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Titelgeschichte

Niemand kontrolliert die Coronaregeln

Im Regionalverkehr halten sich längst nicht alle an die Regeln zum Schutz vor Covid-19. Die fehlende Präsenz von Begleitpersonal macht sich bemerkbar. Das wirft Fragen auf - über Corona hinaus.

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Text: Carlo Schuler

Bilder: Matthias Käser


Eine S-Bahn im Irgendwo. Im Zug ist es ganz ruhig. Ausser dieser eine Mann. Er lärmt in sein I-Phone. Von «Strafanzeige machen» ist die Rede. Da hat jemand offenkundig ein Problem. Hat nun auch die junge Frau, die hinter dem Lärmer sitzt. Sie steht auf und wechselt ihren Platz. Man denkt sich: Hat der Mann noch nie etwas von Aerosolen gehört?


Das Beispiel steht für viele andere: Einmal ist es eine kleine Gruppe, die in der S-Bahn gerade ein bisschen Party macht – ohne Maske, klar, ein andermal der Passagier, der eine so riesige Pizza vor sich liegen hat, dass er wohl die nächste halbe Stunde einen Vorwand hat, um maskenfrei pendeln zu können. Und da ist noch jene Person, die sich die Maske herunterzieht, weil sie gerade etwas an ihren Gesichtshaaren oder Bibeli herumdoktern muss.
Was und wie auch immer: Gerade in den S-Bahnen scheinen die Corona-Botschaften noch längst nicht bei allen richtig angekommen zu sein. Die grosse Mehrheit der Reisenden hält sich zwar gut an die vorgeschriebenen Massnahmen. Ein bestimmter Teil aber überhaupt nicht. Masken werden gar nicht oder bloss pseudomässig getragen, es wird gerufen und gelärmt. Und da ist auch immer wieder – der bereits geschilderte - Evergreen: Verpflegung während der Fahrt. Wer isst und trinkt hat das Freibillet, um keine Maske anziehen zu müssen.


Mehr Aufklärung wäre wichtig
Angesichts der noch immer angespannten Lage fordert der Aerosolexperte Michael Riediker, Direktor des Schweizerischen Zentrums für Arbeits- und Umweltgesundheit in Winterthur, ein Ess- und Trinkverbot im öffentlichen Verkehr.


«Leider kann ich auf den meisten meiner Zugfahrten Leute beobachten, die mit einer Dose oder einem offenen Sandwich in den Zug steigen – mit heruntergezogener Maske. Und die Maske bleibt dann auch bis am Ende der Fahrt unten», so Riediker. «Diese Konsummöglichkeit abzuschaffen, könnte helfen.»


Im Falle eines Superemitters könne es nämlich rasch zu kritischen Konzentrationen in der Nähe der betreffenden Person kommen. «Wenn die Masken im Zug nicht mehr abgenommen werden, reduziert das deutlich das Ansteckungsrisiko der anderen Passagiere.» Riediker sagt, es wäre interessant zu wissen, ob es eine Korrelation zwischen dieser Art von Verhalten und der Häufigkeit der Ansteckungen gibt.


Das Nichttragen der Maske stelle jedenfalls ganz klar ein Problem dar. «So entsteht ein ernsthaftes Risiko, andere Leute mit dem Virus anzustecken, falls man selber ansteckend ist. Diese Leute haben auch ein erhöhtes Risiko, sich selber anzustecken.» Riediker plädiert für mehr Aufklärung. So sei etwa die Aussage «Masken schützen von allem die anderen» nur bedingt gültig. «Masken schützt auch die Trägerin und den Träger selber.» Michael Riediker meint, dass in den Zügen die vermehrte Anwesenheit von Kontrollpersonal nützlich wäre: «Zusätzliche Kontrollen besonders zu Randstunden könnten helfen, doch ich denke, es ist noch besser, wenn die Leute von sich aus Masken tragen würden.» Satire und Humor könnten in diesem Zusammenhang ebenfalls helfen. «Denn wer will sich schon wegen der fehlenden Maske lächerlich machen?»


Neue Kampagne lanciert
«Hygienemasken reduzieren bei korrekter Tragweise die Virenlast um etwa einen Faktor vier», erklärt der Aerosolexperte Riediker. «Das ist zwar nicht so gut wie bei den FFP2-Masken - welche um den Faktor 20 besser schützen - und daher auch nicht genug für den Schutz von stark betroffenen Personen, aber doch klar besser als nichts.»


Wenn eine Person über längere Zeit ohne Maske in einem Zug unterwegs sei – wie dies bei essenden Personen zumeist der Fall ist – und die anderen Personen im Zug keine guten Masken tragen oder die Masken falsch aufgesetzt haben, dann könne dies zu kritischen Viren-Dosen führen, falls die maskenlose Person hoch ansteckend sei.


Könnte ein Ess- und Trinkverbot, so wie es der Aerosolexperte Michael Riediker fordert, für die Bahnen vielleicht doch ein Thema werden? Als Bahnunternehmen könne man die Frage eines Verbots nicht aus medizinischer Sicht beurteilen, antwortet ein SBB-Sprecher auf Anfrage. Die SBB würden zusammen mit Postauto und in Abstimmung mit dem Bundesamt für Gesundheit kommunikative Massnahmen prüfen, um die Reisenden «auf eine empathische Art und Weise an das Schutzkonzept zu erinnern», hiess es in der ersten Februarhälfte vonseiten der SBB. Vor Kurzem wurde nun unter dem Titel «Rücksichtsvoll zusammen unterwegs» eine kleine Kampagne lanciert. «Maske muss, Kaffee kann», heisst es in einem der Inserate.
Dass ein Essverbot  – zumal auf kürzeren Strecken – gut funktionieren kann, zeigen zum Beispiel die Zuger Verkehrsbetriebe. Auf Anfrage erklärt Sprecherin Karin Fröhlich: «Ein gutes Klima und saubere Fahrzeuge sind uns ein Anliegen. Daher ist in allen ZVB-Fahrzeugen Rauchen, Essen und Trinken verboten. Diese Regelung gilt seit vielen Jahren, und wir machen sehr gute Erfahrungen damit.»  


Die SBB beschwichtigen
Wie aber beurteilt man denn bei den Bahn-Verantwortlichen aktuell die Corona-Situation bei den Bahnen? Wer sich weigere, im ÖV eine Maske zu tragen, könne durch das Personal aufgefordert werden, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen, erklärt Michael Müller vom Bundesamt für Verkehr (BAV). Die Kontrolle der Einhaltung der Regeln liege in der Zuständigkeit des jeweiligen Bahnunternehmens.


Auf Anfrage teilt ein SBB-Sprecher mit, die Maskenpflicht werde im ÖV «nach wie vor gut befolgt, sowohl in den Zügen als auch in den Bahnhöfen.» Das Personal wende sich an die «kleine Minderheit» und mache auf die Maskenpflicht aufmerksam. In Einzelfällen komme es vor, dass das Zugspersonal die Sicherheitsdienste beiziehen müsse, weil sich jemand ohne Maske weigere, den Zug zu verlassen. Dabei könne es Verzeigungen wegen Ungehorsam, beziehungsweise «Verletzung der Hausordnung» geben.

Wie oft es in den vergangenen Monaten zu solchen Verzeigungen kam, bleibt offen. Isabelle Wüthrich, Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern, erklärt auf Anfrage, die Kontrolle der Maskenpflicht im ÖV falle primär in die Zuständigkeit der Bahnpolizei und des Bahnbetreibers. Die Kantonspolizei komme dabei nur subsidiär zum Einsatz. «Ordnungsbussen wegen Widerhandlungen gegen die Covid-Verordnung kann die Kantonspolizei nur dann ausstellen, wenn die Polizisten und Polizisten den Sachverhalt selber festgestellt haben.» Allerdings könnten entsprechende Anzeigen auch direkt bei der Staatsanwaltschaft eingereicht werden. Anzeigen im Zusammenhang mit ÖV und Corona würden nicht spezifisch erfasst, sagt Wüthrich weiter. Erfahrungsgemäss seien Einsätze in Zügen oder Bahnhöfen aufgrund der Nichteinhaltung der Maskenpflicht aber eher selten.
Das Problem: Das Personal, das sich gemäss SBB an die «kleine Minderheit wendet», gibt es in den S-Bahnen zumeist gar nicht. S-Bahnen sind in der Regel ohne Kontrollpersonal unterwegs. Zwar lassen die SBB auf Anfrage verlauten, dass die Transportpolizei und andere Sicherheitsdienste «seit jeher» in den Abendstunden vermehrt Präsenz zeigen würden. Allerdings handelt es sich dabei um punktuelle Einsätze.


Zudem: Wenn diese Transportpolizei – wie schon beobachtet – auf einer Fahrt an mindestens fünf Haltestellen vorbei irgendwo im vorderen Teil der S-Bahn an Ort und Stelle verharrt, so ist dies wohl nur bedingt zielführend. Zudem war die Frage anders gestellt: Es geht nicht bloss um die Transportpolizei, sondern ganz grundsätzlich um die Frage der Anwesenheit von Bahnpersonal in den S-Bahn-Zügen. Letzteres könnte das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste ganz generell verbessern. Dass allein schon die Anwesenheit von Personal Wirkung haben kann, lässt sich beim Einkaufen beobachten. Dort trifft man jedenfalls seltener Personen an, die sich maskenfrei bewegen.


Gute Kommunikation könnte helfen
Jürg Hurni, Sekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) sagt, vor allem vom Kundenbegleitpersonal gebe es Rückmeldungen, dass in der Tat beobachtet werden könne, dass sich Passagiere während der Dauer der Reise vermehrt mit Essen und Getränken beschäftigen würden und so keine Maske tragen würden. «Hier sprechen wir vor allem vom Fernverkehr. Im Regionalverkehr ist die Situation eine andere, da auf diesen Zügen – ausser der Stichkontrolle – kein Personal mitfährt.» Weil sich die Stichkontrolle nur sporadisch auf diesen Zügen befinde, gebe es aus dem S-Bahn-Bereich entsprechend weniger Rückmeldungen. Der SEV würde es grundsätzlich begrüssen, wenn auf den Zügen mehr Personal eingesetzt würde, so Hurni.
Suzanne Suggs ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mitglied der Corona-Taskforce des Bundes. Sie ortet mehrere Gründe, warum es Personen gibt, die sich der Maskenpflicht entziehen. «Dies kann unter anderem an einer geringen Risikowahrnehmung, krank zu werden oder andere anzustecken, einer geringen Wahrnehmung der Schwere der Krankheit, einem geringen Gefühl der sozialen Verantwortung oder auch an sozialem Druck liegen.»


Gute Kommunikation und eine kluge Politik könnten helfen, das Problem zu lösen. Ein Problem sei aber, dass man bestimmte Gruppen von Personen informationsmässig kaum mehr erreiche. Nach Ansicht von Suzan Suggs wäre es deshalb gut, wenn die Behörden der Bevölkerung ein paar Basisinformationen zukommen lassen würde – dies zum Beispiel mittels Zusendung eines entsprechenden Flyers: «So könnten die Behörden jene erreichen, die sich nicht aktiv informieren. Zudem würde dies den Leuten eine neue Energie und ein Gefühl der Dringlichkeit übermitteln.»


Was die spezielle Situation in den S-Bahnen betrifft, sagt Suzan Suggs: «Für mich ist es offensichtlich, dass das Fehlen irgendeiner Form von Kontrolle einer bestimmten Gruppe von Leuten den Glauben gibt, dass sie die Regeln nicht befolgen müssen. Aus menschlicher Verhaltensperspektive ist es ähnlich, wie wenn man auf der Strasse an Orten zu schnell fährt, von denen man weiss, dass dort keine Radargeräte installiert sind.»


«Kollektives Versagen»
Für die Kundinnen und Kunden wäre es angenehmer, wenn jeder Zug begleitet wäre, sagt Silas Hobi vom Verein UmverkehR.  Das Problem seien die Kosten, beziehungsweise die Konkurrenz der «billigen» Strasse.
Der motorisierte Individualverkehr decke einen Grossteil der durch ihn verursachten Kosten nicht. Gäbe es mehr Kostenwahrheit, so könnte man sich im öffentlichen Verkehr allenfalls wieder flächendeckend Zugbegleitungen leisten. «Insgesamt würde dadurch der Verkehr verteuert, was nicht falsch wäre, aber politisch kaum eine hohe Akzeptanz hat.»


Grundsätzliche Kritik kommt von Heinz Vögeli von der Denkfabrik Mobilität. Es falle auf, dass sich die ÖV-Unternehmungen mehr mit den ihnen entgangen Einnahmen befassen würden, als sich um das Wohl ihrer Fahrgäste zu kümmern.


«Penibel war letztes Jahr die Phase, als die versammelten ÖV-Betriebe die Situation schleifen liessen und passiv auf den Bundesrat warteten, bis dieser dann endlich die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr verordnete. Dies, obwohl für alle sichtbar war, dass die geforderte Distanz im ÖV nicht eingehalten werden konnte.»


Vögeli spricht von einem «kollektiven Versagen einer ganzen Branche». Mit diesem Verhalten sei viel Vertrauen zerstört worden. Eine klare Haltung der ÖV-Unternehmungen zum Schutz ihrer Fahrgäste wäre notwendig gewesen. Stattdessen seien sie ausgewichen und hätten sich davor gedrückt, sich klar zu positionieren.
«Heute muss man leider feststellen, dass die ÖV-Unternehmen keine der skizzierten Ansätze im Umgang mit dem Virus umsetzen, geschweige denn eigene Strategien oder Konzepte entwickeln.» Das Grundproblem sei und bleibe, dass die ÖV-Betriebe die Fahrgäste nicht als Kunden wahrnehmen würden, denen man Aufmerksamkeit zu schenken habe. «Nach diesem Esprit handelnd, ist es eigentlich folgerichtig, dass die ÖV-Betriebe primär nach höheren Betriebsbeiträgen verlangen, statt sich um die Bedürfnisse ihrer Kunden zu kümmern.»

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