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Standpunkt

Kein Bildschirm ersetzt das Erleben

Es ist dies womöglich der Trost für das schwierige Kulturjahr 2020, sicher aber die Hoffnung für 2021:
Die digitalen Mittel vermögen das ganzheitliche Erfassen von Kultur nicht adäquat nachzubilden.

Keine Vorstellung, kein Publikum. Dieses Bild aus dem leeren Stadttheater ist sinnbildlich für einen grossen Teil des heurigen Kulturjahres. Bild: zvg/Joel Schweizer

Tobias Graden

Die Weiterentwicklung des menschlichen Körpers, seines Geistes, des menschlichen Wesens überhaupt, seine Vervollkommnung mit den 
Mitteln der Technologie: Das ist das Thema der aktuellen Wechselausstellung im Berner Museum für Kommunikation. Es geht um technische Entwicklungen, um abstrakte Themen auch, um künstliche Intelligenz beispielsweise, um Digitalisierung. Welche Bilder, welche Mittel wendet das Museum an, um solche Inhalte seinem Publikum zu vermitteln? Lässt es Hologramme tanzen, 
Avatare auftreten oder entflieht es gleich ganz in den viel gepriesenen digitalen Raum, wie es dem Zeitgeist gemäss scheinen könnte? Nein. Es lässt menschliche Schauspielerinnen und Schauspieler aus Fleisch und Blut auftreten, die in kurzen 
Szenen die Fragen des Ausstellungsthemas verhandeln. Es ist das Theater, das von den Ausstellungsmachern als jenes Mittel betrachtet wird, das jene Dringlichkeit erreicht, die den tiefen 
Fragen gerecht wird. 


Szenenwechsel. Ein alter Mann spielt Klavier, der Raum ist mässig gut ausgeleuchtet, der Pianist nachlässig angezogen. Es ist Peter Aronsky, der in seiner Karriere so viel erlebt hat und der nun, zur Zeit des ersten Lockdowns im März, in privatem Ambiente kleine Konzerte gibt und sie live ins Internet streamt – nicht nur Igor Levit tut das oder hippe junge Bands, sondern auch der alte Pianist am Bielersee. Das ist sympathisch, verdienstvoll und kann auch eine gewisse komische Note haben – aber vermag es einen Konzertbesuch zu ersetzen?

«Hoppla! Die K unst entdeckt das Publikum», höhnte der «Tages-Anzeiger» Ende Mai in einer Bilanz des Kulturbereichs nach dem ersten Lockdown. «Welche Schlappe: Fussball schlägt Kunst», ging es weiter – in polemischem Ton, aber eben schmerzhaft treffend. Die Museen sind nach ein paar Tagen der Öffnung schon wieder zu, der 
Pianist darf auch vor noch so wenigen Menschen mit noch so viel Abstand nicht auftreten. Mit viel Fantasie hatte das Team von Kultur Kreuz Nidau im November nach dem kleinstmöglichen Format gesucht, das auch in Pandemiezeiten ein Live-
Kulturangebot erhalten sollte: Kleindarbietungen unter freiem Himmel vor einer Handvoll Publikum – selbst dies wurde verboten. Man nimmt es mittlerweile fast achselzuckend hin. Es ist halt so. Man darf ja derzeit nicht mal singen auf der Strasse. Ob diese Einschränkungen des Kulturlebens denn wenigstens einen gesundheitlichen Nutzen haben? Das ist irgendwie egal, denn diese Frage wird gar nicht ernsthaft aufgeworfen, sie scheint tabu zu sein. Denn so sehr sich auch herausgestellt hat, für wie wenig systemrelevant die Kultur gehalten wird – staatstragend geben sich viele Kulturschaffende alleweil. Filmemacher, Schriftstellerinnen, Verleger und Künstlerinnen bilden die Erstunterzeichnenden des «Aufrufs gegen die Gleichgültigkeit», die stärkere Eindämmungsmassnahmen fordert und die «demografische Triage» der Schweizer Pandemiepolitik kritisiert. Das ist löblich und auch nachvollziehbar, sind es doch oft die Kulturschaffenden, die sich als Anwälte der Schwachen verstehen.

Sie mögen sich also in einem Dilemma befinden, doch es erstaunt gleichwohl, mit welchem Stoizismus viele Kulturakteure ihr derzeitiges Schicksal hinnehmen. Was dem Land wirklich wichtig ist, hat sich nämlich im Dezember gezeigt: Es ist das Skifahren. «Willkommen in der Kulturapokalypse», konstatierte der Elektromusikproduzent Michal Holy Mitte Dezember. 
Dabei wehrte sich einige Wochen zuvor gar das Leibblatt des Marktliberalismus, die NZZ, für die Kultur und warf die Frage auf, warum diese in der Krise offensichtlich zur entbehrlichen Unterhaltung gezählt werde und nicht zum unverhandelbaren Grundbedürfnis der Bildung. Zwar gibt es Hilfe: Kurzarbeits- und Ausfallentschädigung, Härtefallregelungen, Kredite. Doch fallen manche Kulturschaffende gleichwohl durch das Raster, und man braucht sich nichts vorzumachen: Die öffentlichen Haushalte werden tendenziell enger rechnen müssen, und angesichts der Prioritätensetzung der letzten Monate ist absehbar, dass Kürzungen sicherlich nicht zuletzt die Kultur betreffen werden. Die Stadt Bern und der Kanton Zürich haben es bereits vorgemacht.

Doch es gibt auch die Seite der Kulturkonsumenten, besser gesagt: der Rezipienten. Sie 
haben in diesem Jahr die Erfahrung gemacht, dass die digitale Welt das analoge Erleben nicht gleichwertig ersetzen kann – deswegen die beiden Beispiele zu Beginn. Selbst der Novartis-CEO sagte im Dezember, er sei mittlerweile «super Zoom-müde». Wer im Homeoffice den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzt, für die ist ein gestreamtes Konzert am Abend weder Erholung noch Inspiration. Kein Bild am Bildschirm vermag das Erleben eines Kunstwerks im 
Museum adäquat zu imitieren, seine physische Präsenz, seine Wirkung im Raum, geschweige denn – in allen Sparten – die Reaktion des Publikums. Es ist dies womöglich der Trost für dieses schwierige Kulturjahr 2020, sicher aber die Hoffnung für das kommende 2021: Dass auf diese Einsicht ein Aufblühen der Kultur folgt, sobald dies wieder erlaubt sein wird.

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