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Biel

Die Letzte wird die Erste sein

Für das Vorwort der neuen Bieler Verfassung hat die Stadt einen Schreibwettbewerb durchgeführt. Vera Urweider hat auf den letzten Drücker teilgenommen – und gewonnen.

Vera Urweider, Bild: Matthias Käser

Lino Schaeren

Es war im Bieler Stadtrat von Beginn weg ein umstrittenes Thema. Während die Ratslinke sich stets dafür aussprach, der neuen Bieler Stadtordnung eine Präambel vorauszuschicken, eine Art Einleitung zu Sinn und Zweck der Stadtverfassung also, fand die bürgerliche Ratshälfte das überflüssig: Gesetzestext soll Gesetzestext sein, Punkt. Weil sich in einer Umfrage aber auch die Bevölkerung mehrheitlich für ein solches Vorwort ausgesprochen hat, will der Gemeinderat an der Präambel festhalten – und hat einen Wettbewerb durchgeführt: 23 Bielerinnen und Bieler haben ihre Vorschläge eingereicht. Gewonnen hat die freischaffende Journalistin Vera Urweider vor Marianne Wühl-Bloesch und Isabelle Eggler.

Dabei hat Urweider es beinahe verpasst, am Schreibwettbewerb teilzunehmen. Die zwei letzten Stunden vor der Frist habe sie genutzt, sagt Urweider, um überhaupt herauszufinden, was eine Präambel ist und um eine solche in ihren Worten zu verfassen (das Resultat finden Sie im Zweittext). «Ich dachte: Ein Schreibwettbewerb, das würde mich als Journalistin und Autorin ja liegen, aber etwas Politisches? Vergiss es!»

Urweider ist in der Welt der Kultur zuhause, sie schreibt nicht nur, sondern spielt auch Theater, fotografiert. Derzeit ist die 33-Jährige täglich auf der Robert-Walser-Sculpture engagiert. Mit der Politik hat sie nach eigener Aussage nicht viel am Hut, obschon es ihr im Blut liegen würde: Ihr Grossvater Fidel Linder war von 1973 bis 1984 für den Freisinn im Bieler Gemeinderat, seine Tochter Fiorella Linder sass im Stadtrat.

 

Von Projekt zu Projekt

Bei genauerem Lesen der Wettbewerbsbedingungen hat Urweider dann gemerkt, dass die Einleitung zu einem Gesetzestext nicht unbedingt politisch sein muss – und schon gar nicht juristisches Beamtendeutsch. Also hat die Kunstschaffende drauflosgeschrieben, so wie sie es immer tut: ohne Konzept. Wobei: Konzeptlos heisst in diesem Falle nicht unbedingt ohne jegliche Basis. Urweider hat in 800 Zeichen versucht, Biel so festzuhalten, wie sie die Leute in der Stadt um sich herum erlebt. «Ich mute mir nicht an, für eine ganze Stadt zu schreiben. Letztlich sind es die Bewohner, die einen Ort ausmachen.» In Biel, sagt sie, sei alles möglich, dem Ausprobieren seien keine Grenzen gesetzt. Urweider spricht der Stadt in ihrer Präambel deshalb auch eine Narrenfreiheit zu.

Die Wettbewerbssiegerin war während den letzten fünfeinhalb Jahren quasi ohne festen Wohnsitz, reiste von Projekt zu Projekt. Erst seit diesem Mai ist sie wieder in ihrer Heimatstadt sesshaft. Und auch wenn sie viel herumkommt, ist ihr eines ganz wichtig: Bielerin sein. Das war letztlich auch der Grund, wieso sich Urweider dazu durchgerungen hat, doch noch am Wettbewerb um die Präambel teilzunehmen, schliesslich könnte das Vorwort für die nächsten Jahrzehnte im Bieler Gesetzestext verewigt werden, ein Umstand, den sie «kaum in Worte fassen» könnte, meint Urweider.

Trotz dem Sieg am Schreibwettbewerb gibt es allerdings keine Garantie dafür, dass der Gewinnertext auch tatsächlich so in der Stadtordnung landet. Im September wird der Gemeinderat sich mit dem Gesetzestext – und damit auch mit der Präambel – befassen, im November dann in erster Lesung der Stadtrat. 2020 soll dann die Stimmbevölkerung das letzte Wort haben.

 

Wird der Text zerpflückt?

Dass der Text von Urweider Wort für Wort so, wie sie ihn geschrieben hat, die neue Bieler Verfassung einleiten wird, ist sogar unwahrscheinlich. Stadtschreiberin Barbara Labbé hat bereits kleine Retuschen angekündigt – eine davon dürfte die erwähnte Narrenfreiheit betreffen, auch wenn Urweider festhält, dass sie diese unbedingt drin behalten möchte.

Auch das Parlament wird noch Änderungen vornehmen können, und Labbé hofft, dass dieses den Text «nicht zerpflücken oder gar ganz aus der Stadtordnung nehmen wird». Trotz der Unsicherheit freut sich Urweider schon mal darüber, sich gegen 22 andere Bewerber durchgesetzt zu haben. Und über ihren Preis: Eine Übernachtung für zwei Personen in der Villa Lindenegg, so diese denn umgebaut sein wird.

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Der Siegertext

Wir teilen uns ein Leben zwischen Deutsch und Französisch, zwischen Jura und See, zwischen Ordnung und Gelassenheit, zwischen Kultur und Sport, zwischen Bildung und Kontingenz.

Wir teilen uns ein Leben in einer multikulturellen Stadt, in einer solidarischen Stadt, in einer toleranten Stadt, in einer visionären Stadt, in einer offenen Stadt, in einer grünen Stadt.

Eine Stadt, die aufgrund ihrer Grösse und Mehrsprachigkeit Verantwortung trägt.

Eine Stadt, die nicht Hauptstadt sein muss und deshalb Narrenfreiheit geniesst.

Um kreativ, mutig, lebendig zu sein, um auszuprobieren, sich auszutoben, scheitern zu dürfen. Um aufzustehen, zusammenzustehen, gemeinsam Nein zu sagen – für eine sorgsame Zukunft.

Biel muss nicht.

Biel darf, kann und soll.

Und deshalb geben wir uns, Bieler und Bielerinnen, folgende Stadtordnung:

Vera Urweider

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