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Vieles wirkt real, ist aber halt doch nicht echt

Weil die Coronapandemie die Formel-E-Saison lahmgelegt hat, treten die Profi-Rennfahrer online aufs Gaspedal. Auch der Seeländer Neel Jani nimmt an der virtuellen Meisterschaft teil. Am Samstag fuhr er auf den 4. Platz.

Neel Jani hat im Rennsimulator dank des breiten Bildschirms den Überblick. Das ist auch nötig, muss er sich doch im Unterschied zur echten Rennstrecke vor allem auf seine Augen verlassen können. Bild: bil

Moritz Bill

«Eigentlich», sagt Neel Jani, «ist heute nicht das passende Wetter für so etwas.» Es ist halb vier Uhr an diesem Samstagnachmittag. Draussen scheint die Sonne, drinnen guckt der Rennfahrer wortwörtlich in die Röhre. Vor ihm flimmert ein gigantisch breiter Bildschirm, neben ihm vibrieren zwei Handys um die Wette. Er muss sich in zig Video-Chats und Social-Media-Channels einloggen, dazu mehrere Live-Streams starten. «Viel Technik», sagt Jani und seufzt leise. «Vor ein paar Jahren wäre das nicht möglich gewesen.»

Das, das ist die E-Sports-Serie «Race at Home Challenge», welche die Formel E Mitte April ins Leben gerufen hat – notgedrungen. Corona legt selbstverständlich auch die Formel E lahm. Um den Fans, und nicht zuletzt auch den Sponsoren, in dieser Zeit etwas zu bieten, misst sich das komplette Startfeld bis Anfang Juni in acht Meisterschaftsrennen. Dabei – Nomen est omen – fährt jeder Fahrer bei sich zuhause, respektive sitzt in seinem Simulator. An diesem Samstag steht der dritte Lauf an – auf der Strecke von Monaco.

Angerichtet wie ein richtiges Rennen

Diese sieht der echten dank der detailtreuen Visualisierung verblüffend ähnlich. Schon bloss die Yachten im Hafen lassen einen an der französischen Mittelmeerküste wähnen. Selbst die Helme der Piloten entsprechen den Originalen. Die moderne Technik machen sich auch die Veranstalter zunutze. Das Rennen wird via mehrere Plattformen in die ganze Welt gestreamt, in der Schweiz überträgt der Sender «MySports» live. Die Aufmachung steht einer echten TV-Übertragung in nichts nach: Live-Kommentar, Zwischenzeiten, Replays – das volle Programm.

Noch ist es aber nicht soweit, zuerst steht das freie Training an. Es ist Viertel vor vier, als Jani im Simulator Platz nimmt. Er zieht Handschuhe an, was für den Laien nur so lange fragwürdig bleibt, bis das Lenkrad erstmals mittels künstlichem Widerstand heftiges Rennfeeling simuliert. Das bekannte hin und her steuern, um die Reifen auf Temperatur zu bringen, ist auch in der virtuellen Aufwärmrunde nötig. «Und die Bremsen muss man auch aufwärmen, das ist ganz wichtig», ergänzt Jani.

Jetzt, es ist Punkt vier Uhr, sind alle Fahrer mit der Rennleitung verbunden. Letzte Anweisungen werden in alle Herren Länder versendet. Danach legt Jani eine Pause ein, geht nach draussen an die Sonne. Dort trifft er auf seinen zweijährigen Sprössling Maverick. Dieser geniesst es, dass Papi plötzlich so oft daheim in Bellmund ist. Finden die Rennen nicht wie derzeit in der virtuellen, sondern in der echten Welt statt, ist das anders. Und auch der Vater hat Gefallen daran, für einmal nicht pausenlos hin und her jetten zu müssen. Doch samstagnachmittags, das weiss der Sohnemann, muss er Papi für ein paar Stunden entbehren.

Grosser Druck im Qualifying

Jani setzt sich wieder in sein temporäres Arbeitsgerät. Mittlerweile, es ist es gegen fünf Uhr, macht sich bei ihm etwas Frust breit. Die perfekte Runde, sie will ihm im Training einfach nicht gelingen. Er kämpft immer wieder mit den zwei letzten Kurven. Die Abstände sind zwar gering, doch der Seeländer weiss: Im Qualifying muss er liefern. Eine einzige Runde wird den Fahrern gewährt, verhaut man diese, findet man sich auf den hinteren Startplätzen wieder. «Dann wird es brutal schwierig, im Rennen noch nach vorne zu kommen.»

In der Tat: Auch der breite Bildschirm ändert nichts daran, dass die Strecke extrem eng ist. Wie auf den Stadtkursen der Formel E üblich, fehlen auch in Monaco Auslaufzonen. Überholen scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Dementsprechend angespannt ist der Le-Mans-Sieger von 2016 um zwanzig nach fünf. In wenigen Augenblicken fährt er mit der ersten Gruppe raus auf die Strecke. Es sind die besten acht Fahrer der Gesamtwertung. Vor allem dank seines 4. Platzes vor einer Woche gehört Jani dazu. Damit holte er die ersten Punkte für das Porsche-Team, nun will er diesen Erfolg bestätigen. Zwar gelingt ihm der Abschluss der Runde erneut nicht wunschgemäss, dennoch reicht es für P7. Darauf lässt sich aufbauen.

Nicht bloss ein bisschen gamen

Und wie: Jani hat Glück, in der ersten Kurve kommt es vor ihm zum Crash, er schlängelt sich vorbei auf Platz 4. Diesen gibt er in den 15 Rennrunden nicht mehr preis. «Puh, das war anstrengend», sagt Jani, als er kurz nach sechs zum letzten Mal aus dem Simulator steigt. «Viele Leute denken, dass wir nur ein bisschen gamen. Doch das ist anspruchsvoll, verlangt höchste Konzentration.»

Seit die Formel-E virtuell stattfindet, trainiert Jani deshalb täglich zwischen einer halben und ganzen Stunde im Simulator. Das ist nötig, denn nur zum Spass mache das keiner der Piloten. «Auch wenn es nicht jeder zugeben würde: Alle nehmen es ernst, niemand will total abfallen.» Jani weiss, was ihm noch fehlt, um nach ganz vorne zu fahren. «Im Simulator habe ich noch nicht dieselbe Sicherheit wie auf der echten Strecke. Ich kann nicht gut genug abschätzen, wo ich ans Limit gehen kann und wo nicht.»

Trotz aller Simulationstechnik muss er sich vor allem aufs Auge verlassen, im richtigen Rennauto kann er die wirkenden Kräfte viel besser spüren. Denn wie für die Zuschauer gilt auch für die Fahrer: Vieles wirkt real, ist aber halt doch nicht echt. Die Fans können sich während des Rennens mit Kommentaren einbringen und sich jeden beliebigen Fahrer per Video in die eigene Stube streamen. Aber obwohl man irgendwie ganz nah dran ist, ist man halt doch so fern.

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Aktuell ist kein Rennen mehr geplant

Mit den Absagen der Rennen in New York und London ist nun kein Rennen des Formel-E-Kalenders mehr übrig. Die Verantwortlichen wollen zwar alle Hebel in Bewegung setzen, um die Saison noch irgendwie zu beenden. Doch ein Abbruch der Meisterschaft scheint immer wahrscheinlicher.

Formel-E-Chef Alejandro Agag sagte gegenüber dem Onlineportal «Motorsport Total»: «Wenn wir im August oder September nicht fahren können, werden wir die Rennen nicht weiter nach hinten verschieben. Stattdessen würden wir die aktuelle Saison opfern, um im Dezember mit der neuen starten zu können.»

Um die aktuelle Saison zu retten, stehen Szenarien mit Rennen auf permanenten Strecken ohne Zuschauer im Raum. Doch wo auch immer diese stattfinden würden – aufgrund der aktuell geltenden Reiserestriktionen dürfte es extrem schwierig werden, die Fahrer und Teams aus verschiedensten Ländern am selben Ort zu versammeln.

Bisher wurden sechs Rennen ausgetragen. Damit die Meisterschaft gewertet wird, müsste noch mindestens ein weiteres Rennen stattfinden. bil

Stichwörter: Formel 1, Motorsport, Digital