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Berlin

Techno ist mehr als Bumbum
– die sexuelle Befreiung feiert mit

Seit dem Fall der Mauer gehört Techno zu Berlin wie das Brandenburger Tor. Fernwehautor Donat Blum 
hat für das BT einen Tag lang mitgefeiert.

Das Berghain: Der vermutlich legendärste Techno-Club Berlins befindet sich in einem ehemaligen Fernheizwerk. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Wir gehen die Fakten durch, falls uns die Türsteherin fragen wird: «Wisst Ihr, was das hier für eine Party ist? Wie heisst sie? Wart Ihr schon mal hier?»

Wir nesteln an unseren Kleidern rum und an unseren Haaren, auch wenn wir davon ausgehen, dass der Einlass hier nicht so streng sein wird wie im «KitKat» oder dem «Berghain», den zwei berühmt-berüchtigsten Clubs der Stadt. Vorbereitet zu sein, ist eines der Hauptkriterien, um reingelassen zu werden. Zumindest vermuten wir das. Festgeschrieben stehen solche Kriterien nirgends.

Wir rücken vor, die Schlange macht einen knappen Bogen um einen Obdachlosen am Boden, der aufwacht und aus dem Schlafsack steigt. Er trägt Strapse und Lidschatten. Er könnte auch ein Partygast sein, der seit dem gestrigen Beginn feiert und nur mal kurz eine Pause brauchte. Das lässt sich nicht so genau sagen. Das Publikum im «About Blank» ist ausgesprochen vielfältig, von siffig bis chic ist alles vertreten, wenn auch hier bei der Kleidung wie in fast allen Berliner Clubs «Schwarz ist Trumpf» gilt.

Nicht so heute Nachmittag, wo die Party im Garten stattfindet, bevor sie um 22 Uhr wieder in die Innenräume verlagert wird. Die Leute in der Schlange tragen Sommerhemden, goldige Accessoires und blauen Lippenstift. Ein Paar ist ganz in schuppenartige Pailletten gekleidet. Zwei schillernde Nixen.

In Berlin gehen auch Eltern noch feiern
Wir sind drin. Zwei Typen mit blossen Oberkörpern sitzen auf einem Pingpongtisch und lachen die Sonne an. Ein Innenhof mit einem verschlungenen Weg gesäumt von Sofas, die aus Paletten gezimmert wurden, mit Büschen und Bäumen. Im Zentrum eine holzige Tanzfläche, über der eine Samtvagina hängt, die auch ein Herz sein könnte. Drei Penisse mit Fliegenpilzmuster schmücken das Dach eines Wohnwagens. Eine unauffällige Dreiergruppe – schwarze Hosen, T-Shirts – bricht in Jubel aus, als sich der vierte dazugesellt, nur mit einem Cockring bekleidet. Längst nicht alle sind nackt oder lasziv gekleidet, obwohl die Party neben Techno explizit auch die sexuelle Befreiung feiert.

Ein Kioskhäuschen dient als Bühne für den DJ. Derjenige, der gerade auflegt, ist über 50, trägt eine Strickmütze und ist vermutlich seit den 
Anfängen mit dabei. Mit 33 Jahren, so alt bin ich, liegt man hier gerade so im Altersdurchschnitt. Nichts Besonderes: In Berlin geht man auch nach 25 und auch als Eltern noch in den Ausgang, was sie hier, wie gesagt, «feiern» nennen.

Es wummert aus den Boxen. Techno, aber die fröhlichere Variante, diejenige mit mehr Einsprengsel und Melodien. Im «Berghain» wäre das anders. Oder an der «Herrensauna», eine Partyreihe, die in einem der ältesten Clubs Berlins, im «Tresor», stattfindet und sich auf die Berliner Techno-Anfänge bezieht. Die Stimmung dort: dark. Wenig Licht, viel Kunstnebel und harte Bässe füllen die Kellergänge, in denen sich meist junge Männer, viele schwul, viele mit Tattoos, in Trance tanzen. Erfunden in Detroit, etablierte sich Techno in Berlin mit dem Fall der Mauer. Leerstehende Gebäude boten den Partys Raum und aufregende Kulissen. Die nicht existente Sperrstunde tat das Übrige.

Andere versorgen sich mit chemischer Extase
Wir stehen an der Bar, bestellen Wodka-Mate. Wir «trinken» die Limonadenflasche «ab» und der Bartender füllt Wodka nach. Höchstens die Hälfte der Feiernden trinkt Alkohol, die anderen halten Wasserfläschchen in der Hand und ziehen sich immer mal wieder in Gruppen in die Toilettenkabinen zurück, um sich mit chemischer 
Ekstase zu versorgen. Zum ersten Mal sind heute vier Kabinen der «single occupancy» vorbehalten, wie auf den Türen angeschrieben steht.

Partydrogen sind Fluch und Segen. Die Wirkungen und Nebenwirkungen der meistverbreiteten Substanzen sind weit weniger destruktiv als diejenigen von Alkohol. Die Leute sind offener, vernünftiger und vor allem weniger aggressiv. Der Alltag ausserhalb von Clubs leidet aber spürbar darunter. Wer es gewohnt ist, sich allumfassende Liebe und maximale Energie chemisch zuführen, verliert oft den Antrieb, im Alltag dafür zu kämpfen. Unverbindlichkeit und von Montag bis Mittwoch aufgrund vom Hangover ausgelaugte, schwer ansprechbare Kolleginnen und Kollegen gehören zu Berlin wie das Brandenburger Tor und Techno.

Bis heute ist Letzterer einer der zentralen Gründe, der Touristen und Neuzuzüger nach Berlin zieht. Für andere ist er Grund zur Klage: «In dieser Stadt läuft überall nur Techno. Ich kann doch zu diesem Bumbum nicht tanzen.»

Von der Loveparade zum Aufruf gegen AfD
Techno ist aber längst zu mehr geworden als Bumbum. Er ist beispielsweise, wie die ganze Stadt, eng mit der sexuellen Befreiung und dem Ideal einer Gesellschaft verbunden, in der jede, jeder sowie Menschen ausserhalb der Zweigeschlechtlichkeit genau die Liebe leben können, die ihnen und allen Beteiligten Freude bereitet.

Ein Ideal, das Anfang des letzten Jahrhunderts bereits zu Berlin gehörte. 1919 gründete Magnus Hirschfeld hier das weltweit erste Institut für 
Sexualforschung, mit dem er neben der Forschung vor allem auch Aufklärung förderte und sexuell Marginalisierten eine bestärkende Heimat bot. Ein entsprechend willkommenes Bauernopfer war das Institut den Nazis, um die Bevölkerung aufzuwiegeln. 1933 wurde es von studentischen Nationalsozialisten geplündert und zerstört.

Die Techno-Szene funktioniert heute wie damals; als Hirschfeld mit der wissenschaftlichen Arbeit auch das eigennützige Unterfangen verfolgte, Homosexualität zu entkriminalisieren. 
Aus dem Techno-Underground entstand 1989 beispielsweise die Loveparade, deren Vorbild 1992 die Zürcher Streetparade folgte: Demonstrationen für mehr Liebe. Über dieses Ansinnen kann man sich lustig machen. Die Kraft zur Mobilisierung war und ist allerdings beachtlich.

Während die Loveparade nach der Massenpanik in Duisburg aufgegeben wurde, schlossen sich im vergangenen Jahr die Berliner Clubs erstmals erneut zusammen und riefen zum «AfD wegbassen». Bis zu 70 000 Feiernde folgten dem Aufruf und zogen durch die Strassen Berlins und auf Booten über die Spree, um ein Zeichen der Solidarität gegen die Diskriminierung von Minderheiten und gegen den Rassismus der AfD zu setzen. Der AfD folgten weniger als 2000 Menschen. Und auch bei der Initiative «Seebrücke», die sich gegen das Sterbenlassen im Mittelmeer einsetzt, engagieren sich Clubs wie «About Blank» oder das «Berghain» mit Spenden von Partyeinnahmen und mit Techno-Wagen an Demonstrationsumzügen. Zumindest in Berlin springt mit dem Bumbum auch ein politischer Funken.

Info: Der Schriftsteller Donat Blum ist Absolventdes Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. Aktuell ist er mit seinem Debüt-Roman «Opoe» auf Lesetour.
 

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