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Biel

Lust und Frust eines Wohnkonzepts

In der Bieler Siedlung Wasenstrasse wohnen Demenzkranke, sozial Benachteiligte und Genossenschafterinnen zusammen. Wie das geht, erzählen Carole Schneider und ihre Tochter.

Der Innenhof dient als Treffpunkt: Carole Schneider (links) trifft sich mit Tochter Charlotte und einer weiteren Bewohnerin zum Zvieri. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Sarah Zurbuchen

Der mächtige Bau mit gelbem Anstrich an der Wasenstrasse fällt auf. 1917 erbaute die Stadt Biel das im monumentalen Heimatstil gehaltene Gebäude. Es war die erste und einzige Siedlung des kommunalen Wohnungsbaus. Rund 100 Jahre später erhielt das markante Gebäude ein Vis-a-vis in Form eines viergeschossigen, schlichten Wohngebäudes aus Holz.

Im Innenhof sitzen die 42-jährige Carole Schneider und ihre zehnjährige Tochter Charlotte. Spielsachen liegen herum, in Hochbeeten wachsen diverse Kräuter und Blumen, an mehreren Orten befinden sich Veloständer. Letztere sind wichtig, denn die rund 140 Bewohnenden der Siedlung Wasenstrasse haben sich dazu verpflichtet, auf ein Auto zu verzichten. Sowieso wird Nachhaltigkeit hier hochgehalten. «Das war auch einer der Gründe, warum ich hier wohnen wollte», sagt Carole Schneider. Sie ist im Juni 2019 in die Siedlung gezogen. «Ich hatte ein gutes Bauchgefühl, hoffte darauf, hier Gleichgesinnte zu treffen.» Auch für Tochter Charlotte, die abwechslungsweise bei Vater und Mutter wohnt, sei der kinderreiche Ort ideal. Im Innenhof können sie und ihre Freunde sich gefahrlos austoben und zusammen spielen.

Charlotte versucht gerade verzweifelt, per Telefon ein «Gspändli» zu finden, das nicht in den Sommerferien ist. Ihr ist langweilig. Im Innenhof ist es ruhig, die meisten arbeiten oder sind verreist. Zuerst noch scheu, nimmt das bilingue Mädchen immer mehr am Gespräch teil, gibt ihre Einschätzungen zum Besten, überlegt und teilt ihre Erfahrungen mit. «Wir hatten eine Rutschbahn vom Küchenfenster in den Innenhof. Da kamen immer viele Kinder zum Spielen.» Sie habe so rasch viele neue Gesichter kennengelernt.

 

Preisgekröntes Projekt

Die Siedlung Wasenstrasse ist etwas Besonderes. Sie vereint die Wohnbaugenossenschaft Biwog, den Verein für Wohnhilfe Casanostra und den Betagtenpflegeverein Biel-Seeland, der hier zehn Pflegewohnungen für Demenzkranke anbietet (siehe Infobox). Die Betagten hätten grosse Freude am bunten Treiben der Kinder gehabt, als die Rutschbahn installiert war, erzählt Carole Schneider, die als Konservatorin beim Archäologischen Dienst des Kantons Bern arbeitet. «Sie sind mit der Nase quasi an der Scheibe geklebt», sagt sie mit einem Schmunzeln. Die grossen Fenster gehen in den Innenhof, so dass auch die Seniorinnen und Senioren etwas vom Leben dort mitbekommen.

Das Projekt wurde 2019 vom Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz im Rahmen von «Wohnraum für alle», dem Jubiläumswettbewerb, ausgezeichnet. Der Verein Casanostra – er richtet sich an sozial benachteiligte Personen – und die Bieler Wohnbaugenossenschaft Biwog haben dabei den ersten Preis in der Kategorie Best Practice gewonnen. In der Laudatio hiess es, hier werde «jeder Couleur der Gesellschaftsstruktur eine Zukunft» geboten. Und weiter: «Jeder bringt sich mit seiner Individualität und seinen Ideen in die Siedlung ein.»

Das sieht auch Carole Schneider als Plus. Es gebe oft spontane Anlässe draussen im Innenhof, etwa ein gemeinsames Nachtessen oder ein Bastelatelier für die Kinder. «Jeder darf mitmachen, aber niemand muss.» So habe sich unter den Bewohnenden eine Gruppe von Frauen gebildet, die regelmässig zusammen in den Ausgang gehe.

 

Schwierige Durchmischung

Doch es gibt in einer solchen Konstellation auch Herausforderungen, wie Mutter und Tochter betonen. So findet Charlotte etwa, dass es immer dieselben sind, die sich treffen. Und Carole Schneider sagt: «Dass wir alle in einer Siedlung wohnen, überbrückt nicht automatisch alle gesellschaftlichen und sozialen Differenzen.» Sie beobachtet etwa, dass sich die Mitglieder der Genossenschaft und die Bewohnenden von Casanostra schwertun mit einer Durchmischung.

Einen der Gründe sieht die Zehnjährige, die inzwischen richtig aufgetaut ist und eifrig mitdiskutiert, in der Struktur der Mietparteien. «Bei Casanostra gibt es viel weniger Kinder als bei der Biwog. Und über die Kinder lernen sich die Leute schneller kennen.»

Kinder seien tatsächlich Türöffner, bestätigt ihre Mutter. Sie engagiert sich derzeit in einem Gremium innerhalb der Siedlung, das sich dem Thema einer besseren Durchlässigkeit gezielter annimmt und Ansprechpartner für die Bedürfnisse und Probleme der Bewohnenden ist.

Es fehlt der Bielerin nicht an Ideen: Ihr schweben etwa Anpassungen im Wohnbereich vor. «Das könnte zum Beispiel eine Gemeinschaftswohnung sein.» Dies böte die Möglichkeit, dass mehrere Personen zusammen einen Raum nutzen, etwa für Ateliers oder zum Kochen. «Ein sehr grosses Bedürfnis bei uns Bewohnenden ist ein Mittagstisch.»

Was auch fehle, so Schneider, sei eine Wohnung, in der Gäste untergebracht werden können. So etwas gebe es in anderen Genossenschaften bereits, sagt sie. Eine heute immer beliebtere Wohnform ist die Clusterwohnung.

Dabei handelt es sich um eine Kreuzung zwischen einer WG und einer Kleinwohnung. Es gibt darin sowohl Gemeinschaftsflächen wie auch Platz zum Rückzug. «Auch so etwas könnte ich mir in unserer Siedlung vorstellen.»

 

Aufgabe unterschätzt

Carole Schneider möchte sich als Mieterin in der Genossenschaft aber nicht aus der Verantwortung nehmen. So habe sie bei ihrem Einzug unterschätzt, dass eine solche Form des Zusammenlebens auch individuelles Engagement erfordere, etwa wenn es um die gemeinsame Nutzung der Gärten oder eben die Pflege der Gemeinschaft gehe. Ihre Tochter bringt es auf den Punkt: «Vielleicht sollte man nicht einfach darauf warten, dass andere dazukommen, sondern sie persönlich einladen.» «Da hast du absolut recht», sagt Carole Schneider.

Was sie an der Wasenstrasse schätze, sei die Gemeinschaft und die gewonnenen Freundschaften. Schneider ist dankbar dafür, dass ihr aufgewecktes Mädchen sich in der Siedlung gut integriert hat und sich wohlfühlt. Charlotte: «Zuerst waren die anderen einfach Nachbarn. Heute sind es Freunde.»

Link: www.biwog.ch;www.casanostra-biel.ch

 

Ursprünglich für 
städtische Angestellte

  • Im Jahr 2013 kauften die Bieler Wohnbaugenossenschaft Biwog und der Verein Casanostra von der Stadt Biel die Überbauung Wasenstrasse. Das um 1917 erbaute Wohnensemble wurde ursprünglich für städtische Angestellte geplant und ist ein wichtiger Zeitzeuge für den im Jahr 1914 von der Arbeiterunion initiierten Bau von preisgünstigem Wohnraum in Biel.
  • Der Altbau war teilweise in einem schlechten Zustand. Er wurde in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege unter ökologischen Gesichtspunkten saniert. Entstanden sind rund 50 Altbauwohnungen (Wasenstrasse 46–42: Casanostra, Wasenstrasse 40–34: Biwog). Im Innenhof entstand ein viergeschossiger Neubau mit einem eingeschossigen Sockelbau (Wasenstrasse 36). Hier befindet sich heute eine Demenzabteilung für zehn pflegebedürftige Senioren und Seniorinnen. Betrieben wird die Abteilung vom Betagenpflegeverein Biel-Seeland. In den Obergeschossen wurden sechs Wohnungen untergebracht (Biwog). sz
Stichwörter: Wohnen, Serie, Sommer, Biel, Region, Siedlung

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