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Berlin

Berlin entdecken – 
auf chinesisch

Vor 16 Jahren hat Donat Blum ein Jahr in China verbracht. Nun besuchte ihn seine damalige Gastfamilie in Berlin. 
Diese Chance nutzte er, um seine Wahlheimat wieder einmal mit fremden Augen zu betrachten.

Zu Besuch in Berlin: Gastmutter Ayi und Gastgrossvater Gong Gong vor der Weiterreise in die Schweiz. Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Im Rahmen eines Kulturaustausches ging ich in Nanjing zur Schule und lebte bei einer chinesischen Familie. Meine Gastmutter war dort Lehrerin und als Teil der Direktion für das Austauschprogramm zuständig, dem das staatliche Elitegymnasium erst in jenem Jahr beigetreten war.

Alles war für alle neu. Traf ich in der Stadt auf einen Ausländer, grüsste man sich. So selten geschah das, so auffällig war man als Nicht-Chinese. Und auch meine Gastfamilie – Vater, Mutter, Grossvater und eine damals zwölfjährige Tochter – hatte davor kaum je Kontakt zu Ausländern. Mich aufgenommen haben sie, weil sich unter den Eltern der Schüler niemand anderes finden liess. Bereut haben es dann aber weder sie noch ich. In unseren Leben hat sich dadurch vieles verändert und wir stehen noch immer in sehr herzlichem Kontakt. Fünf Mal bin ich noch zu ihnen gereist. Das letzte Mal vor 10 Jahren, als mein Gastvater verstarb.

Was wollen Chinesen in Berlin sehen?
Langer Einführung kurzer Sinn: Der Zufall – oder wie man in China eher sagen würde, das Schicksal – hat mich damals mit Ayi und ihrem Vater zusammengeführt, die mich vergangene Woche zum ersten Mal bei mir Zuhause besuchten.

Die Idee einer Reise nach Berlin und in die Schweiz stand seit dem chinesischen Neujahr im Raum, zu dessen Anlass wir jeweils telefonieren. Ob es mit der Reise klappen würde, blieb aber bis zuletzt ungewiss. Zuerst war es zu früh, um ein Visum zu beantragen, und dann, Anfang Juni, schrieb Ayi: Wegen dem Handelskrieg mit den USA würden viele auf Europa ausweichen. Die europäischen Botschaften seien völlig überlastet.

10 Tage vor der Abreise kam dann doch ein positiver Bescheid und ich begann zu überlegen: Was wollen Chinesen in Berlin sehen? Was kann ich ihnen empfehlen? Wie sehen Chinesen meine Wahlheimat?

Verkompliziert wurde die Planung, weil ich nur am ersten Abend und letzten Morgen ihrer Berliner Tage in der Stadt sein würde. Heisst: Die drei Tage dazwischen mussten sie selbstständig bestreiten. Ich stellte eine Liste zusammen. Ayi hörte halb zu, als ich dieses und jenes erklärte und gab zu verstehen: Sie wolle sich lieber treiben lassen.

Trier, Frankfurt und München sind beliebter
Ayi – was etwas ähnliches wie Tante heisst, und für alle näheren Bekannten verwendet wird, die weiblich und älter als der Sprecher sind – ist 52, ihr Vater 74. Nach Berlin wären sie in ihrem Leben aber wohl nie gereist, wenn ich nicht hier wohnen würde. Auslandreisen sind für Chinesen keine Selbstverständlichkeit. Gerade mal 8,7 Prozent der chinesischen Bevölkerung besitzen laut der städtischen Tourismusorganisation «Visit Berlin» einen Reisepass und können überhaupt an Destinationen ausserhalb Chinas reisen.

Berlin steht dabei auf der Wunschliste nicht an vorderster Stelle. Bei Tagestrips rangiert dort laut «The Telegraph» die Geburtsstadt von Karl Marx: Trier. Gemessen an den Anzahl Übernachtungen waren es gemäss der deutschen Tourismuszentrale 2015 Frankfurt am Main und München. Die Anzahl chinesischer Gäste in Berlin nimmt aber rasant zu, «Visit Berlin» will den wachsenden Markt weiterhin aktiv beackern.

Vielen Chinesen fehlte bisher der inhaltliche Bezug, wie es beispielsweise Karl Marx zu Trier ist. Und die Stadt liegt für eine kompakte Europareise zu sehr ab vom Schuss. Als Ayi als Teil einer Gruppe bestehend aus Schülern und Lehrern ihres Gymnasiums vor einigen Jahren bereits einmal Europa bereiste, ging es von München über Frankfurt direkt weiter nach Paris, wo ich für einen Tag und eine Nacht in einem Hotel an der Autobahn zur Reisegruppe stiess. Mit dem Car klapperten wir am nächsten Tag alle Sehenswürdigkeiten ab. Nach dem Abendessen in einem chinesischen Restaurant, konzipiert für Touristengruppen, endete der Ausflug in einem Weinladen, wo ausgiebig teurer Bordeaux gekauft wurde – ein repräsentatives Souvenir.

Sie wolle keine zu ausführlichen Pläne machen für die drei Tage in Berlin. Sie sei hier, um mich zu besuchen. Und weil sie ihrem Vater die Welt zeigen wolle, bevor er mit 80 zu alt sein werde, sagt sie wiederholt. Eine ziemlich typische chinesische Art, um nicht die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. Neben einer gemeinsamen Reise zur Tochter in die USA und der oben erwähnten Europareise mit der Schule ist es auch für sie erst die dritte Auslandreise.

Man muss sich informieren
Es ist die Geschichte, die Berlin zu einer spannenden Stadt macht, resümiert sie, als ich nach drei Tagen wieder zu ihnen stosse. Wie Ost und West hier wieder zusammenfanden, der Holocaust oder die Konferenz der «Big Three» in Potsdam. Die drei Tage sind dann doch ziemlich voll geworden: Brandenburger Tor, Schiffsrundfahrt auf der Spree, Spaziergang entlang der Mauer, Humboldt- Uni, Symphonieorchester, Potsdam und Wannsee. An Letzteren seien sie gefahren, weil ihnen jemand gesagt habe, wie schön es dort sei. Vor Ort habe sie dann von der Wannseekonferenz gelesen, an der die Vernichtung aller Juden in Europa organisiert wurde. Das habe den idyllischen Ort und See in ein völlig anderes Licht gerückt: Man müsse sich mit Geschichte und Politik befassen, wenn man Berlin erleben wolle, sagt sie.

Dass die Stadt geteilt gewesen sei, habe sie bereits davor gewusst. Und vom Holocaust habe sie natürlich auch schon oft gelesen. Vor der Reise nach Berlin hatte sie sich zudem die Spielfilme «La Vita è Bella» und «Das Leben der Anderen» angeschaut. Der eine behandelt den Holocaust und der andere die Überwachung in der DDR durch die Stasi. Das seien im Grunde die Bilder gewesen, die sie von Berlin bisher gehabt habe.

Wie sich denn die Überwachung während der DDR für sie als Bewohnerin eines sozialistischen Staates anfühle, frage ich. Sie wird vorsichtig. Man könne nur historische Vergleiche anstellen, nicht von Ländern, wiegelt sie ab. China sei heute nicht auf die gleiche Art sozialistisch, wie es die DDR gewesen sei. Das seien andere Zeiten gewesen.

«Er würde das nicht verstehen»
Ihr Vater, den ich Gong Gong, «Grossvater mütterlicherseits», nenne, spricht weder Englisch noch Hochchinesisch. 1945 geboren und mitten in der Kulturrevolution auf dem Land sozialisiert, konnte er nur die Grundschule besuchen. Er kann kaum schreiben und lesen. Wir beide sind es gewohnt, uns mit Händen, Füssen, Blicken und einzelnen Wortfetzen zu verständigen.

Am ersten Abend, als wir vom Dach unseres Mietshauses aus über die Stadt blicken, fragt er nach «Mo ke er», der chinesischen Interpretation des Namens «Merkel». Er kenne sie aus dem Fernsehen. Sie ist sein Bezug zu Berlin. Das meiste andere ist ihm von Grund auf fremd.

Als wir mit meinen beiden engsten – schwulen – Freunden zu Abend essen, fragt er mehrfach nach, wer sie seien. Ayi weicht aus. Er würde das nicht verstehen, sagt sie zu mir. Wir würden auf ihn wie drei Brüder wirken, sagt er am Ende des Essens und lächelt uns alle an. Vieles wird für ihn auf dieser Reise wohl unverständlich bleiben, was ihn aber alles andere als zu stören scheint.

Entsprechend stark leuchten seine Augen, als ich ihn am Bahnhof auf bis in einer Woche in der Schweiz verabschiede. Er habe seinen Enkel sehr vermisst, sagt er. Aber er verstehe nun sehr gut, warum ich in Berlin wohne: Es sei schön hier. Es habe wenig Leute und die Luft sei sehr gut.

Info: Der Schriftsteller Donat Blum ist Absolventdes Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. Aktuell ist er mit seinem Debüt-Roman «Opoe» auf Lesetour.
 

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