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Nebia

Grenzerfahrung im Gruselturm

Was Boris Gibé mit «L’Absolu» im Nachtschwarz seines Siloturms auf dem Gurzelen-Areal inszeniert, ist nichts für schwache Nerven. Man muss es gehört, gesehen, gefühlt haben: einzigartig.

Science-Fiction: Der Darsteller wird gleich da sein, denn alle warten auf ihn. Unser Bild zeigt eine Übungsvorstellung, denn beim Live-Auftritt ist es streng untersagt, zu fotografieren. Bild: Matthias Käser

Clara Gauthey

So schwarz wie in diesem Turm ist es nicht einmal nachts im Schlafzimmer. Die kalten Wände des Siloturms sind aber selbst im Dunkeln spürbar und eine sanfte Beklemmung setzt ein. Töne erklingen, wie durch eine Wand, als kämen sie von draussen. Dann ein Licht. Eine fluoreszierende Flüssigkeit rinnt ganz oben auf der Kuppel über eine Plane. Was ist das? Und da, ein Schatten! Wird die durchsichtige Folie, durch welche die rätselhafte Flüssigkeit auf den Boden tropft, die Füsse tragen? Fragen, die Dauerzustand sind in diesem Überlebens-Spektakel von und mit Boris Gibé, welches den Puls rasen lässt von der ersten bis zur letzten Minute. Irgendwann merkt man, dass man mal wieder anfangen sollte, zu atmen. Und dass es eine Kleiderschicht weniger womöglich auch getan hätte.

Vielleicht erst am Schluss hinein in den dunklen Turm

Wer mit Höhenangst oder Klaustrophobie zu kämpfen hat, dem könnte, gerade in den höheren Rängen, etwas unwohl werden. Nebia-Direktorin Marynelle Débetaz empfiehlt solchen Zuschauerinnen und Zuschauern, beim Einlass eher am Schluss hineinzugehen, damit man den Turm nötigenfalls rasch verlassen kann. Aber ans Verlassen ist gerade wirklich nicht zu denken, so gebannt verfolgt man das seltsame Geschehen: leidend, angespannt, fasziniert und plötzlich – absolut gerührt. Was, wie? Schwebt der französische Künstler im Raum? Was hat er für ein Ding auf dem Kopf, das mysteriöse Strahlen auf uns wirft? Die ausserirdische Erscheinung zieht sich an dem Seil in die Höhe, ohne die Füsse zu verwenden. Und was ist mit dem Boden? Bewegt er sich? Schwankt er?

Dann sind da die Schwingen eines grossen Vogels, der durch das Halbdunkel fliegt. Oder ist es nur das Geräusch der Schwingen, ohne Vogel? Herzrasen. Das hier ist eine Art Geisterturm. Nichts für schwache Nerven jedenfalls. Eine ruhige, aber unheimlich hallende Stimme, die mit der spannungsreichen Musik kontrastiert, fragt auf Französisch: «Hast du schon einmal mit einem Engel gekämpft?» Ein Krächzen. Schwarze Federn liegen verstreut auf dem Boden, der Darsteller wälzt sich wie im Kampf mit einem Schatten auf dem Boden, atmet schwer, schwitz, ringt, wird zur Kreatur.

Er schwimmt im Sand, als sei es unruhiges Meer. Irgendwann hängt er in Jesuspose unterm Silodach, auf seinem T-Shirt glitzert: «I love Tragedy».

Das alles ist derart atemlos, dass man kaum mehr weiss, wo man ist. Die Orientierung schwindet, die Illusion ist perfekt – erzeugt durch Raum, Geräusche, Wind, düstere Musik. Es ist eine perfekte Inszenierung von Licht und Dunkel und dem, was unser Hirn im Dunkeln durch Geräusche optisch ergänzt, obwohl da nichts ist. Der Schwindel wird durch die spiralförmige Anordnung der Zuschauerränge verstärkt, die uns in die Strudelbewegung hineinzieht. Wir fallen im Geiste, fallen mit dem blind Kletternden, ersticken, werden sehend, ängstlich und dann – ist das Licht aus. Als es wieder angeht, ist er weg. Wer hat ihn weggezaubert? Aber nicht lange, dann geht sein Fuss tastend vorbei an unserer Hand, seine Hand ergreift schwebend die eines Zuschauers. Mehr Körperlichkeit ist kaum denkbar.

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