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Titelgeschichte

Zu wenig akklimatisiert

Wer siegt im Rennen auf die 14 Achttausender, fragten die Medien in den 80er-Jahren: Reinhold Messner, Jerzy Kukuczka oder der Schweizer Marcel Rüedi? Aber gab es überhaupt ein solches «Rennen»? Kurz vor seinem Tod nahm Rüedi in einem bislang unveröffentlichten Interview dazu Stellung. Heute vor 35 Jahren ist er umgekommen.

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von Beat Kuhn

Die Bezwingung aller 14 Achttausender, also der Berge mit einer Höhe von über 8000 Metern über Meer, gilt als besondere alpinistische Herausforderung. Sie alle liegen in den beiden benachbarten Gebirgen Himalaya und Karakorum, verteilt auf Indien, Nepal, Pakistan sowie die chinesischen Provinzen Tibet und Xinjiang. In den 50er- und 60er-Jahren finden die Erstbesteigungen statt, allen voran jene des höchsten, des Mount Everest, auf 8848 Meter durch den Neuseeländer Edmund Hillary und dessen einheimischen Sherpa (Lastenträger) Tenzing Norgay im Mai 1953.

Neben Messner und Kukuczka
Ab den 70er-Jahren peilen einige gezielt die Besteigung mehrerer Achttausender an. Reinhold Messner aus dem Südtirol in Italien schafft 1970 den Nanga Parbat, 1972 den Manaslu und 1975 den Hidden Peak – letzteren zusammen mit dem Österreicher Peter Habeler. Noch grösseres Aufsehen erregen Messner und Habeler, als sie 1978 den Gipfel des Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen schaffen, was man zuvor für unmöglich gehalten hatte. 1979 fügt Messner den K2 hinzu. Im selben Jahr macht der Pole Jerzy Kukuczka ein erstes Mal auf sich aufmerksam, als er mit dem Lhotse seinen ersten Achttausender erklimmt.

Und 1980 hat dann der Schweizer Marcel Rüedi seine Premiere, auf der Spitze des Dhaulagiri. Im ersten Anlauf steigt er dank seines exzellenten Trainingszustands zu schnell zu hoch und erleidet auf 7200 Metern ein lebensbedrohliches Lungenödem, auch Höhenkrankheit genannt. Nur mithilfe seiner Freunde kann er sich knapp nach unten retten. 17 Tage später steht er dann aber doch noch ganz zuoberst. 1982 nimmt Rüedi an einer Expedition zum Nanga Parbat teil. Dabei stürzt der Kandersteger Arzt Peter Forrer tödlich ab, und die Expedition wird abgebrochen.

Nach einem im Jahr 1981 holt sich Messner 1982 gleich drei weitere Achttausender, und nach einem weiteren 1983 hat er bereits zehn «gesammelt», wie man das damals nennt. Kukuczka steht nach je einem Gipfelerfolg 1980, 1981 und 1982 sowie zwei weiteren 1983 bei sechs. Im Juni 1983 pulverisiert Rüedi zusammen mit dem Freiburger Erhard Loretan den Geschwindigkeitsrekord Messners vom Vorjahr: Sie schaffen drei Achttausender innerhalb von bloss 15 Tagen – ein bis dahin für nicht möglich gehaltenes Aneinanderreihen von Spitzenleistungen. Damit hat der Winterthurer nun vier im Sack. 1984 holt sich Rüedi zwei weitere, Kukuczka einen, Messner keinen, womit er bei zehn bleibt. Kukuczka ist nun bei sieben, Rüedi bei sechs.

Ehefrau schmeisst den Laden
In der Schweiz beginnen sich die Medien für den «kletternden Metzger» zu interessieren, der in Winterthur in dritter Generation eine Metzgerei mit um die 20 Angestellten führt. Interviews, Portraits und Dok-Filme begleiten seine Erfolge und verhelfen ihm zu einem grossen Bekanntheitsgrad – was ihm wiederum die Sponsorensuche erleichtert. Seine Diavorträge über seine Expeditionen sind regelmässig ausverkauft, und die Fachgeschäft-Vereinigung «Junge Altstadt» sammelt auf der Strasse für «unseren Mann im Himalaja», wie einmal eine Zeitungsüberschrift lautet. Im Gegensatz zu vielen anderen aus der internationalen Höhenbergsteiger-Elite bleibt Rüedi – zumindest ökonomisch – ein Amateur.

Dass er sich so oft auf Expeditionen begeben kann, verdankt er in erster Linie seiner Frau Gerda, die ihn während seiner wochenlangen Abwesenheiten im Geschäft vertritt. Die gebürtige Deutsche ist in jungen Jahren nach Australien ausgewandert, wo ihre älteste Schwester bereits lebt. Dort hat Rüedi sie kennengelernt und 1962 – in Las Vegas – geheiratet. 1965 wird Tochter Jacqueline, vier Jahre später Jeannette geboren. Vom Bergsport-Virus angesteckt worden ist der 1938 geborene Rüedi erst im Alter von über 30 Jahren, als er von einem Kollegen zu einer Bergtour in die Glarner Alpen eingeladen worden ist. Bis dahin ist er nur dem Tauch- und Radsport zugetan gewesen.

1985 schaffen Rüedi und der Bündner Norbert Joos als erste Schweizer den K2, den zweithöchsten 8000er, der als schwierigster Berg überhaupt gilt. Im selben Jahr erreicht der Winterthurer zusammen mit Oswald Oelz, der aus Österreich stammt, aber in der Schweiz lebt, und dem Schweizer Diego Wellig auch noch den Shishapangma. Messner kann 1985 ebenfalls zwei weitere hinzufügen, Kukuczka drei. Damit liegt Messner nun bei zwölf, Kukuczka bei zehn und Rüedi bei acht.

Presse spricht von Wettlauf
Im Frühling 1986 wird bekannt, dass Rüedi mit Peter Habeler – der mit Messner auf dem Mount Everest war – die Besteigung des Cho Oyu plant. Am 13. April, dem Tag des Abflugs der beiden, titelt der «Sonntags-Blick»: «Ein Schweizer jagt Bergkönig Messner». Der Metzgermeister wolle der Nummer eins im Extremalpinismus den Rang ablaufen, schreibt das Boulevardblatt. Damit ist die These lanciert, dass es zwischen Messner, Kukuczka und Rüedi ein Wettrennen gebe. Am 5. Mai stehen Rüedi und Habeler auf dem Cho Oyu – Rüedi als erster Schweizer. Nun hat er neun.

Im Herbst will er wie drei Jahre zuvor drei Achttausender hintereinander «machen»: den Makalu, den Mount Everest und den Lhotse. Am 31. August setzt der «Sonntags-Blick» den reisserischen Titel «Endspurt der Bergkönige» und schreibt: «Ein gigantischer Kampf ist in vollem Gange. Wer ist der erste Mensch, der die 14 Achttausender bezwingt?» Am 7. September, dem Tag der Abreise, hat die damals 16-jährige Tochter Jeannette eine böse Vorahnung: «Paps, diesmal kommst du nicht mehr zurück», sagt sie ihm ins Gesicht. Dann zieht sie sich auf ihr Zimmer zurück, fährt nicht wie sonst üblich mit zum Flughafen.

Gemeinsam mit Oswald Oelz, der Arzt ist, fliegt Rüedi in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu, von dort mit dem Helikopter ins Gebiet des Makalu, wo die beiden auf 2800 Meter über Meer abgesetzt werden. Begleitet von zwei Trägern, die ihnen einen Teil des Gepäcks abnehmen, wandern sie drei Tage lang durch Sümpfe und Flüsse, bis sie am 13. September das Basislager erreichen, das auf 5400 Meter liegt. Die 15 polnischen Bergsteiger, deren Expedition sich die zwei Schweizer haben anschliessen können, sind zur Akklimatisation, also zur Anpassung an den dort oben viel geringeren Sauerstoffgehalt, bereits seit zwei Wochen dort. Am Fuss des Makalu befindet sich unter anderem auch Messner gerade. Der mit 8485 Metern fünfthöchste Berg der Welt gilt alpinistisch als sehr schwerer Berg.

Er hört nicht auf den Arzt
Am 16. September beginnen Rüedi und Oelz mit dem Polen Krzysztof Wielicki den Aufstieg zum Gipfel. Auf 7000 Metern erkrankt Oelz nachts im Zelt an einem schweren Lungenödem. Zwar hat er Medikamente dabei. Trotzdem will er abbrechen. Er versucht, Rüedi mit dem Hinweis auf die ungenügende Akklimatisation ebenfalls zur Umkehr zu bewegen. Doch der lässt sich nicht davon abbringen, obwohl er sonst als sehr vorsichtig gilt. «Weisst du, ich gehe ganz langsam», sagt er. «Wenn es nicht geht, kehre ich um.» Im Schweizer Fernsehen erklärt Oelz Rüedis Beharren später mit einem situationsbedingten Mangel an Einsichtsvermögen: «Sobald man in den grossen Höhen und nahe beim Gipfel ist und sieht, dass man eine Chance hat, dann fallen bei einem so erfolgreichen Bergsteiger alle Hemm-Mechanismen aus. Das ist wahrscheinlich passiert. Hinzugekommen ist der Sauerstoffmangel, der einem die Einsicht in die Gefahren mindestens teilweise nimmt.»

Am 21. Mai klettert Rüedi mit Wielicki weiter. Als sich die beiden am 24. Mai zum Gipfel aufmachen, kann der Schweizer nicht mit dem Polen mithalten, obwohl er sonst jeweils schnell unterwegs ist. Kurz vor 16 Uhr erreicht Wielicki den Gipfel. Nach einigen Fotos steigt er wieder ab. Auf etwa 8350 Metern trifft er Rüedi an, der eine Pause eingelegt hat. Dann macht sich Rüedi auf zum Gipfel, während Wielicki weiter nach unten klettert, zum Zelt, wo er Tee für beide machen will. Am Abend des 24. September steht dann auch Rüedi ganz oben. Er hat seinen zehnten Achttausender geschafft.

Unten im Zelt wartet und wartet Wielicki. Er ist verzweifelt, kann aber nicht helfen. Auf über 8000 Metern ist jeder auf sich allein gestellt. Am nächsten Morgen, dem 25. September, wartet er bis 9 Uhr, dann steigt er zum Makalu-La-Pass auf 7400 Meter ab. Dort trifft er auf Messner und zwei Begleiter. Mit dem Feldstecher entdeckt Messner den Schweizer. Er kann erkennen, wie dieser langsam absteigt und immer wieder anhält. Dann ist er nicht mehr zu sehen, weil er von einem Schneerücken verdeckt wird – und taucht nicht mehr auf.

Von Messner tot gefunden
Am nächsten Tag, dem 26. September, erreichen Messner und seine zwei Kameraden den Makalu – Nummer 13 für den Italiener. Als sie wieder absteigen, finden sie Rüedi in sitzender Haltung tot im Schnee. Ob er an Erschöpfung, an einem Lungenödem oder wegen anderer gesundheitlicher Probleme gestorben ist, weiss man bis heute nicht. Laut Oelz hatte er noch immer eine phänomenale Kondition und eine unglaubliche Leistungsfähigkeit.

Am Nachmittag des 26. September überbringt Vanessa Oelz, die Ehefrau von Oswald Oelz, Gerda Rüedi die Todesnachricht. Doch die glaubt ihr nicht: «Nein, Marcel hat sich nur verlaufen, er ist auf die chinesische Seite abgestiegen und und kommt schon wieder», entgegnet sie. Wenn ihm beim Klettern etwas zustosse, wolle er gerne oben bleiben, hat Rüedi seiner Frau einmal anvertraut. Und so wird er in einer Gletscherspalte auf seinem zehnten Achttausender bestattet.

Am 28. September titelt der «Blick»: «Mörderisches Bergrennen: Himalaya-König Marcel Rüedi tot.» Für die Boulevardzeitung hat «der mörderischste Alpinisten-Wettlauf aller Zeiten sein erstes Todesopfer gefordert». Oelz widerspricht im Fernsehen: «Ihm ging es nicht darum, der Erste zu sein. Denn es war ganz klar, dass das Messner oder Kukuczka sein würden. Er wollte einfach endlich mal alle 8oooer ‹machen›, um sich mehr seiner Familie und seinem Geschäft widmen zu können.»

Am 16. Oktober erreicht Messner den Gipfel des Lhotse – und hat damit auch seinen letzten Achttausender bezwungen. Kukuczka erreicht dieses Ziel knapp ein Jahr später, am 18. September 1987. Ein Dritter schafft dies erst 1995: Es ist der Freiburger Erhard Loretan. Der Titel des Buches, in dem Messner seine 8000er-Erlebnisse schildert, lautet «Überlebt».

Hauptquelle: Charlotte Jaquemart, Marcel Rüedi: Zehn Achttausender dank Gerda – ein Winterthurer im Himalaya, SAC-Sektion Winterthur, 2009

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«Hast du eine Leiche zu bieten, Marcel, oder wenigstens Erfrierungen?»

BT-Redaktor Beat Kuhn hat MarcelRüedi kurz vor dessen Tod zum Interview getroffen. Anlässlich des 35. Todestags veröffentlicht er hier erstmals Auszüge aus diesem Gespräch, in dem Rüedi auch zum angeblichen Wettlauf um die 8000er Stellung bezieht.

In einem Hinterzimmer seiner Metzgerei stand mir der damals 47-jährige Marcel Rüedi im August 1986 Red und Antwort. Ich arbeitete bei einer kleinen Winterthurer Zeitung. Ein Einheimischer, der zu den weltbesten Bergsteigern gehört und gerade daran ist, alpinistische Geschichte zu schreiben – das war natürlich ein Topthema.

Für Fragen blieb kaum Platz, aber es waren auch kaum welche nötig, denn er erzählte flüssig alles Nötige und Interessante, geschult von den 50 bis 60 Diavorträgen, die er jeweils im Winterhalbjahr hielt, um sein teures Hobby mitzufinanzieren:

Den Text schrieb ich nicht wie üblich umgehend, damit dieser nicht allzu früh erschien. Denn Rüedis letzte Vorbereitungen und die lange Anreise würden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Doch dann fand Rüedi den Tod, und den Artikel dann doch noch zu publizieren, wäre mir pietätlos vorgekommen.

Vor einiger Zeit habe ich zuhause zufällig die Kassette mit dem Interview wiedergefunden. Anlässlich seines 35. Todestages entschloss ich mich, das bislang unveröffentlichte Interview hier erstmals in Auszügen wiederzugeben.

«1975 habe ich einen 7700 Meter hohen Berg im Hindukusch bestiegen. Da habe ich gemerkt, dass ich solche Höhen, in denen es viel weniger Sauerstoff gibt als unten, gut vertrage. So habe ich mich 1980 an einen ersten Achttausender gewagt. Das moderne Himalaya-Höhenbergsteigen über 8000 Meter erfolgt ohne künstlichen Sauerstoff. Da ist das Risiko zwar etwas grösser, aber es geht viel schneller als das Klettern mit Sauerstoffflaschen und ist zudem viel billiger. Man muss sich einfach gut auf 5000, 6000 Meter akklimatisieren, als0 sich an den Sauerstoffmangel gewöhnen. Das dauert im Normalfall zwei, drei Wochen. Für den Makalu brauche ich nicht so viel Zeit, weil ich schon im Frühling so hoch oben war.

Bei schlechtem Wetter wird es schnell kritisch. Wenn es nur leicht neblig ist und Sie sich orientieren können, können Sie schon noch vorwärtsgehen. Sobald starker Schneefall einsetzt, müssen Sie jedoch umdrehen, sonst wird es wahnsinnig lawinengefährlich. Wenn die Windgeschwindigkeit zu hoch ist, können Sie selbst bei gutem Wetter nicht los, denn dann wird es zu kalt, und Sie erfrieren. Ich bin nur einmal umgekehrt, aber bei einem Todesfall: 1982, beim ersten Versuch am Nanga Parbat. Ein Kollege von mir, der Kandersteger Peter Forrer, ist damals in eine Lawine gekommen, direkt neben uns hat es ihn runtergerissen. Da haben wir abgebrochen, obwohl wir schon auf 7400 Meter waren. Nicht nur aus Pietätsgründen, sondern auch, weil wir nicht mehr den Nerv hatten, den Berg zu bezwingen. Wir haben abgestimmt und einstimmig beschlossen, umzukehren, obwohl Peter mit Sicherheit gewollt hätte, dass wir noch raufgehen.

Mir könnte natürlich auch einmal etwas passieren, aber wenn es sein muss, dann muss es eben sein – ein anderer stirbt an Krebs oder sonst etwas. Aber ich setze nicht mein Leben aufs Spiel, sondern gehe in der Überzeugung, dass mir nichts passiert. Ich gehe keine Risiken ein: Wenn ich sehe, dass die Gefahr objektiv zu gross ist, kehre ich um. Angst kenne ich durchaus, und die braucht es wohl auch, damit man nicht übermütig wird. Wichtig ist einfach, dass alles gesichert ist.

Warum ich denn überhaupt im Himalaya klettern gehe? Sie, für mich ist das wie für einen Leichtathleten eine Teilnahme an den Olympischen Spielen. Diese Ambiance müssen Sie einmal erlebt haben, schon auf dem Anmarsch. Oder wenn Sie mit sich alleine sind und meditieren: Das ist irrsinnig. Oder wenn Sie über eine Hochebene gehen, wo Sie Hunderte von Kilometern weit sehen – da bekomme ich schon Hühnerhaut, wenn ich davon spreche. Und wenn man es bis zum Gipfel schafft, ist es natürlich noch besser. Eine Rolle spielt auch, dass man sich in meinem Alter bestätigen will. Schaffe ich es noch, oder schaffe ich es nicht mehr? Der Himalaya ist für mich eine Bestätigung und Befriedigung – wie wenn ich beim Trainieren mit dem Rennvelo bergauf Jüngere abhängen kann. Zum Trainieren gehe ich fast immer über Mittag knapp zwei Stunden volle Pulle Velo fahren. Zudem mache ich etwas Krafttraining, und am Wochenende gehe ich meistens klettern. Ein Training ist auch, dass ich den ganzen Tag körperlich arbeite, am Morgen von 6 bis 12 Uhr und am Nachmittag von 14 bis 19 Uhr.

Oft wird das Höhenbergsteigen dramatisiert. Wenn jemand das beruflich macht, ist er halt darauf angewiesen, dass es gefährlich klingt, damit sich Artikel oder Bücher über ihn gut verkaufen. Da müssen Sie mindestens von einem Schneesturm oder zerfetzten Zelten berichten. Als ich vom Cho Oyu nach Hause gekommen bin, hat mich ein Journalist von einer grossen deutschen Zeitschrift angerufen und gefragt: ‹Hast du eine Leiche zu bieten, Marcel, oder wenigstens Erfrierungen?› Und als ich verneinte: ‹Dann können wir nichts bringen.› Es ist wie beim Autorennen: Manche schauen nur den Start, und wenn nichts passiert, schalten sie wieder ab. Ich glaube, die grosse Masse sucht das. Am meisten Echo hatte ich auf eine Expedition, auf der ein Kollege von mir die Zehen verloren hat. Das hat alle interessiert – die eigentliche Bergtour weniger.

In den Medien steht jetzt: Wer schafft als Erster alle Achttausender? Die blosse Besteigung eines solchen reicht nicht mehr, jetzt muss es ein Wettrennen sein. Darum hat man Kukuczka und mich zu Rivalen von Messner gemacht. Dabei hat Reinhold so viel Vorsprung, dass es fast unmöglich wäre, ihn zu überholen. Er hat zehn Jahre vor mir angefangen, da war ein 8000er noch etwas. Er ist ein guter Schriftsteller und ein sehr guter Redner, und er muss davon leben können. Darum hat er einen viel grösseren Leistungszwang als ich. Wenn er einmal nicht auf einen Gipfel kann, ist das für ihn viel gravierender als für mich. Wäre ich ebenfalls Profi und hätte gleich früh angefangen wie er, gäbe es vielleicht schon eine Rivalität zwischen uns. Aber ich will das Bergsteigen nicht beruflich betreiben, dafür bin ich viel zu gerne Metzger.»

Vergessen gegangen war Rüedi nie: 2009 führte die SAC-Sektion Winterthur einen Gedenkanlass mit mehreren hundert Gästen durch. Damals war auch die Buchvernissage für Rüedis Biografie, und die NZZ brachte eine Würdigung durch Oswald Oelz. 2014 brachte die ARD «die erste Dokumentation über das Rennen um die 8000er-Gipfel». Und als 2017 der Star-Kletterer Ueli Steck zu Tode stürzte, erinnerte der «Tages-Anzeiger» mit einem ganzen Artikel an den Winterthurer Metzgermeister.

Jacqueline Binna-Rüedi, Marcel Rüedis Tochter, die auch heute noch ab und zu eine Mail oder eine Anfrage im Zusammenhang mit ihrem Vater erhält, freut sich über das anhaltende Interesse und stellt bereitwillig Fotos zur Verfügung. Die Zeit hat allerdings in 35 Jahren nicht alle Wunden geheilt. So meint sie: «Wir vermissen ihn auch nach so langer Zeit immer noch schmerzlich.» 

Aufgezeichnet:Beat Kuhn

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