» Die Kanadierin ist mit zehn Brüdern und Schwestern aufgewachsen. Alle wurden in einem Geist der Freiheit erzogen: «Die Mutter setzte unserem Streben keine Grenzen, aber sie lehrte uns, dass wir eine Rolle in der Gesellschaft übernehmen müssen.» Thibaudeau ist noch heute von der Tatkraft und Zuversicht ihrer Mutter angetan: Nachdem sie elf Kinder grossgezogen hatte, wandte sie sich wieder ihrem Studium der Kriminalistik zu. Später wurde sie in Québec zu einer wissenschaftlichen Autorität bei der sozialen Integration von Strafgefangenen. «Bei uns trägt die Mutter den Spitznamen ‹Ma Dalton› weil sie so hartnäckig ist», so Thibaudeau. Die heutige Unternehmenschefin glaubt, dass sie einige Charaktereigenschaften geerbt hat, «aber ich bin nicht so starrköpfig». 

Heute sei ihre Mutter zweifellos Feministin. «Aber als ich Kind war, herrschten noch andere Verhältnisse. Das Rollenverständnis von Mädchen und Jungen war damals noch ausgeprägt.»

Als Nicola Thibaudeau 1990 in die Schweiz kam, wurde ihr die Sanierung eines Elektronikherstellers in La Chaux-de-Fonds anvertraut. Damals spürte sie nach eigenen Angaben keine Vorbehalte bei ihren männlichen Kollegen. Auch viel später, nachdem sie 2003 die Führung von Micro Precision Systems SA übernommen hatte, war die Ingenieurin und Betriebswirtin in der Männerwelt willkommen. Musste Nicola Thibaudeau auf dem Weg ins Topmanagement mehr leisten als ihre männlichen Kollegen? «Nein, dieses Gefühl habe ich nicht, aber es liegt in meiner Natur, immer mein Bestes zu geben», so die Unternehmensführerin. Selbstbewusst sagt sie: «Geben sie mir ein kleines Samenkorn, und ich werde daraus einen herrlichen Garten machen.»

Laut einer Erhebung von 2017 bei 207 grossen Schweizer Unternehmen werden nur 8 Prozent dieser Firmen von Frauen geführt. Was sagt Thibaudeau dazu? «Das hängt wohl mit dem Bild der Frau am Herd zusammen, wie es vor allem von der SVP propagiert wird. Diese Partei erzielt immerhin am meisten Wählerstimmen in der Schweiz.» Die Geschäftsführerin von Micro Precision Systems SA hält sich lieber an das kanadische Modell: «Dort arbeiten beide Eltern vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Dennoch ist Kanada gegenüber der Erwerbstätigkeit von Frauen aufgeschlossener als die Schweiz.»

Zur Veranschaulichung der Unterschiede berichtet sie vom WEF, wo sie eine Vereinbarung über Innovation unterzeichnet hat: «In der Schweizer Delegation war ich neben dem Wirtschaftsminister und den Rektoren der beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen die einzige Frau. Die kanadische Abordnung umfasste vier Frauen in leitender Stellung. Der einzige Mann hatte indische Wurzeln – ein Spiegel der kanadischen Gesellschaft.» 

Trotz allem ist Nicola Thibaudeau zuversichtlich, dass die Schweiz das Ziel der Gleichstellung zwischen Mann und Frau erreichen wird: «Die Unternehmen werten den Beitrag der Frauen zunehmend in positiver Weise. Das gilt sowohl für ihre Kompetenzen als auch für das Image, das sie den Firmen verleihen. Heute zögern Unternehmen nicht mehr, Frauen in Führungspositionen zu wählen.» mas/pl

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