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Titelgeschichte

Der Ferrari unter den Hunden

Heute ist er ein Pensionär. Doch der belgische Schäferhund Iloy kann auf eine beachtliche Hundesport-Karriere zurückblicken. Auf deren Höhepunkt erhielt Besitzerin Claudia Thiebet aus Vinelz ein «unmoralisches Angebot».

Drei Jahre lang haben Claudia Thiebet und Iloy zusammen Hundesport auf Profiniveau betrieben, danach fürchtete Thiebet den «Peter-Müller-Effekt». Bild: Yann Staffelbach
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Andrea Butorin

Dieser Hund ist gross, sehr gross. Sobald alle am Tisch sitzen, darf Iloy den Raum betreten. Zielstrebig steuert er die Besucherinnen an, denen er jetzt bis zur Brust reicht, und erschnüffelt sie und deren Sachen mit feuchter Nase. Dabei gibt er keinen Ton von sich, wedelt nur mit dem Schwanz. Iloy hat freundliche braune Augen, ein rötlich-braunes Kurzhaarfell und verhältnismässig grosse Ohren. Nachdem er alle neuen Gerüche registriert hat, legt er sich unter den Tisch.

Iloy könnte ein normaler Hund sein, das ist er aber nicht. Er ist der vielleicht teuerste Hund des Seelands, doch dazu später. Sein voller Name lautet Independent Spirit’s Iloy, er ist ein Malinois, zu deutsch belgischer Schäferhund, und ein pensionierter Hochleistungssportler. Mit seiner Besitzerin Claudia Thiebet feierte er beachtliche Erfolge im Gebrauchshundsport. Sein Sternstunde-Jahr war 2018: Da erreichte er an der Weltmeisterschaft den 14. Rang. Im Teamwettkampf gab es sogar die Silbermedaille (siehe Infobox). «Ein Gebrauchshund ist kein Spielzeug! Ein solcher Hund ist weder als Familien- noch als Ersthund geeignet», sagt Thiebet.

Der Tisch, unter dem der Champion nun döst, befindet sich abgelegen in Vinelz am Waldrand. Hier hat sich Claudia Thiebet, gebürtige Oberländerin und einstige Treuhänderin, ein neues Leben aufgebaut. Eines, in dem es zwar auch einen Mann, aber vor allem jede Menge Hunde gibt. Sie und ihr Partner besitzen je drei Malinois. 2008 hat sich Thiebet als Hundeexpertin selbstständig gemacht: Die 49-Jährige betreibt mit Dog Motions DM GmbH eine Hundeschule mit Schwerpunkt Erziehung, Coaching und Beratung. «Klienten» sind Hunde aller Art, einen besonderen Fokus legt sie aber auf Sporthunde, wie Iloy einer ist, und deren zu trainierende Fähigkeiten.

 

50 000 Euro geboten

Mit am Tisch sitzt auch Hélène von Aesch. Die Bernerin präsidiert die Interessengemeinschaft Kynologischer Organisationen im Kanton Bern und in angrenzenden Gebieten (IGKO). Sie ist mit ihren beide Golden Retrievern, die im geöffneten Kofferraum dösen, bei Thiebet zu Besuch. Die beiden Frauen sind befreundet und arbeiten auch zusammen: Thiebet hat für diverse Verbände und Vereine Konzepte für die Ausbildung von Hundetrainern erstellt, so auch für die IGKO.

Der Grund, weshalb das BT Iloy und die zwei Frauen besucht, ist ein plakativer: Nämlich die Suche nach dem teuersten Hund des Seelands im Rahmen der Sommerserie «Tiergeschichten». Von Aesch war die erste Anlaufstelle, und sie sagte prompt: «Ich kenne da einen Hund, der wird kaum zu toppen sein.» Claudia Thiebet spricht zwar nicht gern darüber, doch nach Iloys grossen Erfolgen wurden ihr für den Zuchtrüden 50 000 Euro angeboten. Die Offerte kam aus China, wo die Nachfrage in der Mittelschicht nach gut ausgebildeten Rassehunden riesig ist. «Vor meinem geistigen Auge habe ich ihn in einem Container unterwegs nach China verschwinden sehen. Das hätte mein Herz gebrochen.» Und so erhielt der Kaufinteressent folgende Antwort: «Dieser Hund ist mein Freund, und einen Freund verkauft man nicht.»

 

Der Hund muss gern arbeiten

Was kann dieser Hund? In seiner Disziplin, der «internationalen Gebrauchshund-Prüfungsordnung» (IGP), feierte er auf höchstem Niveau Erfolge. An den IGP-Wettkämpfen werden die Hunde in den Bereichen Fährte, Teambildung und Schutzdienst geprüft, wobei die Exaktheit, Genauigkeit und Perfektion der Ausführung im Vordergrund stehen. Was bedeutet das genau?

«Iloy, aufstehen», sagt Thiebet, und schon steht er erwartungsvoll vor der Tür, um draussen sein Können zu präsentieren. Obwohl der Pensionär die IGP-Disziplinen eigentlich nicht mehr trainiert, wirkt er sofort in seinem Element, als Thiebet loslegt.

Erster Bereich: Teambildung, früher Unterordnung genannt. «Ein Begriff, den man heute nicht mehr hören will», wirft Thiebet ein. Iloys stärkste Disziplin geht so: Dicht stellt er sich neben seine Besitzerin. Diese marschiert zügigen Schrittes los, und Iloy tänzelt im Gleichschritt neben ihr her, scheint förmlich an ihr zu kleben. In einem Wettkampf würde sie Finten einbauen wie plötzlich stehen zu bleiben oder loszurennen. Auf Kommando muss er auch stehen bleiben, während Thiebet weitergeht, Dinge apportieren oder Hindernisse bezwingen.

«Früher wurde hier oft mit Druck und Angst gearbeitet, heute will man sehen, dass der Hund Freude hat», sagt Hélène von Aesch, die die Szene beobachtet. «Wenn Hunde sich auf die Arbeit freuen, sind sie zuverlässiger und länger einsatzfähig.»

 

Potenzielle Kampfmaschine

Die Kategorie Fährte ist für den Hund besonders anspruchsvoll. Sein Geruchssinn wird mittels Menschenspuren oder Gegenständen getestet. Der Hundeführer oder die Hundeführerin muss dabei mindestens zehn Meter entfernt sein, sodass der Hund selbstständig arbeiten muss. Je nach Schwierigkeitsgrad sind die Fährten unterschiedlich lang. Profis wie Iloy müssen bis 1800 Schritt entfernte Fährten aufnehmen.

Nun greift sich Thiebet ein Jute-Kissen mit Laschen. Iloy begibt sich in Warteposition und bellt. «Er sagt: Wirf es mir weg», übersetzt Thiebet. Sie wirft es in die Höhe, und Iloy springt dem Spielzeug hinterher und bringt es ihr wieder. Dann lässt Thiebet Iloy in das Spielzeug verbeissen, und man denkt sich: «Oh, das könnte ein Arm sein!» Plötzlich hat sich der schwanzwedelnde, treuherzig dreinblickende Hund in eine potenzielle Kampfmaschine verwandelt.

Tatsächlich geht es in der Disziplin «Schutzdienst» zur Sache: Ziel ist es, einen Scheintäter zu finden und zu stellen, was er mittels Bellen anzeigt. «Hier ist die Technik massgebend, nicht der Erfolg», so Thiebet. «Schliesslich wollen wir nicht, dass der Hund tatsächlich zubeisst.» Einzig Polizeihunde werden «scharf» trainiert, wobei man auch in dieser Ausbildung immer mehr vom Beissen wegkomme.

Malinois und Beissen: Das geht nicht immer gut aus. Im letzten Jahr hat die Rasse zweimal unrühmliche Schlagzeilen gemacht. Anfang 2020 fand die Polizei im Kanton Freiburg die tote Frau eines Hundeschulinhabers und Hundebesitzers, neben ihr ein Malinois. Die Obduktion ergab, dass der Tod durch Verbluten infolge mehrerer tiefer Hundebisse in die Arme erfolgte. Während des Einsatzes attackierte der Hund eine Polizeibeamtin, woraufhin ein Kollege ihn erschoss.

Der Ehemann war überzeugt, dass seinen Hund keine Schuld getroffen hatte, sondern dass die Frau gestürzt sei und der Malinois sie schüttelnd «wecken» wollte. Die Untersuchungen ergaben weder Hinweise auf eine unsachgemässe Ausbildung des Hundes noch auf Missachtung der Sorgfaltspflicht, sodass die Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat.

Vor etwa einem Jahr wurde in Corgémont ein draussen spielender fünfjähriger Bub von einem Polizeihund attackiert und gebissen. Der Bub hat den Angriff überlebt, der Hund, der offenbar nicht zwischen Arbeit und Privatleben unterscheiden konnte, wurde eingeschläfert.

«Jeder Beissvorfall ist tragisch und hat extreme Konsequenzen für die Hundeszene», sagt Claudia Thiebet. So sei der Hundesport im Kanton Freiburg nach dem erwähnten Fall beinahe verboten worden. Für sie steht und fällt alles mit der richtigen Erziehung des Tieres (siehe Zweittext). «Ein Hund, der nicht gehorcht, gehört an die Leine, punkt.»

Die Hundebesitzerinnen müssten die Tiere zudem vor potenziell gefährlichen Situationen schützen. Dafür zu sorgen, dass er nicht erschrickt, wenn plötzlich ein Jogger oder eine Velofahrerin auf ihn zurast, bedeute harte Arbeit. Und viele seien nicht gewillt, das auf sich zu nehmen.

 

Ruhe für Adrenalinjunkies

«Ein Hund muss aber auch Freilauf haben. Er darf nicht 24 Stunden im Einsatz stehen», ergänzt Hélène von Aesch. Ausreisser in beide Richtungen seien gleichermassen schlecht: Ist ein Hund mit ausgeprägtem Jagdtrieb nicht genügend beschäftigt und gefordert, beginnt er plötzlich, Velofahrer zu jagen. «Hunde sind Adrenalinjunkies», so Thiebet. Je nach Arbeitsbereich sei es gewünscht, sie in Nullkommanichts auf 180 zu bringen.

Bloss müsse man sie auch genauso rasch wieder runterbringen können. Gefährlich werden könne es auch, wenn ein Hund nicht genügend Ruhe- und Schlafenszeit kriegt. Denn zu oft müssten sich Hunde dem Lebensrhythmus von Herrchen oder Frauchen anpassen, dabei benötigen sie zwischen 16 und 20 Stunden Schlaf pro Tag.

Auch beim Thema Ausbildung im Hundewesen bestehe noch Luft nach oben, finden Thiebet und von Aesch. Derzeit existiert für Hundeinstruktoren keine Berufsbildung, der Schweizerische Dachverband möchte dies jetzt aber ändern.

Wie bei menschlichen Profisportlern war auch bei Iloy während seiner Aktivkarriere die Regeneration ein wichtiger Teil. Das Gespann trainierte nach einem strikten Plan: Pro Woche gab es sechs Trainings, zweimal Kondition und einen bis zwei Ruhetage. An internationale Wettkämpfe fuhren sie immer rechtzeitig, sodass der Hund die Fährtenarbeit in der ihm fremden Umgebung trainieren und sich an die Gegebenheiten anpassen konnte.

«Eigentlich bin ich trainingsfaul», sagt Thiebet lachend. Sie habe deshalb lieber auf Köpfchen gesetzt. «Claudia hat ein grosses Wissen, ist absolut konsequent, jede ihrer Handlungen ist durchdacht», sagt von Aesch. Konsequenz bedeutet, dass Iloy immer weiss, was sein Handeln auslöst. Belohnungen sind im Training wichtig, müssten aber mit der Zeit immer weniger relevant werden.

 

Hunde statt Ausgang

Den Hund streicheln und mit ihm Gassi gehen: So begann auch bei Claudia Thiebet die Beziehung zu Hunden. Bei Verwandten lernte sie die Welt des Hundesports kennen. Sie wusste früh, dass sie einen eigenen Hund möchte. «Ich wollte einen Freund», sagt sie unumwunden. Sie hat auch keine Hemmungen, ihre Hunde als Kinderersatz zu bezeichnen, während Hélène von Aesch dieser Vergleich Mühe bereitet.

Thiebets erster eigener Hund war ein Labrador, der erste Malinois folgte sieben Jahre später. Auf den «Mali», wie sie sagt, kam sie zufällig: Sie durfte in einer erfolgreichen Gruppe mittrainieren, in der fast alle einen Malinois besassen. «Da hat mich das Fieber gepackt.»

Iloy kam zweijährig zu Claudia Thiebets Partner. Zwischen den beiden habe es aber nicht richtig «gefunkt», und so begann zwei Jahre später sie, mit ihm zu trainieren. «Andere gingen in den Ausgang, ich arbeitete mit meinen Hunden», sagt sie. Als das Engagement immer grösser wurde, habe sie Hobby und Beruf auf die Waagschale gelegt und den Entschluss zur Selbstständigkeit gefasst.

 

Beinahe gestohlen worden

Malinois gehören zu den Hüte- und Treibhunden. Claudia Thiebet beschreibt Iloy als «arbeitsfreudig und tempramentvoll wie ein Ferrari». Gegenüber ihm unbekannten Menschen sei er zurückhaltend, aber er sei Menschen und anderen Hunden gegenüber sehr sozial eingestellt.

Für den Wettkampf von Vorteil war sein gutes Nervenkostüm. «Er besticht durch seine Zuverlässigkeit.» Drei Jahre lang war er Profi, dann, auf dem Höhepunkt, beschloss Thiebet, seine Karriere zu beenden. «Ich litt an Versagensangst und hatte immer den Peter Müller vor Augen, der über den Zenit hinaus Ski gefahren ist», sagt sie. Wer solche Erfolge feiere, stehe extrem unter Beobachtung. Neid und Missgunst seien im Hundesport leider weit verbreitet. Und Schlimmeres: Einmal versuchten Diebe erfolglos, Iloy zu stehlen. «Diebstahl von Rassehunden ist leider ein grosses Thema», sagt Hélène von Aesch.

 

Angus, der neue Champion

Wer auf dem Level von Claudia Thiebet Hundesport betreibt, hält sich gleichzeitig mindestens zwei Hunde: Einen, der gerade auf dem Zenit seiner Fähigkeiten ist, und einen, der noch in Ausbildung steckt. Bei Thiebet sind es drei: Der aktuelle Champion heisst Angus. «Er wäre jetzt parat», musste coronabedingt aber noch auf den grossen Einsatz warten. Die Quali für die nächste Schweizermeisterschaft hat er im Sack, dort geht es dann um die Qualifikation für die WM 22.

Ihre Karriere noch vor sich hat die 14-monatige Hailey. «Auf Spaziergängen lasse ich sie derzeit noch nicht frei», sagt Thiebet, um zu untermauern, wie wichtig ihr Erziehung und Kontrolle sind.

Und wie geht Iloy mit dem Leben als Pensionär um? «Sehr gut, er macht jetzt anderes», sagt Thiebet. «Er geht mehr spazieren, hat mehr Zeit zum Riechen und zum einfach Hundsein.» Ein erfahrenes Paar aus dem Dorf, das gerade noch keinen eigenen Hund will, geht täglich mit ihm spazieren.

Manchmal bereite es ihr Mühe, wenn sie sehe, wie freudig er mit dem Paar lostrotte, ohne sich nach ihr umzublicken, so Thiebet. Doch man müsse wissen: «Die kognitiven Fähigkeiten von Hunden sind eingeschränkt.» Von Aesch ergänzt lakonisch: «Hunde sind Opportunisten.»

Nachkommen hat Iloy keine, obwohl er den Status eines Deckrüden innehat: Er weist zwei gesundheitliche Defizite auf, die gemäss Tiermedizinern zwar nicht genetisch vererbbar sind, doch Thiebet möchte kein Risiko eingehen: Wegen einer Bauchspeicheldrüsenschwäche muss er täglich eine Tablette nehmen, ausserdem hat er krumme Zehen, was im Alter Arthrose fördern könnte.

Claudia Thiebet hofft, dass ihrem alten Champion noch mindestens fünf Jahre Lebenszeit bleiben. Wenn es dann soweit sei und das Tier am Lebensende stehe und Schmerzen erleide, dann sei der letzte Liebesdienst, den man ihm erweisen könne, es zu erlösen.

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