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Titelgeschichte

Der Fall Flükiger erwacht zu neuem Leben

Das aktuelle Buch von Daniel de Roulet handelt vom Tod des Berner Soldaten Rudolf Flükiger im Jura-Konflikt. Die Wahrheit im brisanten Fall brauche "Frischluftzufuhr" sagt der Autor.

In dieser einsamen Landschaft verschwand 1977, in den heissen Jahren des Jura-Konflikts, der Berner Soldat Rudolf Flükiger. Bild: Adrian Moser

Stefan von Bergen

Eines schafft auch der scharfzüngige welsche Schriftsteller Daniel de Roulet (77) nicht: den ungelösten Mordfall Flükiger aus den heissen Jahren des Jura-Konflikts aufzuklären. In seinem Kurzroman «L’oiselier», der letzte Woche erschienen ist, erweckt er den lange totgeschwiegenen Fall des Offiziersaspiranten Rudolf Flükiger aus dem bernischen Jegenstorf wieder zum Leben.

De Roulets Buch schlägt derzeit in der Romandie Wellen. Am vorletzten Sonntagabend erzählte der Autor dem welschen Publikum in der Debattensendung «Forum» von Fernsehen RTS die tragische Geschichte: Der damals 21-jährige Flükiger rückte im September 1977 zu einem Nachtlauf rund um die jurassische Kaserne Bure aus, von dem er nie zurückkehrte. Einen Monat später fand man ihn tot jenseits der Grenze in Frankreich. Zerfetzt von einer Handgranate.

Die offizielle Erklärung der Behörden lautete Suizid. Diese wurde aber bald infrage gestellt. Denn zeitgleich führte in diesen Septembertagen vor 44 Jahren die separatistische Jugendgruppe der Béliers eine nächtliche Aktion durch. Es kommt noch dicker: Im September 1977 verfrachteten zudem deutsche Terroristen der Rote-Armee-Fraktion in der Nähe den von ihnen entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Offenbar gar über einsame Strässchen im Schweizer Jura. War ihnen Waldläufer Flükiger zufällig in die Quere gekommen?

Bis heute gärt der Fall Flükiger weiter. Die Gerüchte, dass Aspirant Flükiger Opfer einer politisch motivierten Tat sein könnte, sind weder verstummt noch widerlegt worden.

In Bern noch vertraut, 
im Jura vergessen
Im Kanton Bern, woher Flükiger stammte, hat man die Geschichte nicht vergessen. Als die «Berner Zeitung» dem Fall 2017 eine Serie widmete, meldeten sich frühere Berner Politiker. Ebenso Militärkollegen Flükigers, die sogar an der Suche nach dem Verschollenen beteiligt gewesen waren. Die Kollegen wie auch die Schwestern Flükigers bestritten die Suizidthese vehement. Für die Familie des Opfers bleibt der Fall eine unverheilte Wunde.
Im Jura aber, wo sich die Geschichte abspielte, war sie bis zu de Roulets Publikation vergessen. Selbst Nathalie Barthoulot, Regierungsrätin und Innenministerin des Kantons Jura mit Geburtsjahr 1969, erklärte vor einem Jahr gegenüber der «Berner Zeitung», noch nie vom Fall Flükiger gehört zu haben. Für jüngere Generationen im Kanton dürfte das erst recht gelten. Das könnte sich nun ändern. Denn sogar die in der Kantonshauptstadt Delsberg erscheinende Zeitung «Le Quotidien Jurassien» hat nun de Roulet interviewt.

Der Autor erinnert daran, dass Flükigers brisante Geschichte von 1977 die damals unmittelbar bevorstehende Gründung des Kantons Jura hätte gefährden können. Hochrangige Politiker wie der damalige Bundesrat und Justizminister Kurt Furgler (1924–2008) sorgten deshalb persönlich dafür, dass der Mantel des Schweigens über den Fall gebreitet wurde.

Furgler wollte sich als Staatsmann ein Denkmal setzen und den Jura-Konflikt durch die Gründung eines neuen Kantons beilegen. Der Bundesrat war deshalb hoch alarmiert, als ein angeblicher Bélier in einem anonymen und nie bestätigten Bericht erklärte, Flükiger sei Opfer eines tragischen Unfalls. Der von einem Bélier-Trupp entführte Berner Soldat sei beim Transport in einem Autokofferraum erstickt. Man habe den Leichnam dann jenseits der Grenze mit einer Granate unkenntlich gemacht.

Wäre diese Tatversion bestätigt worden, hätten die Schweizer Stimmberechtigten womöglich der Kantonsgründung im Jura nicht zugestimmt. Justizminister Furgler beharrte umso hartnäckiger auf der Suizidversion. Wie die «Berner Zeitung» 2017 erfahren hat, hat Furgler persönlich gar dem damaligen Chefredaktor der Zeitung «Der Bund» Recherchen über diese Bélier-Spur untersagt.

Daniel de Roulet erzählt das damalige Geschehen nun als spannungsvollen Roman. Dafür überhöht er die minutiös recherchierten Fakten fiktiv. Als Gegenspieler von Bundesrat Furgler lässt er den legendären St. Galler Schriftsteller und Starjournalisten Niklaus Meienberg auftreten. Als rasender 
Reporter hetzt dieser zusammen mit einer Tochter Furglers zu den Schauplätzen im Jura und kämpft gegen das von Furgler verfügte Schweigen an.

«Weiterfahren! Es gibt nichts zu sehen»
Meienberg war zwar tatsächlich für kurze Zeit mit einer Tochter Furglers liiert. Mit dem Fall Flükiger aber beschäftigte er sich nie. Der Hahnenkampf des Ostschweizer Machtpolitikers Furgler gegen den Ostschweizer Feuerkopf Meienberg ist also eine Erfindung. Aber eine, die Sinn macht. De Roulet zeigt damit, wie mächtige Drahtzieher verhindern wollten, dass im Fall Flükiger eine allenfalls unangenehme Wahrheit ans Licht kommen konnte.
Erfährt man nun durch de Roulets Roman mehr, als man vorher schon wissen konnte? Nach 44 Jahren lasse sich Flükigers Geschichte wohl kaum mehr klären, erklärte er in der RTS-Sendung «Forum». Aber in so einem verfahrenen Fall schaffe es womöglich gerade ein Autor mit seiner Literatur, dennoch der Wahrheit näherzukommen.

Die Wahrheit über den Fall Flükiger wie auch über die komplizierte, ja blutige Gründung des Kantons Jura sei nämlich auf der Strecke geblieben. Politiker wie Furgler hätten etwa Flükigers Tod als private Suizidgeschichte politisch entschärft. Und die Kantonsgründung im Jura als reibungslosen demokratischen Akt.

Im starken Einstieg seines Romans schreibt Daniel de Roulet, die Schweizer Politik funktioniere nach dem Prinzip: «Bitte weiterfahren, es gibt nichts zu sehen!». Sie glaube, Probleme durch stille Übereinkünfte lösen und durch «staatlich verordnetes Schweigen ersticken» zu können. Dieses Schweigen aber könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der Schweiz Gewalt und Konfrontation gebe. Oder Lügen wie die über die nachrichtenlosen Vermögen von Juden aus dem Zweiten Weltkrieg.

Hier bringt de Roulet wieder die Literatur ins Spiel. Oft seien es Schweizer Schriftsteller, die noch vor den Historikern und vor dem Ablauf der Archivsperrfristen unangenehme Wahrheiten aufdeckten. Schriftsteller wie Niklaus Meienberg etwa, der früh die ganz und gar nicht neutrale Kooperation der Schweiz mit Nazideutschland erkannte. Kein Wunder, lässt de Roulet diesen Meienberg nun in seinem Roman gegen die Tabus im Jura-Konflikt anrennen.

Was im Jura-Konflikt unerledigt bleibt
Daniel de Roulet erzählt uns so nichts Neues vom Fall Flükiger, aber er zeigt, wie viel Unerledigtes diese Geschichte immer noch belastet. Er baut noch zwei weitere düstere Todesfälle in seinen Roman ein. Wenige Monate nach der Auffindung von Flükigers Leichnam wurde nämlich bei Pruntrut der Kantonspolizist Rodolphe Heusler erschossen. Er war mit der Aufklärung des Falls Flükiger betraut und hatte offenbar neue Erkenntnisse gewonnen. Der Polizistenkollege, der für Heuslers Tötung verurteilt wurde, widerrief später sein Geständnis.

Als Suizid wurde kurz darauf auch der Tod eines Wirts erklärt. Er führte den Gasthof, in dem sich am Abend von Rudolf Flükigers Verschwinden die Béliers für ihre nächtliche Aktion versammelten. De Roulet wirft die Frage auf, ob wirklich drei ungeklärte Todesfälle in einer so kurzen, politisch höchst angespannten Zeit als Suizide oder private Racheakte dargestellt werden können.

De Roulet weist auch darauf hin, dass allfällige Täter, die damals dabei waren und die Wahrheit kennen, noch am Leben sind. Der im Berner Jura aufgewachsene Autor erklärt zwar, er sei nicht Mitglied der Béliers gewesen, er habe aber Einblick in ihr extremistisches Milieu gehabt. Deshalb weiss er, dass sich auch heute im Pensionsalter befindliche Jura-Kämpfer an ein Schweigegelübde halten. Sie überhöhen ihre einstigen Taten gerne nostalgisch, plaudern sie aber nie aus.

Wie das Verschwiegene weitergärt
Das Unerledigte im Jura-Konflikt ziehe sich als lange Spur bis heute weiter, schreibt de Roulet. Die offizielle Version sei, dass der Jura-Konflikt 1979 mit dem gutschweizerischen Mittel einer Kantonsgründung beendet worden sei. In Wahrheit aber habe Furgler die Region mit der Gründung eines Halbkantons im Norden abgespeist. Dieser sei ökonomisch kaum lebensfähig gewesen und habe den Basler Chemiefirmen als Abfalleimer sowie der Armee als Truppenübungsplatz gedient.

Auch nach der Kantonsgründung eskalierte die Gewalt im Jura weiter, die Unversöhnlichkeit vertiefte sich noch. Insbesondere in Moutier, wo Ende März die Abstimmung über die immer noch unklare Kantonszugehörigkeit des Städtchens ansteht.
40 Jahre danach sei deshalb im Jura und im Fall Flükiger «für die Wahrheit Frischluftzufuhr statt die erstickende Staatsräson» erforderlich, schreibt de Roulet. «Denn Gerechtigkeit und Aussöhnung gibt es nur durch Wahrheit.»

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