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Biel

Jenseits der Schwelle ist das 19. Jahrhundert

Wände in Biedermeier-Grün, Gaslampen und die unbeheizte Dienstmädchenkammer: Ein Besuch der renovierten Fabrikantenwohnung der Familie Neuhaus im Neuen Museum Biel.

  • 1/10 Berühmte Autoren: Hier zeigt sich, worauf man sich berief. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 2/10 Esszimmer: Das Gedeck trägt das Familienwappen und das Esszimmer hatte für die Beleuchtung einen der ersten Gasanschlüsse der Stadt. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 3/10 Das Frauenzimmer im Biedermeier-Stil mit originalem Berner Parkett. Durch die Tür geht es ins Musikzimmer. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 4/10 Das Advokaten-Büro. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 5/10 Das Musikzimmer. Die Puppe trägt ein Kleid von Fanny Neuhaus, der Tante von Dora Neuhaus. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 6/10 Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 7/10 Ahnengalerie: Zu Dora Neuhaus’ Lebzeiten war die Wanduhr noch schwarz. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 8/10 Das Kinderzimmer. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 9/10 In der Küche: Links im Bild ein Kressekopf. Copyright: Peter Samuel Jaggi
  • 10/10 Kellen und Gewürze. Copyright: Peter Samuel Jaggi
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  • Dossier
Mengia Spahr
 
Nach dem Klingeln erscheint eine Mitarbeiterin des Neuen Museums Biel und öffnet die Türe. Um das Berner Parkett zu schonen, streifen wir Filzpantoffeln über die Strassenschuhe. Mit dem Schritt über die Türschwelle treten wir ein in einen bürgerlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts. Von der Türe bis ans Ende der Wohnung erstreckt sich ein langer Gang. Zu beiden Seiten gibt es Löcher in den Wänden. Durch sie haben die Dienstboten die einzelnen Räume beheizt, ganz ohne die Hausherren zu stören.
 
Als letzte Nachfahrin der Familie hat Dora Neuhaus (1889-1975) die Liegenschaften an der Schüsspromenade in Biel einer Stiftung übergeben, mit dem Wunsch, dass darin ein Museum entstehen soll. Die Fabrikantenwohnung, in der sie den grössten Teil ihres Lebens verbrachte, wurde um 1800 über den Fabrikräumen der Indienne-Manufaktur Verdan-Neuhaus gebaut (siehe Zweittext). Dora Neuhaus hat sie teilweise ihren Bedürfnissen angepasst, aber keine substanziellen Änderungen vorgenommen. Nach einer aufwendigen Renovation ist sie 1985 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Vielleicht sind manche Dinge anders angeordnet als zu Lebzeiten der Neuhaus’, aber mit wenigen Ausnahmen stammen sie aus dem Familienbesitz.
 
Seltsames Holz
Wir schlurfen über das knarzende Parkett. Im Musikzimmer, wo die Tante im edlen Kleid zu ihrem Klavierspiel zu singen pflegte, hängt eine rote Pendeluhr. Als Dora Neuhaus hier wohnte, war sie noch schwarz. Während der Französischen Revolution malte man wertvolle Gegenstände zur Tarnung schwarz an, und die Uhr sollte diese Farbe bis zur Renovation der Wohnung behalten.
 
Beim Blick zur Decke fällt auf, dass die Holzfasern seltsam symmetrisch verlaufen – sie sind nur aufgemalt. Das sogenannte Faux Bois imitiert edle Tropenhölzer. Ein Tisch mit integriertem Schachbrett lädt zum Spiel und wallende Vorhänge dimmen das Licht. Im Grand-Salon empfing der Patr on offizielle Besuche. Ob manchmal die Gerüche der Chemikalien, die im Untergeschoss für die Färbung der Stoffe eingesetzt wurden, nach oben drangen?
 
Gegenüber des Frauenzimmers mit seinen Wänden in Biedermeier-Grün befindet sich – den stereotypen Rollenverteilungen des 19. Jahrhunderts entsprechend – «das Reich des Mannes». Hier erfährt man viel über den Kunstgeschmack der Familie. Das Voltaire-Porträt und die Goethe-Büste stellen aus, auf welchen geistigen Hintergrund man sich stützte. Die Buchrücken in der umfangreichen Bibliothek geben Aufschluss über die politische Gesinnung des Grossvaters von Dora Neuhaus, des liberalen Schultheiss Charles Neuhaus.
 
Baden in der Küche
Eine Tür weiter konnte man von der geistigen Nahrung direkt zur leiblichen übergehen. In den Schränken des festlich gedeckten Esszimmers stapeln sich Berge weisser Wäsche. Da man nur wenige Male pro Jahr einen grossen Waschtag veranstaltete, war es ratsam, genügend Tischtücher vorrätig zu haben. Weiter dem Gang entlang folgt auf das Speisezimmer die Küche, in der bei den Neuhaus noch längst nach Einführung der Gas- und Elektroherde manchmal über dem Feuer gekocht wurde. Wenn man bedenkt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche elektrische Küchengeräte in Mode kamen, ist es erstaunlich zu sehen, womit hier bis in die 70er-Jahre gerüstet, gerührt und geraspelt wurde. Längst nicht für alle der faszinierenden Utensilien erschliesst sich die Verwendung. Eine hässliche Fratze stellt sich als Kressekopf hinaus, in den man Wasser goss, damit die auf dem Schädel platzierten Samen sprossen. Bei den seltsamen Kegeln handelt es sich um Salz- und Zuckerstöcke. Sie stehen auf einem Brett, unter dem die Badewanne versteckt wurde. Da es die längste Zeit keine Toilette in der Wohnung gab, waren die Bewohnerinnen und Bewohner auf Nachttöpfe und Toilettenstühle angewiesen.
 
Wenn der Nachwuchs rief, war die Hausangestellte in wenigen Schritten im an die Küche grenzenden Kinderzimmer mit Schaukelpferd. Dieses wurde jedoch zu Dora Neuhaus’ Zeiten nicht geritten, sie blieb kinderlos. Man sagt von ihr, dass sie sittsam und sparsam lebte und sehr auf die Einhaltung bürgerlicher Sitten und Gebräuche bedacht war. Sie bildete sich kulturell, besuchte Konzerte, Theatervorstellungen und Vorträge. Zu den Aufgaben einer Dame aus bürgerlichem Hause gehörte es unter anderem, Staub zu wischen, Petroleum-Lampen zu reinigen, die Zimmerpflanzen zu giessen und die Arbeit des Dienstmädchens zu kontrollieren. So habe Dora Neuhaus ihrer Magd, Lina Beck, zufolge immer genau überprüft, ob diese die Kartoffeln nicht zu grosszügig schälte.
 
Erinnerungen einer Magd
Jene war von 1932 bis 1975 die Hausangestellte der Neuhaus’. Als Lina Beck (1915-2012) während der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre keine Lehrstelle fand, kam sie nach Biel, um in der Fabrikantenwohnung als Dienstmagd zu arbeiten. Nach dem Tod von Dora Neuhaus teilte sie ihre Erinnerungen mit der Nachwelt. So erzählte sie 1987 in einem Interview mit dem Schweizer Radio, wie sie sich beim Vorstellungsgespräch in einem Schloss wähnte. Besonders beeindruckten sie die vielen grossen Spiegel, die noch heute, wenn auch mit ein paar blinden Stellen, die Räume vergrössern.
 
Beck schlief aber nicht in diesen Räumen, sondern in einer unbeheizten Mansarde im Dachstock, wo es im Sommer brütend heiss wurde und im Winter das Wasser gefror. In der Wohnung der Familie Neuhaus gibt es in jedem Zimmer einen Ofen. Um nicht unnötig Energie zu verbrauchen, heizte man jedoch nie alle ein. Wenn nicht gerade eine grosse Gesellschaft anstand, begnügte man sich mit einem warmen Frauenzimmer oder der Bibliothek.
 
Frühmorgens durfte Lina Beck beim Putzen mit dem Besen nicht gegen die Bodenleisten stossen, um das Fräulein nicht zu wecken. Und sie musste den Briefträger abwarten, sodass sie die Türe öffnen konnte, ehe dieser läutete. Wenn Beck Fehler unterliefen, liess die Hausherrin sie spüren, dass sie von einem anderen Stand ist. Dennoch schien Dora Neuhaus ihre Angestellte zu schätzen. Als der Vater 1946 starb, durfte Beck in dessen ehemaliges Büro zügeln und ass, wenn kein Besuch da war, mit Dora Neuhaus am Tisch. Nach deren Tod waren Becks Kenntnisse des Haushalts bei der Restauration der Wohnung äusserst wertvoll. Denn sie wusste, wo im Estrich das Arbeitsmaterial des Advokaten verstaut war und wofür die vielen Küchengeräte nützlich sind. Schliesslich hatte sie an manchen Silvestern jeweils Fünfgang-Menüs auf dem Feuerherd zubereitet.
 
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Die Fabrikantenfamilie Neuhaus
Im 18. und 19. Jahrhundert war die Schweiz Dreh und Angelpunkt einer florierenden Indienne-Industrie. Ein wichtiger Standort des Geschäfts mit den Baumwollstoffen war Biel. 1747 wurde die Indienne-Manufaktur Verdan-Neuhaus gegründet, wo die Stoffe gefärbt, bedruckt und im Wasser der nahen Schüss ausgewaschen wurden.
 
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet die schweizerische Indienne-Industrie in eine Krise und 1842 musste die Verdan-Neuhaus-Manufaktur schliessen. Dora Neuhaus (1889-1975) war die einzige Tochter des Fabrikanten-Nachkommens und Notars Karl Neuhaus. Ihre Mutter starb 1891 beim Eisenbahnunfall von Zollikofen, bei dem zwei Züge aufeinanderprallten und 14 Reisende starben. Zusammen mit ihrem Vater wohnte Dora Neuhaus zuerst in der Elfenau bei der Grossmutter und dann im zweiten Stock der Manufaktur an der Schüsspromenade. Arbeiten musste sie nie. Nach dem Tod des Vaters verwaltete sie die Einnahmen aus ihren Liegenschaften und lebte vom geerbten Vermögen. Die letzte Nachfahrin der bedeutenden liberalen Industriellenfamilie blieb ledig und kinderlos.
 
Testamentarisch vermachte sie die ehemaligen Hauptgebäude der Indienne-Manufaktur einer Stiftung, mit dem Auftrag ein Museum zu gründen. 1982 eröffnete die Stiftung Sammlung Robert das «Musée Robert» und zwei Jahre später wurde die Fabrikantenwohnung als «Museum Neuhaus» der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 2012 wurden die Museen Schwab und Neuhaus zusammengelegt. Sie werden unter dem Namen «Neues Museum Biel» (NMB) weitergeführt. Aktuell befindet sich das NMB in einer Erneuerungsphase. Auch in der restaurierten Wohnung von Dora Neuhaus werden Anpassungen vorgenommen. So werden ab nächstem Januar die Erinnerungen ihrer Dienstmagd, Lina Beck, in Audio-Form verfügbar sein und eine Künstlerin macht eine Intervention mit Gerüchen. Die bürgerliche Wohnkultur wird künftig also auch über die Ohren und die Nase erlebbar sein. mrs

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