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Biel

«Es ist eine Welle der Ungeimpften»

Rund 90 Prozent der Covid-Patienten im Spitalzentrum Biel sind nicht geimpft. Trotzdem finden Spitaldirektor Kristian Schneider und Infektiologe Urs Führer, dass jetzt nicht der Moment für Vorwürfe ist.

Die Intensivstation des Spitalzentrums verfügt aufgrund des Fachkräftemangels nur noch über acht statt neun Betten. Bild: zvg/Marcus Laube

Interview: Carmen Stalder

Kristian Schneider, wie ist die Lage im Spitalzentrum?

Kristian Schneider: Bei uns werden derzeit zwölf an Corona erkrankte Patienten behandelt. Davon befinden sich vier Personen auf der Intensivpflegestation (IPS). Gesamthaft haben wir dort eine Auslastung von weit über 70 bis 80 Prozent. Damit fahren wir eher am höheren Limit, Intensivstationen sollten nicht so stark ausgelastet sein. Bis vor wenigen Tagen betrieben wir auf der IPS nur acht von unseren neun Betten. Das liegt schlicht daran, dass wir kein spezialisiertes Personal finden. Die Leute sind müde, manche steigen aus dem Beruf aus.

Mit welcher Situation ist die aktuelle vergleichbar?

Schneider: Seit diesem Sommer haben wir unglaublich viel zu tun. Wir behandeln so viele Patientinnen und Patienten wie noch nie seit Bestehen des Spitals. Eine Theorie ist, dass das alles Patienten sind, die letztes Jahr nicht gekommen sind, weil sie das System nicht überlasten wollten. Wenn sie zu uns kommen, sind sie meist bereits sehr krank. Man sieht das beispielsweise bei den Gefässpatienten. Da sehen wir Menschen in einem Gesundheitszustand, wie wir es seit Jahren nicht mehr gesehen haben.

Die Leute kommen zu spät?

Schneider: Genau. Obendrauf haben wir die vierte Welle. Jeder Covid-19-Patient, den wir jetzt hospitalisieren müssen, ist ein Patient zu viel. Platz haben wir eigentlich nicht mehr. Die gefühlte Belastung entspricht dem Hoch der zweiten und dritten Welle, obwohl wir erst bei der Hälfte der damaligen Intensivplatzbelegung sind. Es hat einfach sehr viele andere Patienten.

Müssen bereits wieder Operationen verschoben werden?

Schneider: Wir müssen immer wieder mal Eingriffe verschieben, weil wir zu viele Patienten haben. Wegen Covid kann es sein, dass so etwas öfter vorkommt. Im Moment geht es aber noch. Bei Gesundheitsproblemen, die sich nicht aufschieben lassen, werden wir immer Lösungen finden. Wenn die Leute krank sind, sollen sie kommen.

Urs Führer, wie geht es aktuell den Pflegekräften?

Führer: Sie sind erschöpft. Nicht nur die Pflegekräfte, sondern alle. Nichtsdestotrotz sind immer noch sehr viele motiviert, das durchzustehen. Aber es wäre schön, wenn es jetzt nicht zu einer noch grösseren Belastung käme – oder gar zu einer Katastrophe, wie man sie letztes Jahr befürchtet hatte; eine Situation wo man triagieren und diskutieren müsste, wer noch eine Therapie erhält.

Dafür wäre man vorbereitet?

Führer: Das schon, ja. Aber wenn man dann solche Entscheide beim einzelnen Patienten vornehmen muss, gibt es nicht einfach ein Schema X, auf das man abstellen kann. Dann wird es schwierig.

Was können Sie über die Covid-Patienten sagen, die im Spitalzentrum liegen?

Führer: Zwischen dem 1. und 25. August hatten wir 35-Covid-Patienten. Davon waren 86 Prozent oder 30 Personen nicht geimpft. Drei Patienten waren einmal geimpft und bei zweien gab es keine Angaben. Zusammengefasst kann man sagen: Es handelt sich um eine Welle der Ungeimpften.

Welches Alter haben sie?

Führer: Im Schnitt sind sie 50 Jahre alt. Das sind 30 Jahre weniger als am Anfang der Pandemie.

Woran liegt das?

Führer: Ganz klar an der Impfung. Die älteste Bevölkerungsschicht ist relativ gut geimpft, die schützen sich auch gut. Die Delta-Variante trifft eher die Jüngeren, bis hin zu Leuten in den 20ern. Wir haben teilweise junge Patientinnen und Patienten, die absolut schwerstkrank sind und keine Vorerkrankungen haben. Das kommt nicht unerwartet, ist aber natürlich schlimm.

Wie sieht es aus mit Ferienrückkehrern?

Führer: Rund 50 Prozent unserer Corona-Patienten haben sich im Ausland angesteckt, bei 14 Prozent habe ich keine Angabe und nur 37 Prozent haben sich in der Schweiz angesteckt. Die Ferienrückkehrer sind ein Brandbeschleuniger. Sie führen dazu, dass die vierte Welle schneller kommt, als sie sonst gekommen wäre.

Gibt es noch eine Möglichkeit, um die Welle abzuflachen?

Führer: Die gibt es sicher. Wenn die Zahlen steigen, werden die Leute vorsichtiger. Allerdings ist die Hälfte der Schweizer Bevölkerung, also immer noch rund vier Millionen Personen, nicht geimpft. Dort kann die Pandemie weiterlaufen. Unser Worst-Case-Szenario ist ein exponentieller Verlauf. Selbst jetzt beim vierten Mal können sich die Leute nicht vorstellen, was das bedeutet: Es hat dann nicht jede Woche zehn Patienten mehr, sondern jede Woche doppelt so viele. Da haben wir grosse Angst davor.

Weil dann die Ressourcen fehlen würden?

Führer: Klar könnten wir dann wieder das elektive Programm (alle planbaren Aufnahmen, Operationen und Eingriffe, Anm. d. Red.) herunterfahren. Aber das ist des schweizerischen Gesundheitssystems nicht würdig.

Sind Sie frustriert wegen der immer noch hohen Anzahl an Ungeimpften?

Schneider: Es ist nicht der Moment für Vorwürfe. Wir sind ein Spital, wir sind für jeden da, der uns braucht. Wir haben Raucher, wir haben Übergewichtige, wir haben auch Ungeimpfte. Das ist einfach ein Fakt. Unsere Profis versuchen, das Ganze sachlich anzuschauen. Es ist der Patient, der unsere Hilfe braucht, den wir vor uns sehen.

Dann halten Sie nicht viel von Forderungen wie derjenigen einer SVP-Nationalrätin, die verlangt, dass ungeimpfte Covid-Patienten anderen Patienten den Vorrang lassen müssen.

Schneider: Das geht gar nicht. Dann würde ein Raucher, der Lungenkrebs hat, auch keine Therapie mehr erhalten. Dieses Diskussionsniveau ist eine Katastrophe. Ja, es braucht eine gesellschaftspolitische Diskussion. Aber diese darf und kann nicht von meinen Mitarbeitenden, die am Patientenbett arbeiten, übernommen werden. Ich finde natürlich auch, dass viele ein bisschen arg egoistisch unterwegs sind. Und dass wir eine gesellschaftliche Verantwortung haben, die vor der «persönlichen Freiheit» – was auch immer die Definition davon ist – steht. Ich höre nicht auf, jedem und jeder zu sagen, sich doch bitte impfen zu lassen. Aber das ist meine persönliche «Kristian-Schneider-Propaganda». Ich werde niemandem auf der Notfallstation, der an Covid leidet und nicht geimpft ist, einen Vorwurf machen. Punkt.

Führer: Sonst könnten wir unsere Arbeit nicht mehr machen. Viele Erkrankungen haben nicht beeinflussbare Risikofaktoren. Da kämen wir nirgends mehr hin. Klar versuchen wir weiterhin, möglichst jedem Ungeimpften zu erklären, warum die Impfung eine gute Sache ist. Sie ist zwar nicht die einzige Massnahme zum Eindämmen einer Pandemie, aber sie ist nun mal ein super Instrument. Das steht ausser Frage.

Wie hoch ist denn aktuell der Anteil der Geimpften beim Personal?

Führer: Der liegt bei etwa 70 Prozent. Dazu kommen relativ viele, die genesen sind. Wir setzen einiges daran, um die Impfquote weiter anzuheben. Aber wir sind realistisch: Sie wird nie auf 100 Prozent steigen.

Schneider: Wir haben auch noch unsere Schutzmassnahmen. Damit können wir unseren Patientinnen einen sehr hohen Sicherheitsstandard garantieren. Null Risiko gibt es nicht bei solchen Viren, das haben auch die Spitäler nicht, die eine höhere Impfrate haben. Aber wir sind ein sicherer Ort für unsere Patienten.

Was halten Sie von einem Impfobligatorium?

Schneider: Das ist bei uns absolut kein Thema. Wenn ich meine Mitarbeitenden nicht respektiere und gleichzeitig sage, ihr müsst mehr arbeiten, weil es wieder mehr Covid-Patienten hat, dann muss ich mich am Schluss auch nicht wundern, wenn noch mehr Leute aus dem Beruf aussteigen. Ich habe null Interesse, jemandem wegen einer anderen Meinung Druck aufzusetzen. Wenn man das wie in Frankreich machen würde, wo der Präsident eine Impfpflicht für das Spital- und Pflegepersonal verhängt hat, dann lehne ich mich gerne zurück. Dann entspricht das offensichtlich dem politischen Willen und nicht demjenigen eines einzelnen Unternehmens. Grundsätzlich bin ich jedoch absolut gegen eine Impfpflicht. Sie passt nicht in die Kultur und in die Art der Lösungsfindung der Schweiz.

Fragen Sie bei den Patienten nach den Gründen, warum sie nicht geimpft sind?

Schneider: Dafür ist es dann ein wenig spät, nicht?

Führer: Wenn jemand am Sauerstoff hängt und nach Luft ringt, ist das der falsche Moment, um nach der Impfung zu fragen. Manchmal sagen die Leute von selbst, eigentlich hätten sie gewollt, aber dann hätten sie aus diesem und jenem Grund keine Zeit dafür gehabt.

Schneider: Es hat ganz viele Leute, die nicht geimpft sind, die aber sagen, dass sie es dann schon noch machen. Das sind nicht die Leute, die demonstrieren gehen. Genau die will man jetzt abholen mit den Impfbussen und dem Impfen vor Ort. Die Delta-Variante ist einfach zu früh gekommen. Wir sind noch inmitten des Impfprozesses.

Gleichzeitig werden im Kanton die Impfzentren geschlossen.

Schneider: Wir werden bei Localmed im Gesundheitszentrum Medin am Bieler Bahnhof weiterhin Slots für Impfungen anbieten. Nur das offizielle kantonale  Impfzentrum mit extra Personal wird ab Ende September in dieser Form nicht mehr in Betrieb sein.

Führer: Leider können die Impfungen noch nicht so einfach verabreicht werden, wie das wünschenswert wäre. Das Problem liegt an der Ampullengrösse: In einer Impfampulle hat es sechs oder zwölf Impfungen. Sobald sie angebrochen ist, muss sie innert Stunden verimpft werden. Andernfalls landet der restliche Impfstoff im Abfall. Dies zu organisieren, ist für eine Hausarztpraxis oder eine Apotheke fast nicht machbar. Ich hoffe, dass es bald Einzelimpfungen gibt. Dann könnte man viel einfacher und flächendeckender vorgehen.

Schneider: Zum Schluss muss ich jetzt noch etwas politisch werden. Die Versorgungsrelevanz des Spitalzentrums hat sich in der Pandemie in aller Deutlichkeit gezeigt: mit der vergrösserten IPS, dem Impfzentrum und den Testzentren war unser Engagement enorm. Unsere Mitarbeitenden sind müde. Und deshalb wünsche ich mir von der Politik, dass sie dem Personal gegenüber Anerkennung zeigt.

In welcher Form?

Schneider: Die Politik muss erkennen, dass es eine Investition braucht in die Gesundheitsversorgung. Es geht darum, dass wir genügend Personal anstellen können, dass wir genug ausbilden und gute Löhne bezahlen können. Und dass die Leute wieder gerne im Gesundheitswesen arbeiten. Durch Covid hat es hier eine Beschleunigung gegeben, einige haben jetzt einfach keine Lust mehr. Die Politik sollte uns finanziell nicht noch weiter unter Druck setzen, vor allem nicht während einer Pandemie.

Ihr Worst-Case wäre, wenn noch mehr Leute davonlaufen würden.

Schneider: Für mich als Arbeitgeber wäre das ein unternehmerischer Worst-Case. Aber es wäre vor allem auch ein gesundheits- und sozialpolitischer Worst-Case. Am Schluss bin nicht ich es, der die Rechnung bezahlt, sondern der Patient. In der Schweiz haben wir einen hohen Anspruch an das Gesundheitssystem. Ich finde es toll, dass wir diesen bis jetzt immer aufrecht erhalten konnten. Aber jetzt wird es knapp. 

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