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Der Jäger und Sammler

Fotografie Der Bieler Fotograf, Kurator und Sammler Enrique Muñoz García ist auch in der coronabedingten Flaute nicht untätig. Er nutzt die Zeit zum Sortieren seines riesigen Archivs. Ein Atelierbesuch.

20'000 Bilder digitalisieren: Enrique bei der Arbeit ind seinem Atelier. Bild: Yann Staffelbach

Helen Lagger

Wieso sind Sie nach Biel gekommen? Diese Frage stellte Enrique Muñoz García Menschen unterschiedlichster Herkunft in seinem Projekt «Die Welt in Biel», einer Videoarbeit, die er 2014 startete und seither im Stil eines «Work in Progress» kontinuierlich weiterführt.

Dabei filmt er Menschen aus dem Kongo, Algerien oder Senegal und lässt sie deren Weg in die Schweizer Uhrenstadt beschreiben. Im Sommer 2019 war die Arbeit in Thomas Hirschhorns Robert-Walser-Sculpture auf dem Bieler Bahnhofsplatz zu sehen. Ausserdem war Muñoz Garcia Hirschhorns Dokumentalist und begleitete das ganze Projekt.

 

Sein Onkel wurde ermordet

Er selbst hat eine spannende Migrationsgeschichte zu erzählen. Muñoz García wurde auf dem Chiloé-Archipel, einer Inselgruppe in der Region de los Lagos in Chile geboren. Er wuchs während der Militärdiktatur von General Pinochet auf. «Mein Onkel, ein marxistisch eingestellter Student, wurde mit 22 Jahren von Soldaten ermordet.» Ein anderer Onkel von ihm sei hingegen ein staatsgläubiger Polizist gewesen. «Es gab in meiner Familie das ganze Spektrum, von ganz rechts bis ganz links.»

Er selbst hatte trotz Diktatur eine normale Jugend . «Ich und meine Freunde flüchteten uns in Musik und Filme, wobei natürlich vieles zensuriert wurde.»

Mitten in der Pandemie ist Muñoz Garcia in seine Heimat zurückgekehrt. «Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben.» Muñoz Garcia hatte eine mühselige Reise inklusive Quarantäne angetreten, um sich von seiner Mutter verabschieden zu können.

 

Fotografie als Zugang zur Welt

In seinem Atelier in der Bieler Altstadt hängt eine Druckgrafik, basierend auf einer Fotografie seiner Mutter als junge Frau. Frauen der Familie spielen auch auf dem ersten Foto, das Muñoz Garcia geschossen hat, die Hauptrolle. Er sei ein introvertiertes Kind gewesen, ein Beobachter, dem das Fotografieren half, einen Zugang zur Welt zu finden. «Mit neun Jahren bekam ich eine Kamera zum Geburtstag geschenkt und habe einen Film durchfotografiert.» Auf der schwarzweissen Aufnahme, die er als sein erstes Bild bezeichnet, sieht man seine Schwester und seine Cousine bei einem Machospiel, beim Armdrücken. Er habe die Szene inszeniert und staune selbst, wie bei diesem Bild alles schon da wäre, wofür seine Fotografie bis heute stehe: eine harmonische Komposition etwa und die starken Hell- Dunkelkontraste.

 

Claude und die Sucht

Doch nach diesen ersten kindlichen Versuchen legte Muñoz García die Kamera für eine Weile beiseite. Er ging in die Hauptstadt, nach Santiago de Chile, und studierte an der Universidad Católica of Chile Kunst. Ganz klassisch sei die Ausbildung gewesen mit Aktzeichnen und allem, was dazu gehört.

Während eines Aufenthalts in Peru lernte er eine Schweizerin kennen. Die beiden heirateten und Muñoz García folgte ihr nach Lengnau, in die Schweiz. «Meine Eltern hatten ein Hotel in Chile, das wir übernehmen wollten.» Doch es kam anders. Das Paar trennte sich. Sie ging nach Argentinien und Muñoz García verschlug es nach Biel, wo er eine Stelle als Pressefotograf fand und seine heutige Partnerin, mit der er einen vierjährigen Sohn hat, kennenlernte.

Neben seinen Arbeiten für die Presse widmete er sich auch freien Projekten. So wurde etwa sein Nachbar, ein Heroinsüchtiger namens Claude, zu seinem Sujet. «Es war mir wichtig, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Ich habe nicht von oben herab fotografiert», so Muñoz García. Der Fotograf verzichtete bewusst auf Drogenklischees wie im Arm steckende Spritzen. Stattdessen zeigen die Bilder Claude bei seinen Reinigungsritualen, wie er sich rasiert oder zugedröhnt in der Badewanne liegt.

Darf man das? Er habe eine oft versteckt bleibende Realität aufzeigen wollen und habe diese ein Stück weit enttabuisiert, so Muñoz García über seine Motivation. «Es ist mir dabei nie um eine moralische Bewertung von Claudes Sucht gegangen.» Dass das Projekt Claude (2006) durch eine Nachbarschaft entstanden sei, sei typisch für ihn: «Meine Arbeiten entstehen nie weit weg von mir.»

 

Frauen mit Ferngläsern

Muñoz García ist nicht nur Fotograf, sondern auch Kurator, Betreiber des Offspaces Juraplatz, Mitbegründer von Lokal-Int und Sammler. Seine Arbeit als Pressefotograf – er arbeitet unter anderem für die «Berner Zeitung» – sei coronabedingt ein wenig eingeschränkt, räumt er ein.

Die Flaute nutzt er, um sein riesiges Archiv zu sortieren. Rund 20 000 Fotos sind in seinem Besitz. Darunter sind Raritäten, die er auf Flohmärkten findet oder im Internet ersteigert. So gehört zu seiner Sammlung etwa ein Konvolut von 500 Aufnahmen eines Priesters, die von der Christianisierung in Afrika zeugen. Mehr als 700 Aufnahmen von Frauen mit Ferngläsern gehören ebenfalls zu seinem Schatz.

Die skurrile Sammlung kam aufgrund eines eigenen Fotos zustande. Muñoz García hatte eine Frau festgehalten, die mit ihrem Fernglas auf ein Kriegsschiff blickt. Im Rahmen der 23. Ausgabe der Bieler Fototage kuratierte er schliesslich eine Schau mit diesem Motiv aus der Sicht verschiedener Magnum Fotografinnen und Fotografen. Da man die meisten Frauen nur von hinten oder durch das Fernglas versteckt sieht, bleiben sie anonym. Trotzdem sind sie aktiv – frei nach dem Motto: Wer schaut, ist Subjekt.

Muñoz García hat auch eine Serie von Zapperinnen und Zappern, die er eigenhändig gefilmt hat. Eine bald historische Geschichte, wird doch kaum noch ferngesehen und schon gar nicht mit Fernbedienung. Muñoz García ist nun daran seine Bilderflut zu Digitalisieren. «Ich nutze den Lockdown und versuche meiner Sammlung eine Form zu geben.»

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