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Solothurn

Leere Blicke und Tanz vorm Screen

Tom Kummer, Patrick Savolainen, Simone Lappert, Lukas Bärfuss oder Peter Bichsel – sie und viele andere waren am Wochenende Teil der Online-Ausgabe der 42. Solothurner Literaturtage.

Tanasgol Sabbagh, iranische Spoken-Word-Künstlerin, grübelt in Berlin für die «Jukebox Littéraire», welcher Text zum Wort «Zugausfall» passen könnte. Bild: Gau

Clara Gauthey

«Säulenhalle», «Kneipe», «Foyer» und «Seminarraum», diese für einmal virtuellen Räume dienten am Freitag und Samstag der Durchführung der 42. Ausgabe der Solothurner Literaturtage. Alles online, alles live und gratis. Zugeschaltet waren die Autoren und Übersetzerinnen sowie 10 000 Zuschauer und Zuschauerinnen aus diversen Teilen der Welt, mal per Live-Stream zu Gast, mal per Videokonferenz in Zoom-Meetings vereint.

Demoralisiert über Moral reden

Ein andere Teil kam nach Solothurn ins Live-Studio, darunter auch Georg-Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss, der über «Literatur und Moral» diskutierte mit Nora Gomringer und Sandra Künzi. Das verlief stellenweise etwas zäher, als man hätte vermuten können, was wohl auch daran lag, dass nicht recht Stimmung aufkommen wollte, weil einige Teilnehmer bereits den Moralischen hatten, allen voran Gomringer, welche aus dem Bornheimer Wohnzimmer zugeschaltet war, mit wackeligem Ton und nur semi-motiviert. Da trug die Zuschauerfrage aus dem virtuellen Publikum nicht wirklich zur Stimmungsaufhellung bei, nach der sie zum x-ten Mal Stellung beziehen sollte zu der Löschung des väterlichen Gedichts «Ciudad» von einem öffentlichen Gebäude in Berlin, nachdem ein Sexismusvorwurf an Eugen Gomringer laut geworden war. Immerhin war sie ein «sicherer Wert», was die Ansteckungsgefahr anbelangte, denn, wie Sandra Künzi einwarf: Zwei Meter seien das nicht ganz hier zu Lukas Bärfuss. Der sich schnell verteidigte, er sei «voll desinfiziert».

Fortan schlängelte das Podium zwischen dem Unwillen, alles zu gendern, moralinsaurer Erbauungsliteratur und der Frage, ob Sprache per se schon moralische Standpunkte andeute. Bärfuss erinnerte daran, wie «die männliche, weisse Position alles rasierte, was nicht ihrer Gesinnung entsprach» und zeigte sich froh, von dieser Zeit Abstand zu haben. Um aber auch sich selbst nicht zu verschonen, betonte er schliesslich, man müsse am Ende wohl den Finger auf sich selbst richten, wie man hier sitze, denn schliesslich sei man «als Gesamtheit Teil des Problems». Einig war man sich schliesslich, dass Literaten allein es nicht richten könnten, «wieso sollen wir eigentlich moralischer als der Rest sein?», und überhaupt, wenn die da oben eben Dividenden ausschütteten und gleichzeitig Kurzarbeit machten, dann müsste moraltechnisch doch eher in der Wirtschaft etwas passieren als bei den armen, kleinen Schriftstellern, oder?

Die Nähe zum Fremden finden

Moralisch-politische Fragen berührte am Samstag auch das Podium «Die Sehnsucht nach der Fremde» mit Christopher Kloeble, Tess Lewis und Oliver Lubrich. Denn dort ging es auch um den Blick des weissen Mannes oder seiner Frau. Die Frage, ob die Globalisierung gegenseitige Fremdheiten auflöse, was nicht angenommen wurde, und um das postkoloniale Bild, welches unsere Bücher von Afrika oder Indien streuen, die Klischees, welchen wir selbst bei angeblich vertrauten Ländern wie den USA aufsitzen, der Angst vor Überfremdung und dem Rechtsruck vieler Staaten. Aber auch die Rettung durch den Gang ins Fremde wurde beschrieben, die Möglichkeiten des Neuanfangs, der freieren Selbstfindung, der Weitung des Blicks («Kinder, geht alle ein Jahr ins Ausland und kommt wieder, als andere!»). Einen schönen Ausstieg fand Moderatorin Gabrielle Alioth schliesslich mit dem guten alten Goethe: «Der ist nicht fremd, wer teilzunehmen weiss.» Die Podiumsformate, die trotz gewisser Holprigkeiten vertraut daherkamen, waren aber längst nicht alles, was man am Bildschirm geboten bekam.

Spielen mit Textsuchern

Vor allem spielerische Formate wie die «Jukebox Littéraire» brachten am Freitagabend in der «Kneipe» frischen Wind ins blutlose Online-Geschehen. Dabei trafen sich zwei Romands und zwei deutschsprachige Autorinnen und Autoren zum literarischen Such-Quartett. Inspiriert durch Begriffe aus dem chattenden Publikum begaben sie sich auf die Suche nach passenden Passagen in ihrem Werk, welche sie nach musikalischen Einlagen durch Adrien Gygax vortrugen.

Das bot hübsche Chansons und zugleich auch die gute alte Lesung, welche als Format ziemlich zu kurz kam. Ausserdem war es im Sprachenmix sehr à la Biennoise und bot einen ungewohnten Zugang zu den Autoren, zur Herangehensweise an unterschiedlichste Themen und ihrer ganz persönliche Art des Assoziierens.

Später Wurm entkommt dem Vogel

Wem diese Möglichkeiten noch nicht ausreichten, der durfte sich schon ab dem 14. Mai auf eine Reise durch die uferlose Collage der 71 eingeladenen Autorinnen und Autoren begeben. Im «Logbuch» hatten sich Datenmengen von 4 Gigabyte angesammelt, darunter nicht nur erstmals publizierte Texte von A wie Alexandra von Arx bis Z wie Urs Zürcher. Musikalische Lesungen, Gespräche oder eine interaktive Landkarte waren dort vertreten. Auf sozialen Medien wie Twitter durfte man sich zu Peter Bichsels Kurzgeschichte «Der Denker» unterhalten im ^«Resonanzraum» oder sein Lebensmotto preisgeben («Chumi hüt nöd, chumi morn», «Geduld bringt Rosen» oder «Der späte Wurm entkommt dem Vogel»).

Doch noch ein bisschen Kuscheln

Kuscheliger und intimer wurde es in den zahlenmässig auf 20 beschränkten Zoom-Meetings auf Anmeldung (alle ausgebucht), bei denen sich die Schriftsteller unter anderem über technische oder rechtliche Voraussetzungen für Online-Lesungen austauschten. Und wer noch immer nicht verstanden hatte, dass die Tiefen des Internets unglaubliche Vielfalt bieten, konnte zum Abschluss mit DJ-Lyriker Raphael Urweider sein Wohnzimmer in eine Pseudo-Partyhölle verwandeln, sich doch noch mit einem Drink seiner Wahl versorgen und ein wenig den Kopf schütteln über das, was da auf dem Bildschirm abging. Die angekündigten Partyspiele waren eher ein Rauswerfer, ein Highlight die Hommage einer ganzen Kette von Schriftstellern, welche ihrer Geschäftsführerin Reina Gehrig zum Abschied huldigten. Und die chattenden Gäste öffneten imaginär die Fenster und schrien, für einmal vereint: «Reiiiina!»

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