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BT-Schreibwettbewerb

Der Gräber

von Laura Nicole Higson

Bild: Matthias Käser
  • Dossier
Max dachte nicht oft an den Keller, dessen bemalte Wände in Neonfarben geleuchtet hatten. Er spürte nicht oft den Bass, der aus den Lautsprechern gedröhnt hatte. Er dachte nicht oft an den jungen Mann oben an der Treppe, der stehend, schauend, sich eine Zigarette gedreht hatte. Er dachte nicht oft an den armen Typen, der in dieser Nacht den Weg zum Dach gefunden hatte. Aber er dachte daran. Manchmal, bei der Arbeit, lief Max an seinem Grab vorbei und dachte daran. Vor Stellenantritt hatte Max nur wenig Zeit auf Friedhöfen verbracht und sehr wenig Zeit mit dem Tod. Wahrscheinlich hatte er als Kind den Beerdigungen seiner Grosseltern beigewohnt, doch das war nur eine Vermutung. Kurz nach seinem zwölften Geburtstag hatten sie den Familienhund, Bono, einschläfern müssen. Er hatte darauf bestanden, zuzusehen. 
 
Max’ zweite Begegnung mit dem Tod hatte sich an einem Sommerabend vor drei Jahren ereignet. Ein Freund hatte einen Freund von Max an einen Rave eingeladen und der Freund von Max hatte nicht alleine hingehen wollen. Weil Max auf seine wenigen Freundschaften grossen Wert legte, hatte er seinen Freund, also Pedro, an den Rave begleitet. Woran Max manchmal dachte: Der Keller, in dem der Rave stattfand, platzte vor Neonmenschen mit Bier und klaren Getränken in Plastikbechern. Tiefe, elektronische Musik zuckte durch den Raum und zog die Tanzenden mit sich. Die Bar stand zwischen Treppe und Kellereingang und bestand aus einem verklebten Billigtisch und einem hohen Kühlschrank voller Alkohol. Der Typ hinter der Bar tanzte zum gedämpften Bass und verschüttete dabei alles, was er austeilte. Max und Pedro tranken Bier und tanzten und tanzten und irgendwann verloren sie sich aus den Augen. Rhythmus und Bass fielen über ihn her und Max tanzte und tanzte und ahnte nichts vom steifen Nacken und den platten Füssen, die ihn am nächsten Morgen plagen würden. Und tanzte, bis er sich ausgetanzt hatte und bemerkte, dass er seinen Freund Pedro aus den Augen verloren hatte und sein Rachen «Durst» schrie.
 
Max holte sich ein Bier, der Barmann hatte sich dem Kellergemenge angeschlossen, der Kühlschrank stand offen. 
 
An der Wand neben der Treppe, die nach oben in die Wohnung führte, lehnte ein junger Mann mit dunklen Locken, mit greller, leuchtender Farbe im Gesicht; ein Streifen über Augen und Nase, der sich in den Schläfen verlief. Weiss oder neonblau, «für den Rave», dachte sich Max. Zwischen den Fingern balancierte der junge Mann eine selbstgedrehte Zigarette, er warf ihm einen Blick zu, ein Grinsen im Gesicht. «Durst?», fragte der Fremde und Max nickte trinkend. Das Bier war lauwarm. «Bist du allein hier?» Max schüttelte den Kopf. Er begann, die Stufen hochzusteigen, bis er nur noch eine Stufe unter dem Fremden stand. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er geschwitzt hatte, wie nass seine Haare waren. Kühl klebte die Luft an seinen roten Wangen. «Nein, bin mit jemandem hier, einem Freund, er heisst Pedro», sagte er und trank hektisch einen Schluck Bier. «Und du?» «Ich warte auf jemanden», antwortete der Fremde. «Ich bin Dante.» «Max», sagte Max und hob sein Bier, um zu trinken, und sah, dass es leer war. «Du hast dich richtig gehen lassen», sagte Dante mit einem Lächeln im Gesicht, «so richtig in die Musik gehen lassen.» Und Max lächelte, weil er nicht wusste, wie er darauf antworten sollte und weil es sich wie ein Kompliment angefühlt hatte. «Ja», sagte er dann, «mir ist wohl gar nicht aufgefallen, wie sehr ich getanzt habe, mich habe gehen lassen, gehen lassen in der Musik, dass ich meinen Freund, Pedro, aus den Augen verloren habe.»
 
Dantes Blick liess nicht von ihm ab, selbst, als er sich seine Kippe anzündete. Und Max blickte selbstvergessen zurück. «Du tanzt nicht?», unterbrach Max die Stille, die er nur schwer aushalten konnte. «Nicht so wie du», antwortete Dante, «Ich komme nicht zur Ruhe.» «Und wenn man tanzt, kommt man zur Ruhe?» «Du nicht?» Max dachte nach. «Ja», sagte er, «vielleicht komme ich zur Ruhe, wenn ich tanze, aber nur, wenn ich mich darin vergesse, in der Bewegung. Und ich nicht mehr im Raum bin und nicht mehr im Körper oder eben total im Körper und überhaupt nicht mehr im Kopf. Also vielleicht findet man die Ruhe in der Kopflosigkeit, im Selbstvergessen.»
 
Dantes Blick, noch immer ganz auf Max gerichtet, weichte auf, als Max sprach, und um seine Augen machten sich feine Lachfalten bemerkbar. Er zog an seiner Zigarette und liess den Rauch zu seiner Linken aus dem Mund hervorqualmen. «Kopflosigkeit braucht Zeit», sagte Dante. «Und ich bin nie lange genug am selben Ort.» «Also reist du viel?», fragte Max, der nun selbst auch ruhiger geworden war. Dante antwortete nicht, Dante rauchte und liess nun zum ersten Mal seinen Blick zum Kellereingang schweifen, aus dem einer hervortaumelte, um sich noch ein Bier zu holen. Er liess die Kühlschranktür offen, die Max soeben geschlossen hatte, und begann, die Treppen hochzusteigen. Auf halbem Weg hielt er sich an Max fest. «Klo?», fragte er ihn und Max zeigte unsicher Richtung Wohnung. Der Betrunkene nickte und liess sie allein. Dante blickte ihm nach, sein Blick verändert, als hätte eine Art Müdigkeit eingesetzt. «Bald muss ich gehen», sagte er und reichte Max die Zigarette. «Du rauchst doch, oder?» Und Max nickte, obwohl er eigentlich versuchte, aufzuhören. Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in Richtung Boden aus. «Wie lange bist du noch in der Stadt?», fragte er Dante, dessen Aufmerksamkeit bereits woanders lag. «Nicht mehr lang», sagte er. «Es war schön, mit dir zu sprechen.» Und Max spürte, dass er lächelte, und sagte so kopflos, wie er auf Dante zugegangen war: «Vielleicht bist du ja irgendwann länger da und wir können tanzen.»
 
Seit diesem Abend hatte er Dante nicht wieder zu Gesicht bekommen. Max’ zweite Begegnung mit dem Tod erfolgte wenige Stunden später. Er hatte den Toten nicht gekannt, er hatte ihn auch nicht entdeckt. Pedro war auf ihn zugelaufen gekommen, irgendwann in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, durchgeschwitzt und angetrunken, schwafelnd, man habe einen im Gras vor dem Haus gefunden. Er war gefallen, man wisse nicht, wie oder wann. Man hatte die Ambulanz gerufen, doch sie konnten nichts mehr tun. Max hatte sich die Arbeit als Totengräber nicht ausgesucht, ihn verfolgte weder eine Faszination vom Tod noch eine Furcht davor. Er hatte sein Studium beendet und eine Arbeit gebraucht. Er hatte sein Studium beendet und nicht recht gewusst, ob ihm sein Studium gefallen hatte. Mittlerweile hatte sich Max an seine Arbeit gewöhnt. Er hatte abgenommen, seine Arme und Beine beschwerten sich nach Ende der Schicht immer weniger. Die Arbeit war ein stetiges Graben, zügig, ruhig, die Beine breit fürs Gleichgewicht. Ein Hineingraben, ein Ausheben, ein Hineingraben, ein Ausheben. Und manchmal wurde nicht nur Erde ausgehoben. Hier der Sarg, oft nicht mehr stabil genug, um als Ganzes ausgehoben zu werden und die Leiche, manchmal mehr, manchmal weniger zersetzt, musste exhumiert werden. Die Totenruhe stört man eben doch. Den Geruch menschlicher Leichen würde er nie vergessen, der sich süsslich in die Nase setzte. Er konnte ihn nur so beschreiben, wenn man ihn danach fragte. Süsslich, penetrant und etwas, auf das man ihn nicht vorbereitet hatte. 
 
Gewöhnlich vollzog Max seine Arbeit amTag. Fanden die Beerdigungen morgens statt, hob er die Gräber am Tag davor aus. Nachmittägliche Beisetzungen bereitete er am selben Morgen vor. An den Beisetzungen selbst stand er still zum Rücken der Trauergemeinschaft, bis es Zeit war, den Sarg zuzuschütten. Das Graben übernahmen sie immer zu zweit. Meist begleitete ihn Sibylle, kurz Bille, die ihm von Anfang an alles gezeigt hatte. Jemand schaufelte die Erde aus der Erde, die zweite Person schaufelte sie weiter in eine Kiste, um den Dreck aufzubewahren. Ebenso war die zweite Person notwendig im Falle eines Unfalls, eines Erdrutsches, eines Abrutschens bei Regen. Nur wenige Wochen nach Arbeitsbeginn hatte sich der Boden unter Bille gelöst und versucht, sie zu verschütten. Fast hätte Max nicht schnell genug reagiert, fast hätte er ihre Arme nicht ergriffen, um sie herauszuziehen.
 
Gewöhnlich also vollzog Max seine Arbeit am Tag. Doch hatte es in letzter Zeit ungewöhnlich viele Bestattungen gegeben und ungewöhnlich viele waren noch vorgesehen. Das bedeutete, dass die gewöhnlichen Arbeitszeiten nicht ausreichten, um alles rechtzeitig zu erledigen. Max dachte nicht darüber nach, wieso sie mehr graben mussten als gewöhnlich. Er hatte Bille beim Friedhofseingang getroffen. Sie hatte schon alles vorbereitet. Sie hatte Thermoskannenkaffee gekocht. Max hatte mehrere Flaschen Mate eingepackt. Sie hatten nur wenig Licht. Mondlicht. Friedhofslaternenlicht. Vorsichtig hatten sie sich zwischen den Ruhestätten Richtung Arbeitsort bewegt. Max hatte die Erde aus der Erde geschaufelt und Bille die Erde in die Kiste, während die Sonne hinter ihnen Richtung Horizont gekrochen war.
 
Max schaufelte die Erde aus der Erde. Max schaufelte die Erde aus der Erde. Er schaufelte die Erde aus der Erde. Erde aus der Erde. Erde aus Erde. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Seine Uhr liess er Zuhause, wenn er Gräber aushob. Meist wies ihn Bille darauf hin, dass das Grab tief genug war und nun Zeit war, aufzuräumen. «Gleich ist genug.» Das war das Zeichen, einen Abschluss zu finden. Schneller zu schaufeln, aufzuräumen, so, dass die Trauergemeinschaft ein sauberes Grab vorfinden konnte. «Keine halben Sachen», sagte Bille immer, aber eigentlich brauchte Bille das gar nicht mehr zu sagen. Max hatte sich an seine Arbeit gewöhnt. Er kannte den Anspruch an seine Arbeit. Anstand, Respekt, eben, keine halben Sachen. Und darum hob Max Gräber aus mit einer Beständigkeit, wie man sie von ihm vorher nicht gekannt hatte. Max wusste es nicht, aber er war seit Stellenantritt ein überaus ruhiger Mensch geworden. Vielleicht lag es am Ort selbst, diesem Ruheort, dieser Ruhestätte, vielleicht aber lag es nur daran, dass er endlich etwas für seine Hände gefunden hatte. Graben, schaufeln, umgraben, ausheben, zuschütten, bis Bille sagte, «gleich ist genug.»
 
Doch diesmal war es nicht Bille, die ihn aus seinem Rhythmus riss. Diesmal blickte er selbst auf aus seiner Selbstvergessenheit und sah niemanden und hörte niemanden. Die Kiste war seit einer Weile nicht mehr gefüllt worden, die frische Erde lag gehäuft neben dem Grab. «Bille?», rief Max ins Morgengrauen hinein und erhielt keine Antwort. Hatte er aus Instinkt aufgeblickt oder aus Angst oder Anstrengung? Er hörte niemanden und sah niemanden, bis in der Ferne etwas klingelte. Es klang wie ein langsames, metallenes Ausschlagen. Es kam aus der umnebelten Ferne, am hinteren Ende des Friedhofs. Kopflos zog es ihn in die Richtung des Glockenklangs und das Klingeln schallte Schritt für Schritt lauter und lauter und vielleicht kam es von aussen und vielleicht war es Einbildung, er lief und lief, bis er ein Grab erreichte, das erst vor Kurzem zugedeckt worden war. Obwohl er sich umsah, sah er nichts, was das Geräusch hätte verursachen können. Trotzdem spürte er den Schall hier am stärksten. «Bille?», rief Max erneut und erhielt keine Antwort. Also stand er im Schall und in einer kleinen Wildwiese. Das hohe Gras reichte bis zum Knie, er roch den Tau auf den Blüten und starrte Richtung Grab. Er kniete nieder und das Klingeln wurde lauter. Er sah keine Glocke, keine Klangquelle, und vielleicht war es Einbildung, aber was, wenn nicht? Unruhig richtete er sich auf und sah sich ein weiteres Mal um. Er war allein, er wusste nicht mehr, wo er mit Bille das Grab ausgehoben hatte oder ob Bille sich irgendwann entschuldigt hatte. Vielleicht. Vielleicht hatte sich Bille entschuldigt oder Bille hatte gesagt, «gleich ist genug» und Max, selbstvergessen, hatte sie nicht gehört. Das Klingeln schallte weiter. Schallte jetzt wie Blech in den Ohren. Und Max, dessen Kopf sich im Schall aufzulösen drohte, fing an zu graben. Mit jedem Spatenstich wurde das Dröhnen stärker und er schaufelte und schaufelte und wartete auf ein dumpfes Geräusch, auf den Sarg, doch der Sarg kam nicht. Und Max schaufelte und schaufelte und merkte nicht, dass der Klang vom eigenen Atem und Herzen und dem Einstechen der Schaufel, dem Ausheben, er merkte nicht, wie das alles sich über das Dröhnen der Klingel gelegt und es ausgelöscht hatte. Und Max, selbstvergessen, schaufelte und schaufelte, bis die Erde sich unter seinen Füssen zu lösen begann. Und als ihn der Boden verschlang, wurde Max haltlos und sank in und unter die Erde und prallte dumpf mit dem Rücken voran in harter Dunkelheit auf.
 
In der Stille richtete sich Max auf. Er atmete sanft. Wie viel Luft blieb ihm noch? Wo war der rollende Boden, der ihn erdrücken sollte? Vorsichtig tastete er sich voran. Der Grund fühlte sich an wie Beton, ebenso die Decke, die er nach dem Aufstehen ertastete, als er seine Arme über den Kopf hob. Er sah niemanden, er hörte niemanden, kein Klingeln, aber irgendwoher lockte ein Bass, tief und gleichmässig. Er folgte dem Klang, rauen Wänden entlang, und je weiter er voranschritt, desto lauter schallte der Bass. Er musste tief unter der Erde sein, denn er spürte den Druck in den Ohren. Und vielleicht war es Einbildung, vielleicht hatte ihn die Erde verschluckt und jetzt feuerten in seinem Hirn Synapsen um sich und der Bass war nichts als ein Nachbeben vor dem Tod. Vielleicht war auch das Aufleuchten in der Ferne eine Einbildung. Es war klein, rund, feuerfarben und verschwand nach wenigen Sekunden.
 
Max zählte acht Bassschläge, bevor das Licht wieder aufflammte. Und als er nähertrat, erkannte er das Licht als Kippe und hinter der Kippe eine Gestalt, lang und an die Wand gelehnt mit dunklen Locken im Gesicht. Er betrachtete Max mit müdem Blick, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und liess sie zu Boden fallen. «Deine Augen werden sich an die Dunkelheit gewöhnen», sagte er, als der letzte Funken vom Stummel erlosch. Max schwieg und wartete und dachte über die Gestalt nach, die er soeben vor sich gesehen hatte, über ihre Stimme. «Du bist Dante», sagte er, fast flüsternd. «Wir haben uns in einer Wohnung mit Betonboden kennengelernt. Du hast nicht mit mir tanzen wollen.» «Ich hatte zu tun», antwortete Dante aus der Dunkelheit. Max spürte, wie der Bass seinen Herzschlag überfiel und wie der Raum mit jedem Schallschlag ein bisschen mehr Form annahm. «Ja», sagte Max, «und weil du nicht zur Ruhe kommst». Unsicher suchte er das Dunkle mit trockenen Augen ab. «Und Kopflosigkeit braucht Zeit.»
 
Der Raum gewann an Deutlichkeit und als er die schattige Gestalt wieder vor Augen hatte, erkannte er Dante, wie er drei Jahre zuvor auf der Treppe gestanden hatte, Farbe und Grinsen im Gesicht. «Dante», dachte sich Max, «Was macht Dante unter der Erde? Und ich, wir beide, wie können wir atmen, woher kommt die Musik?». Als habe die Musik zugehört, entsprangen dem Bass mehrere Spuren, die sich über ihn legten, elektronisch-synthetisch eingehüllt. Als Max’ Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahmen nun auch seine Ohren die Fülle der Musik auf, die sich im Raum auszubreiten schien. Und die Musik zog an seinen Schultern und warf ihn vor und zurück, bis ihm zum Tanzen zumute war. Dantes Blick verharrte auf Max, der im Takt hin und her schwang. «Wir haben jetzt Zeit», sagte Max kopflos. «Wir können jetzt tanzen.»
 
Und Dante lächelte und Dante nickte und liess sich von Max in die Mitte des Raumes führen. Er hatte die Angst vor der Erde vergessen. Und sie tanzten, Beine aneinander streifend, Hände an Armen und Nacken und Stirn an Stirn. Sie tanzten und zogen einander im Takt hin und her und Dantes Blick verharrte stets auf Max, bis dieser ihn mit einem Ruck an sich zog, was Dante überrascht ins Stolpern brachte. «Hast du dich schon gehen lassen?», flüsterte Max in sein Ohr. «So wie du?», fragte Dante zurück. «Du, der beim Tanzen wie beim Graben den Kopf vergisst, dich in jeden Rhythmus flüchtest, der dir begegnet». Und Max grinste und machte einen Schritt zurück, nur um Dante einmal um sich selbst zu drehen. «Ich habe mir eingebildet, du hättest die Stelle als Totengräber meinetwegen angenommen», fuhr Dante nach seiner Drehung fort. «Und ich hatte gehofft, du könntest mir zeigen, wie man sich gehen lässt.» Max dachte nach. «Ist es dir denn wichtig, dich gehen zu lassen?» «Einmal», sagte Dante. «Einmal soll es mir gelingen.» «Weil du sonst nicht zur Ruhe kommst?»
 
Dante dachte nach. «Ich habe keinen Körper, in dem ein Herz schlägt und keinen Kopf, aus dem ich flüchten kann», sagte er dann und sie beide tanzten Stirn an Stirn. Max spürte Dantes heissen Atem auf seinem Gesicht. Er roch süsslich. «So wie du zurzeit fürs Graben stark gefragt bist, bin auch ich gefragt. Und immer zerrt mich die Welt auseinander und in jede Richtung. Ich komme nicht zur Ruhe.» Max nickte, obwohl er nicht verstand, was Dante meinte. Er wollte den Moment festhalten, wie er Dante festhielt. Er wollte sich in ihm gehen lassen. «Also gehen wir in die Musik», flüsterte Max und ergriff Dante an den Schultern, um ihn hin und her zu wippen, um ihn mitzuziehen in seine Kopflosigkeit.
 
Und sie tanzten, bis Dante die Augen schloss und tanzten, bis sie das Gefühl für den Raum verloren, bis sie am Rave waren unter Leuten und wieder zu zweit im Dunkeln und sie tanzten, bis sie weder Durst noch Schweiss bemerkten und tanzten, bis Dante aufblickte und um sich sah und seufzte. «Ich muss», sagte er und die Dunkelheit kehrte zurück. Noch hielt Dante an Max fest, mit den Händen an den Händen, er spielte mit seinen Fingern, er atmete tief. Irgendwoher schlug ein Herz. «Ich muss», wiederholte er. «Die Pflicht ruft, ich bin schon im Verzug.» Trotzdem verblieben sie so, in der Musik und im Dunkeln. Max spürte die Umrisse von Dantes Oberarm, die Knochen, die sich mit den Fingern mitbewegten. Er hörte seine tiefen Atemzüge und spürte sein Zögern. Er dachte darüber nach, wie nah sie sich waren, wie einfach es wäre, die Lücke zu schliessen. «Ich werde dich nicht aufhalten», sagte Max so leise, dass er hoffte, Dante habe ihn nicht gehört.
 
«Du solltest bleiben», sagte Dante. «Dich gehen lassen, solange es geht.» «Ich wusste nicht, dass ich gehen kann», antwortete Max, als sich ihre Hände voneinander lösten. Viel zu schnell verschwand Dante in der Dunkelheit und gab keine Antwort mehr. Max verstummte und stand starr im leeren Raum, spürbare Einzelhaftigkeit. Die Musik um ihn verstummte. An ihre Stelle trat eine Stimme, traten Worte: «Gleich ist genug. Jetzt ist genug.» Der Tau tropfte von den Bäumen, die Sonne hatte sich in den Himmel gehängt. Bille hatte ihre Hand auf seine Schulter gelegt. «Manchmal gräbst du wie ein Wahnsinniger», lachte sie kopfschüttelnd, «und du hörst nichts und niemanden mehr.» Max betrachtete das Grab, über dem er stand. Beinahe zu tief gegraben. Er richtete sich auf, liess den Blick übers Gelände schweifen. Er hatte den Sonnenaufgang verpasst. Nachdem er sich orientiert hatte, blickte er Bille an. «Entschuldige, ich war kurz weg.» Bille seufzte und klopfte ihm auf die Schulter. «Lass uns aufräumen, ich will schlafen gehen.» Max nickte und sie erledigten zügig den Rest ihrer Arbeit. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, fuhr Max an den See. Er spürte den Bass im Nacken, im Blut, er gab sich dem Wasser hin, haltlos, bis ihn der Takt nicht mehr durchzuckte, bis die Frühjahrskälte ihn ins Leben zurückgeholt hatte.
 
Die Schicht, die Nacht, war nur schwer abzuwaschen und in seiner Nase sass ein süsslicher Geruch. Zitternd ging er an der Bushaltestelle auf und ab und wartete auf seinen Weg nach Hause. Im Bus sass niemand. Rhythmisch klopfte er mit den Fingern auf der Haltestange. Selbstvergessen blickte er in die Welt.
 
Info: Laura Higson, 26, englisch-schweizerische Doppelbürgerin, studierte Linguistik und Theaterwissenschaften in Bern, wo sie wohnt.
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