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Biel

«Es liegt nicht an mir, über früheres Verhalten zu urteilen»

Yan Seckler ist Fachbereichsleiter für Aufsicht und Betreuung im Regionalgefängnis Biel. Der gelernte Koch erzählt, was ihn aus einer Gourmetküche hinter die Gefängnisgitter gelockt hat.

Yan Seckler arbeitet seit siebeneinhalb Jahren im Regionalgefängnis Biel. Raphael Schaefer
  • Dossier

Tabitha Zimmermann


An oberster Stelle steht für mich in meinem Beruf das Abwägen zwischen Nähe und Distanz zu den Häftlingen. Ich muss einschätzen können, wie weit ich Gefangene an mich heranlassen darf.


Bevor ich Fachbereichsleiter für Aufsicht und Betreuung im Regionalgefängnis Biel wurde, arbeitete ich als Koch in einem Gourmetrestaurant als Sous-Chef. Der Grund für den Wechsel war die mühsame Zeiteinteilung, mit der ich als Koch umgehen musste. Wegen meiner Familie passten mir die unregelmässigen Arbeitszeiten einfach nicht mehr. Also entschied ich mich kurzerhand, den Beruf zu wechseln. Ich wollte etwas finden, dass mir wirklich zusagt. Da mich das Sicherheitswesen schon immer interessiert hatte, wollte ich meinen Weg in diese Richtung einschlagen. Ein Job bei der Feuerwehr, der Polizei, der Ambulanz oder eben auch im Gefängnis kamen für mich in Frage – ich hatte mich noch nicht festgelegt.


Die Menschen in meinem Umfeld reagierten ziemlich erstaunt, als ich den Beruf wechseln wollte. Als sie aber erfuhren, was ich machen möchte, war das Interesse sofort da. Ich denke, die Leute interessieren sich besonders für meine Arbeit, weil man nicht oft einen Einblick in dieses Milieu bekommt. Man kann schnell einmal ein paar Tage in einem Restaurant schnuppern, um den Alltag eines Kochs mitzukriegen. Aber im Gefängnis bleiben die Türen verschlossen. Die Leute kennen höchstens, was sie in der Zeitung lesen oder in TV-Serien gesehen haben. Doch die Gefängnisserien sind nicht wirklich authentisch. Es wird vieles übertrieben dargestellt und es werden meist nur die Teile der Arbeit gezeigt, die spannend wirken.


Letztlich fand ich die Stelle im Regionalgefängnis Biel. Ich bin in Biel aufgewachsen und kenne die Stadt sehr gut, deshalb passte alles und so riskierte ich den grossen Schritt. Die Grundausbildung dauerte zwei Jahre und war berufsbegleitend. Ich hatte während dieser Zeit blockweise zweiwöchige Kurse in Freiburg am schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug. Dies kam mir gelegen, denn so konnte ich weiterhin Zeit mit meiner Familie verbringen und war nicht über längere Zeit abwesend.
In meiner heutigen Arbeitsroutine angekommen, ist mein Tagesablauf organisiert und lässt sich gut mit meinem Privatleben kombinieren. Mein Tag beginnt normalerweise um 6.50 Uhr bei der Logenübergabe, bei der ich über allfällige Geschehnisse in der Nacht und neue Insassen informiert werde. Ein Mitarbeiter geht morgens ins Alters-und Pflegeheim, um das Essen für die Häftlinge zu holen. Um 7.10 Uhr verteilen wir das Frühstück. Von dann an bis um 10 Uhr können die Insassen zusammen essen und bei offenen Zellen Zeit zusammen verbringen. Nach dem Verteilen des Mittagessens bin ich manchmal für die Aufsicht im Hof zuständig, wo die Häftlinge gruppenweise ihren täglichen Spaziergang machen dürfen. Mein Arbeitstag endet um 17.50 Uhr mit der Schliessung aller Zellen.


Manchmal habe ich allerdings auch Nachtschichten, dann bin ich 12 Stunden im Dienst. Diese fangen um 19 Uhr an und enden um 7 Uhr morgens. Bei der Nachschicht geht es vor allem um die Vorbereitung des nächsten Tages. Es kann aber auch Neuankömmlinge oder medizinische Notfälle geben, um die wir uns kümmern müssen.


Die schwierigsten Situationen in meinem Beruf sind die Neuaufnahmen. Wenn neue Personen inhaftiert werden, ist es manchmal sehr schwer, sie richtig einzuschätzen. Das lernt man erst durch Berufserfahrung. Anfangs ging ich sehr vorsichtig mit Einschätzungen um, später lernte ich aber immer besser, zwischen Wahrheit und Mittel zum Zweck zu unterscheiden.


Am besten gefällt mir an meinem Beruf, dass er so abwechslungsreich ist. Zum Teil weiss ich zwar, was mich tagtäglich erwartet, andererseits kann auch immer etwas Unerwartetes vorfallen. Ich finde es ausserdem erstaunlich, wie eng ein Team zusammenhalten kann. Wir sind wie eine grosse Familie. Es gibt zwar Meinungsverschiedenheiten, aber ich weiss trotzdem, dass die Kollegen immer für mich da sind, wenn es nötig ist. Der Zusammenhalt im Team ist beeindruckend.


Am Wichtigsten ist in meinem Beruf die Zusammenarbeit – unabhängig davon, welche Vergangenheit die Menschen haben. Man darf also keine Vorurteile haben, muss völlig neutral auf die Menschen zugehen und auch in schweren Zeiten für sie da sein. Wir haben zwar Kenntnis über ihre Delikte, aber es liegt nicht an uns, über ihr vorheriges Verhalten zu urteilen. Uns interessiert nur ihr aktuelles Betragen, das sie im Gefängnis an den Tag legen.


Es kam bereits vor, dass mich ein Insasse fragte, wieso ich so nett zu ihm sei. Er fragte mich, ob ich seine Straftaten befürworte. Ich sagte ihm, dass dem natürlich nicht so sei. Dass ich aber immer bei Null beginne, wenn ich jemanden kennenlerne. Wenn er mir gegenüber anständig sei und sich so verhalte, wie ich es mir von ihm erhoffe, dann könne er das auch von mir erwarten. Es geht also darum, Häftlinge mit Respekt zu behandeln, denn die Resozialisierung beginnt bereits beim Eintritt ins Gefängnis.
Es kommt öfters vor, dass es Häftlingen nicht gut geht. In solchen Situationen habe ich stets ein offenes Ohr für sie und erzähle auch von meinen Erfahrungen. Dabei muss ich aber aufpassen, dass ich nicht zu viel von mir preisgebe. Es gibt eine klare Grenze zwischen Privatem und Beruflichem, die man nicht überschreiten darf.


Wenn ein Häftling einen Schicksalsschlag erleidet, wenn zum Beispiel ein Elternteil stirbt oder der Partner Schluss macht, können sich die Insassen nicht ablenken. Wir da draussen können solche Erlebnisse viel besser verarbeiten, weil wir mit Kollegen oder Verwandten darüber sprechen und uns ablenken können. Das können Häftlinge nicht. Sie sind in ihrer Zelle eingesperrt und sind mit ihren Problemen alleine. Deshalb ist es mir wichtig, dass ich mir, auch wenn es nur fünf Minuten sind, Zeit nehme, um zuzuhören. Letztlich geht es gar nicht darum, eine Lösung zu finden, sondern darum, ein Gesprächspartner für sie zu sein.


Oft können durch Gespräche auch Konflikte unterbunden werden. Teilweise kommt es im Gefängnis durch die vielen verschiedenen Nationen aber zu Sprachproblemen. Diese lassen sich aber immer irgendwie lösen, sei es durch Sprachmischung, durch die Nutzung von Übersetzerprogrammen oder im Notfall durch Sprache mit Händen und Füssen. Ich selber bin froh, dass ich in Biel aufgewachsen bin und ich mich somit auf Deutsch, Französisch und Englisch verständigen kann. Es gab natürlich auch schon Situationen, in denen das Reden und Zuhören nichts mehr half. In solchen Situationen müssen wir dann entschieden einschreiten.


Manchmal fragen mich Leute, ob ich nicht Angst habe, im Gefängnis zu arbeiten. Solange einem bewusst ist, wo und mit wem man arbeitet, ist es unproblematisch. Es wird erst gefährlich, wenn der Umgang mit den Insassen zur Routine wird.
 Wichtig ist also, den Respekt und die Distanz vor der Arbeit zu bewahren und immer auf alles vorbereitet zu sein. Es kann nämlich auch vorkommen, dass ein Häftling, mit dem man noch nie Probleme hatte, plötzlich versucht, einen auszutricksen. Auch wenn ihre Tat im Grunde keine Rolle für uns spielt, sollte man trotzdem immer im Hinterkopf behalten, dass meist ein Grund besteht, wieso sich Leute im Gefängnis befinden.


In den siebeneinhalb Jahren, die ich bereits hier arbeite, habe ich erst zwei Mal etwas erlebt, das mir sehr nahe ging. Alle Mitarbeiter gehen mit solchen Erlebnissen verschieden um. Einige versuchen, abends abzuschalten, indem sie Sport treiben. Andere lassen ihren Berufsstress beim Ausziehen ihres Einsatzgurtes im Gefängnis. Ich versuche, während meines halbstündigen Nachhausewegs den Tag nochmals zu überdenken. Nach dieser halben Stunde ist für mich das Thema erledigt und ich kann problemlos abschalten.
Oft höre ich von Bekannten, dass die Gefängnisse in der Schweiz beinahe luxuriös wären und gar keine richtige Strafe darstellten. Man habe ja sogar einen Fernseher und ein Radio in der Zelle – fast wie in einem Hotel. Dann bringe ich gerne folgendes Beispiel: Wenn ich eine Woche in den Ferien verbringe, es aber jeden Tag regnet und ich deshalb viele Tage im Hotelzimmer verbringe, habe ich bereits nach drei Tagen das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt. Dieses Gefühl kann ich aber umgehen, indem ich hinausspaziere. Ein Insasse hat diese Möglichkeit nicht. Er hat keine Türklinke in seiner Zelle. Das Gefängnisleben bestimmt seinen Alltag und nicht er selbst. Das ist die wahre Strafe im Gefängnis.

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