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Filmkritik

"Boîte noire": Leise Töne

Ein Flugzeug stürzt ab – und rasch ist klar: Es war ein terroristischer Anschlag. Doch könnte nicht alles auch ganz anders gewesen sein?

Da war doch was: Matthieu (Pierre Niney) bei der Arbeit.

von Raphael Amstutz

Hollywood mag Flugzeugabstürze. Das raucht und knallt, es gibt Blut, Schweiss undTränen, da sind Emotionen, Raum für heroische Taten und wundersame Rettungen. Das pralle Leben, das sich in einem Punkt kristallisiert. Die Traumfabrik taucht den Löffel bei solchen Werken jeweils gerne tief in die Pathos-Schüssel.

Wie anders ist da «Boîte noire» aus Frankreich. Auch hier stürzt ein Flugzeug ab, zerschellt in den Bergen. Über 300 Personen sterben, es gibt keine Überlebenden. Doch hier gibt es keine offensichtlichen Helden zu sehen, sondern in erster Linie dies: karge Büros und Nahaufnahmen von technischen Geräten. In langen Einstellungen wird die akribische Arbeit der Analysten gezeigt, die herausfinden wollen, wie es zum Unfall gekommen ist, wie es möglich war, dass ein brandneues Flugzeug einfach so abstürzen konnte und die dabei zerrieben werden zwischen dem enormen Zeitdruck und den mitunter divergierenden Ansprüchen aus der Politik, der Wirtschaft und den Medien. Und dann sind ja da noch die Freunde und Verwandten der toten Passagiere.

Matthieu (Pierre Niney, «Yves Saint Laurent») ist ein solcher Analyst. Er wertet jene Flugschreiber (Boîte noire, Blackbox) aus, die vom Himmel gefallen sind. Er ist der unangefochtene Experte für Geräusche, findet auf jeder noch so verrauschten Aufnahme die kleinste Anomalie und kann jeden abweichenden Ton zuordnen, egal wie leise er ist.

Eigentlich wäre er also der Starermittler, der Mann im Rampenlicht. Doch Matthieu hat autistische Züge und einen Hang zu leicht zwanghaftem Verhalten. Sein Wesen verunmöglicht es ihm, locker-flockig Kontakt mit seinen Kolleginnen und Kollegen aufzunehmen und Smalltalk zu machen; so, wie es auch seine Freundin von ihm wünschen würde. Sein Gehör ist so empfindlich, dass er es ab und an kaum aushält in dieser lauten Welt.

Beim Flug Dubai-Paris, der die französische Hauptstadt nie erreicht, tendiert auch er im ersten Moment auf einen Terroranschlag. Die Fakten scheinen klar – doch Matthieu gräbt tiefer. Denn irgendetwas kann nicht stimmen, davon ist er überzeugt.

Was folgt – der «Verrückte» gegen die Mächtigen, der Nerd, der eine Verschwörung wittert und deshalb lächerlich gemacht wird, – ist definitiv nicht die Neuerfindung des Wer-ist-es-gewesen-Genres.

«Boîte noire», der im September anlässlich des Festivals du Film Français d’Helvétie in Biel erstmals in der Schweiz zu sehen war, punktet aber trotzdem kräftig: mit sorgfältigen und erfreulich ambivalenten Charakterzeichnungen, mit einer packenden Montage, einem wendungsreichen Drehbuch und mit dem Mut zu einem konsequenten Schluss fernab vom Hollywood-Heroismus. Der grösste Trumpf des französischen Thrillers ist dabei seine Unaufgeregtheit und Nüchternheit.

Info: Im Kino Rex 2, Biel.

Die Bewertungen der BT-Filmkritikerinnen und BT-Filmkritiker:
Raphael Amstutz **** (von 5 Sternen)

Stichwörter: Filmkritik

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